Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausübung pflichtgemäßen Ermessens beim Zusammentreffen einer Arbeitgeberhaftung und der Haftung eines Dritten
Leitsatz (amtlich)
Nimmt das FA sowohl den Arbeitgeber nach § 42d EStG als auch den früheren Gesellschafter-Geschäftsführer u.a. wegen Lohnsteuer-Hinterziehung nach § 71 AO 1977 in Haftung, so hat es insoweit eine Ermessensentscheidung nach § 191 Abs. 1 i.V.m. § 5 AO 1977 zu treffen und die Ausübung dieses Ermessens regelmäßig zu begründen.
Normenkette
EStG § 42d; AO 1977 § 191 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Am Stammkapital der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), einer GmbH, waren ehemals P.B. und R.B. sowie A.L., der zugleich Geschäftsführer war, mit je 1/3 beteiligt. Im Mai 1988 veräußerten sämtliche Gesellschafter ihre Anteile an E.M., der auch die Geschäftsführung übernahm.
Anlässlich einer Steuerfahndungsprüfung Anfang der 90er Jahre wurde festgestellt, dass in den Jahren 1984 bis 1987 Arbeitslöhne nicht angemeldet und abgeführt sowie Steuern in erheblichem Umfang hinterzogen worden waren. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) erließ deshalb am 19. Oktober 1992 gegenüber der Klägerin als Arbeitgeberin einen auf § 42d des Einkommensteuergesetzes (EStG) gestützten Lohnsteuer-Haftungsbescheid über einen Betrag von 577 536 DM.
Mit dem Einspruch brachte die Klägerin u.a. vor, das FA habe sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt; es hätte ermittelt werden müssen, ob als Haftungsschuldner nicht in erster Linie der ehemalige Gesellschafter-Geschäftsführer und Steuerhinterzieher A.L. in Anspruch zu nehmen sei. Der jetzige Alleingesellschafter sei materiell von den Steuernachzahlungen betroffen, obwohl der Vermögenszuwachs aus den hinterzogenen Steuern nicht ihm zugeflossen sei.
Das FA wies den Einspruch als unbegründet zurück. Es war u.a. der Auffassung, der Haftungstatbestand sei in der Person der Klägerin erfüllt. Hieran habe die Anteilsveräußerung nichts geändert; die Klägerin habe ihre Identität nicht verloren. Die Möglichkeit, den früheren Geschäftsführer gemäß §§ 34, 69 der Abgabenordnung (AO 1977) bzw. § 71 AO 1977 in Anspruch zu nehmen, lasse die Inanspruchnahme der Klägerin als Arbeitgeberin aufgrund § 42d EStG unberührt.
Während des Klageverfahrens, in dem das FA den Haftungsbetrag auf 450 560 DM herabsetzte, äußerte das Finanzgericht (FG) Zweifel an der ordnungsgemäßen Ausübung und Darstellung des Auswahlermessens. Es sei insbesondere nicht ersichtlich, ob der frühere Gesellschafter-Geschäftsführer A.L. ebenfalls in Haftung genommen worden sei. Unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 6. Mai 1994 VI R 47/93 (BFHE 174, 363, BStBl II 1994, 715) regte das FG an, den Haftungsbescheid aus formellen Gründen aufzuheben. Daraufhin teilte das FA mit, es habe nicht nur die Klägerin in Haftung genommen; zeitgleich sei auch gegen den ehemaligen Gesellschafter-Geschäftsführer A.L. ein persönlicher Lohnsteuer-Haftungsbescheid gemäß §§ 34, 69, 71 AO 1977 erlassen worden. Der gegen die Klägerin ergangene Haftungsbescheid sei rechtmäßig. Eine Ermessensausübung nach § 42d EStG sei lediglich im Verhältnis des Arbeitgebers zum Arbeitnehmer vorzunehmen; weitere mögliche Haftungsschuldner gemäß §§ 69, 71 AO 1977 seien in eine Ermessensausübung im Rahmen des § 42d EStG nicht einzubeziehen.
Das FG gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1996, 574 veröffentlichten Gründen statt. Es hob den Lohnsteuer-Haftungsbescheid im Wesentlichen mit der Begründung auf, das FA habe in Bezug auf die gesamtschuldnerische Haftung der Klägerin und des ehemaligen Gesellschafter-Geschäftsführers A.L. kein (Auswahl-)Ermessen ausgeübt; zumindest fehle es insoweit an einer entsprechenden Darstellung.
Mit der Revision begehrt das FA, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das FG habe die besondere Stellung, die § 42d EStG im Lohnsteuerabzugs- und Erhebungsverfahren einnehme, verkannt. Es habe die Darlegungslast des FA bezüglich der Ermessensausübung für die vorrangige Inanspruchnahme des Arbeitgebers unzulässigerweise auf einen Personenkreis erweitert, der von § 42d EStG nicht erfasst werde. § 42d EStG sei eine von den sonstigen Haftungsvorschriften der AO 1977 abweichende Spezialnorm. Nur soweit die Arbeitgeberhaftung in § 42d EStG verfahrens- und materiellrechtlich unvollständig geregelt sei, seien die Vorschriften der AO 1977 (z.B. §§ 44, 191 AO 1977) ergänzend heranzuziehen. Ansonsten gehe § 42d EStG den allgemeinen Regelungen vor. Dies werde durch die systematische Stellung des § 42d EStG als Vorschrift im Rahmen der Normen des Lohnsteuer-Erhebungsverfahrens dokumentiert. Bereits nach dem Wortlaut dieser Regelung sei das Ermessen zunächst auf den Arbeitgeber als einzig möglichen Haftungsschuldner beschränkt. § 42d Abs. 3 EStG stelle ihm ausschließlich den Arbeitnehmer als Gesamtschuldner zur Seite. Von weiteren Gesamtschuldnern sei keine Rede. Erst wenn die Inanspruchnahme des Arbeitgebers oder -nehmers nicht zum Erfolg führe, stelle sich die Frage einer nachrangigen Inanspruchnahme weiterer Personen.
Die vorrangige Haftung des Arbeitgebers nach § 42d EStG folge auch daraus, dass diese Haftung verschuldensunabhängig sei, während eine Haftung nach §§ 69, 71 AO 1977 ein Verschulden voraussetze. Eine Abwägung, wer von möglichen Gesamtschuldnern heranzuziehen sei, könne somit lediglich innerhalb der jeweiligen Haftungsnorm ausgeübt werden, also bei § 42d EStG nur zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, bei § 69 AO 1977 nur zwischen mehreren Geschäftsführern. Es widerspreche dem Zweck des § 42d EStG, eine einfache und schnelle Sicherstellung des Lohnsteueranspruchs durch Inanspruchnahme des Entrichtungsschuldners zu erreichen, wenn bereits bei Erlass des entsprechenden Haftungsbescheides nach § 42d EStG die Inanspruchnahme weiterer möglicher Gesamtschuldner zu prüfen sei. Angesichts der systematisch vorrangigen Inanspruchnahme des Arbeitgebers sei auch ein Hinweis auf einen weiteren Haftungsschuldner nach § 42d EStG im Bescheid nicht erforderlich.
Die Klägerin tritt der Revision entgegen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet; sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
Der streitbefangene Haftungsbescheid in der Form des Teilrücknahmebescheids vom 27. Oktober 1994 ist rechtswidrig. Die Vorinstanz hat zu Recht erkannt, dass das FA sein Ermessen (§ 191 Abs. 1 i.V.m. § 5 AO 1977) nicht ordnungsgemäß ausgeübt hat.
1. Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 "kann" derjenige durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, der kraft Gesetzes für eine fremde Steuer haftet. Die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners steht im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde. Diese hat darüber zu entscheiden, ob sie den in Frage kommenden Haftungsschuldner überhaupt in Anspruch nehmen und ggf. welchen bzw. welche von mehreren Verantwortlichen sie zur Haftung heranziehen will (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom 13. Juni 1997 VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4; vom 30. Juni 1995 VII R 87/94, BFH/NV 1996, 3; vom 29. September 1987 VII R 54/84, BFHE 151, 111, BStBl II 1988, 176; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 191 AO 1977 Rz. 43; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 191 Rz. 30 f.). Mehrere Haftungsschuldner haften der Finanzbehörde gegenüber gemäß § 44 Abs. 1 AO 1977 als Gesamtschuldner.
Die Entscheidung des FA ist nach § 102 FGO gerichtlich darauf zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. § 5 AO 1977). Aus dem Begründungsgebot des § 121 AO 1977 ergibt sich, dass das FA spätestens in der Einspruchsentscheidung (vgl. aber ab 2001 § 102 Satz 2 FGO in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2001) die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe darstellen muss (z.B. BFH-Urteil vom 29. Mai 1990 VII R 85/89, BFHE 161, 486, BStBl II 1990, 1008). Hierbei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen ―die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners― aus der Entscheidung selbst erkennbar sein.
2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erweist sich die Entscheidung des FA als ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig.
Der Senat tritt der Auffassung des FA nicht bei, es habe im Streitfall lediglich Ermessenserwägungen im Rahmen der Arbeitgeberhaftung nach § 42d EStG anstellen müssen; Ermessenserwägungen im Hinblick auf die (zeitgleiche) persönliche Inanspruchnahme des ehemaligen Gesellschafter-Geschäftsführers seien im Haftungsbescheid gegen die Klägerin nicht erforderlich gewesen. Mit dieser Meinung weicht das FA von der Auffassung der Verwaltung ab. Denn diese vertritt im Einklang mit der Rechtsprechung die zutreffende Ansicht, das FA habe bei der Wahl, an welchen Gesamtschuldner es sich halten will, eine Ermessensentscheidung auch dann zu treffen, wenn es nicht nur den Arbeitgeber nach § 42d EStG, sondern zusätzlich andere Personen (z.B. nach §§ 69 bis 77 AO 1977) für Lohnsteuer in Haftung nimmt (vgl. Abschn. 145 Abs. 5 und 6 der Lohnsteuer-Richtlinien ―LStR― 1990 zu § 42d EStG; jetzt R 145 Abs. 2 LStR 2002 und H 145 "Haftung anderer Personen", Lohnsteuer-Handbuch ―LStH― 2002; vgl. auch Küttner/Huber, Personalbuch 2002, Stichwort Lohnsteuerhaftung Rz. 29; Gersch in Herrmann/ Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, 21. Aufl., § 42d EStG Anm. 131; Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 21. Aufl. 2002, § 42d Rz. 35 f., jeweils mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
Nach den Feststellungen des FG hat das FA zeitgleich mit dem auf § 42d EStG gestützten Haftungsbescheid gegen die Klägerin einen weiteren Haftungsbescheid nach §§ 34, 69 und § 71 AO 1977 gegen den früheren Gesellschafter-Geschäftsführer erlassen. Demnach hatte das FA ―wie von ihm richtig erkannt― nicht nur das in spezialgesetzlicher Weise in § 42d EStG geregelte (Auswahl-)Ermessen hinsichtlich der Inanspruchnahme der Klägerin als Arbeitgeber auszuüben. Zusätzlich bedurfte es aber auch einer Ausübung des Auswahlermessens bezüglich der gesamtschuldnerischen Haftung der Klägerin und des ehemaligen Gesellschafter-Geschäftsführers. Das Erfordernis dieser Ermessensausübung ergibt sich aus der allgemeinen Haftungsnorm des § 191 Abs. 1 i.V.m. § 5 AO 1977. Der erkennende Senat pflichtet der Vorinstanz darin bei, dass die Ausübung (einschließlich der entsprechenden Darstellung) des Auswahlermessens sich nicht nur auf den Personenkreis beschränkt, der denselben Haftungstatbestand verwirklicht; vielmehr sind in die Ermessenserwägungen auch diejenigen Personen einzubeziehen, die nach anderen Haftungsvorschriften für dieselben Steuern haften. § 191 Abs. 1 AO 1977 als eine allgemein den Erlass von Haftungsbescheiden regelnde Verfahrensvorschrift betrifft nämlich alle Haftungsvorschriften, wobei unter den einzelnen Haftungstatbeständen grundsätzlich keine Rangordnung besteht (vgl. auch BFH-Urteil vom 22. September 1992 VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215, m.w.N.; Ehlers in Beermann, Abgabenordnung, § 191 Rz. 17, m.w.N.).
3. Im Streitfall hat das FA erstmals im Klageverfahren offenbart, dass es zur gleichen Zeit sowohl die Klägerin als auch den früheren Gesellschafter-Geschäftsführer als persönlich Haftenden in Anspruch genommen hat. Dieser Umstand war weder aus dem Haftungsbescheid noch aus der Einspruchsentscheidung ersichtlich. Hierin hat das FA lediglich angeführt, die Möglichkeit, den früheren Geschäftsführer … in Anspruch zu nehmen, lasse die Inanspruchnahme der Klägerin gemäß § 42d EStG unberührt. Die Wertung der Vorinstanz dahin gehend, es fehle zumindest an der erforderlichen Darstellung des Auswahlermessens, weil aus den Ausführungen des FA nicht hervorgehe, ob der frühere Geschäftsführer ebenfalls in Anspruch genommen wurde und ggf. warum nicht, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die bezeichneten Ausführungen des FA als ordnungsgemäße Ermessensausübung anzusehen, ist im Übrigen auch deshalb nicht möglich, weil das FA stets hervorgehoben hat, im Streitfall sei bei der Inanspruchnahme der beiden Haftungsschuldner (Arbeitgeber und Steuerhinterzieher) keinerlei Auswahlermessen auszuüben. In einem solchen Fall (sog. Ermessensunterschreitung) ist die Ermessensentscheidung des FA schon deswegen rechtswidrig (BFH-Urteil vom 26. Februar 1985 VII R 110/79, BFH/NV 1985, 20; vgl. auch BFH-Beschluss vom 23. Oktober 1990 VII S 22/90, BFH/NV 1991, 500).
4. Gegen die Entscheidung des Senats kann letztlich nicht eingewendet werden, Haftungsbescheide bedürften unter bestimmten Umständen keiner besonderen Begründung (vgl. Klein/Rüsken, a.a.O., § 191 Rz. 70). Für eine Einschränkung der Begründungspflicht, besonders die Annahme einer stillschweigend sachgerechten Ermessensausübung, besteht keine Rechtfertigung, wenn das FA ―wie hier― überhaupt keine Ermessensentscheidung treffen wollte (vgl. BFH-Urteil vom 29. Mai 1990 VII R 81/89, BFH/NV 1991, 283, m.w.N.; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 191 AO 1977 Rz. 66, m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 872560 |
BFH/NV 2003, 233 |
BStBl II 2003, 160 |
BFHE 2003, 200 |
BFHE 200, 200 |
BB 2003, 141 |
BB 2003, 940 |
DB 2003, 318 |
DStRE 2003, 214 |
HFR 2003, 260 |