Entscheidungsstichwort (Thema)
Angabe einer ladungsfähigen Anschrift; Prozessfähigkeit
Leitsatz (NV)
- Für die Zulässigkeit einer Klage bedarf es der Angabe einer ladungsfähigen Anschrift dann nicht, wenn sich der Kläger dadurch der konkreten Gefahr der Verhaftung aussetzen würde. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Identität des Klägers feststeht und die Möglichkeit der Zustellung durch einen Prozessbevollmächtigten sichergestellt ist.
- Der Beteiligte gilt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Frage seiner Prozessfähigkeit (Zulassungsstreit) als prozessfähig.
- Liegen konkrete Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit des Beteiligten vor, muss sich das Prozessgericht ‐ ggf. dadurch die Einholung eines Sachverständigengutachtens ‐ von der Prozessfähigkeit überzeugen.
Normenkette
FGO §§ 58, 65 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) beantragte am 17. April 1996 für das nach seiner Erklärung im Februar 1996 geborene Kind Kindergeld. Das Arbeitsamt -Familienkasse- (Beklagter und Revisionsbeklagter ―Familienkasse―) lehnte den Antrag unter dem Datum des 28. August 1996 mit der Begründung ab, es fehlten Nachweise zur Staatsangehörigkeit, zur Aufenthaltserlaubnis und zum Aufenthalt des Kindes. Den dagegen mit Schreiben vom 9. April 1997 eingelegten Einspruch verwarf die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 13. Mai 1997 wegen Versäumung der Einspruchsfrist. Die vom Kläger unter Hinweis auf seine schweren Erkrankungen begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lehnte die Familienkasse ab. Für die dagegen im September 1997 erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) dem Kläger Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwalt F bewilligt.
Das FG wies die Klage mit Urteil vom 16. Juni 2000 ab. Sie sei nicht ordnungsgemäß i.S. des § 65 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erhoben und daher unzulässig. Der Kläger, der im Klageverfahren seinen tatsächlichen Wohnort vor dem Gericht bewusst geheim gehalten habe und gegen den ein Haftbefehl bestehe, sei nicht hinreichend im Sinne dieser Vorschrift bestimmt. Auch im Falle einer Prozessvertretung sei an dem Erfordernis der Angabe der ladungsfähigen Anschrift zumindest in den Fällen festzuhalten, in denen das Gericht der Kenntnis des tatsächlichen Wohnorts eine für die weitere Prozessführung entscheidende Rolle beimesse und dieser Umstand dem Kläger bzw. seinem Prozessbevollmächtigten bekannt gegeben sei (Hinweis auf Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 28. Januar 1997 VII R 33/96, BFH/NV 1997, 585). Darüber hinaus wäre die Klage auch nicht begründet. Der Kläger habe die anspruchsbegründenden Voraussetzungen der §§ 62, 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht nachgewiesen. Das FG habe sich keine ausreichende Überzeugung davon bilden können, dass das Kind existiere und die Tochter des Klägers sei.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das FG habe ihn zu Unrecht als prozessfähig behandelt. Wegen fehlender Prozessfähigkeit sei er während des finanzgerichtlichen Verfahrens nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen. Es fehle bereits an einer ordnungsgemäßen Bekanntgabe des Ablehnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung. Ferner habe das FG zu Unrecht angenommen, der Kläger sei nicht hinreichend i.S. des § 65 Abs. 1 FGO bezeichnet.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des FG Köln vom 16. Juni 2000 3 K 7337/97 aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Unabhängig davon, ob der Kläger geschäfts- und prozessunfähig sei, bzw. seinen Aufenthalt verheimliche, sei die Revision unbegründet. Zur Festsetzung von Kindergeld benötige die Familienkasse zwingend die Geburtsurkunde des Kindes. Der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass das Kind, für das er Kindergeld fordere, überhaupt existiere. Zudem erscheine nicht glaubhaft, dass ein Kind bei dem (angeblich) geschäftsunfähigen Kläger lebe.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist zulässig und begründet. Das Urteil des FG war aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Der Zulässigkeit der Revision steht eine mögliche Prozessunfähigkeit des Klägers nicht entgegen. Für den Streit um seine Prozessfähigkeit (Zulassungsstreit) gilt der Beteiligte als prozessfähig, und zwar bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Frage der Prozessfähigkeit (vgl. BFH-Urteile vom 18. Oktober 1967 I R 144, 145/66, BFHE 90, 336, BStBl II 1968, 95; vom 10. August 1989 V R 36/84, BFH/NV 1990, 386; vgl. auch Urteil des Bundesgerichtshofs ―BGH― vom 13. Juli 1993 III ZB 17/93, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1993, 2944, m.w.N.; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 58 FGO Rz. 21). Er kann daher auch Rechtsmittel gegen eine Entscheidung einlegen, mit der er nach seiner Auffassung zu Unrecht als prozessfähig beurteilt worden ist (BGH vom 9. April 1986 IV b ZR 10/85, NJW 1986, 3211; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 21). Selbst wenn der Kläger im Streitfall prozessunfähig sein sollte, ist seine Revision deshalb zulässig.
2. Das FG hat zu Unrecht angenommen, der Kläger sei nicht hinreichend i.S. des § 65 Abs. 1 FGO bezeichnet, weil er seinen tatsächlichen Aufenthaltsort geheim gehalten hat.
a) Die ordnungsgemäße Klageerhebung erfordert zwar regelmäßig die Bezeichnung des Klägers unter Angabe seiner ladungsfähigen Anschrift (d.h. des tatsächlichen Wohnorts). Die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift ist jedoch dann nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Anfechtungsklage, wenn der Kläger sich bei Nennung der Anschrift der konkreten Gefahr einer Verhaftung aussetzen würde. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Identität des Klägers feststeht und die Möglichkeit der Zustellung durch einen Zustellungs- oder Prozessbevollmächtigten sichergestellt ist (BFH-Urteil vom 19. Oktober 2000 IV R 25/00, BFHE 193, 52, BStBl II 2001, 112; Abgrenzung zum BFH-Urteil in BFH/NV 1997, 585).
b) Danach ist der Kläger im Streitfall hinreichend i.S. des § 65 Abs. 1 FGO bezeichnet. Da nach den Feststellungen des FG gegen den Kläger ein Haftbefehl besteht, würde sich der Kläger durch die Nennung seines tatsächlichen Aufenthalts der Gefahr seiner Verhaftung aussetzen. Dagegen unterliegt die Identität des Klägers keinem Zweifel. Auch die Zustellung des Schriftverkehrs ist durch die Bestellung eines Prozessbevollmächtigten sichergestellt, dessen Kontakt mit dem Kläger offenbar funktioniert. Der Mitteilung des tatsächlichen Aufenthaltsorts des Klägers bedarf es schließlich auch nicht im Hinblick auf eine mögliche Kostentragungspflicht, da dem Kläger PKH ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt worden ist. Falls der Kläger beabsichtigen sollte, nicht selbst vor dem FG zu erscheinen, mag darin zwar eine Verletzung der Mitwirkungspflicht liegen, die die Erfolgschancen seiner Klage mindert. Damit verliert der Kläger jedoch nicht schlechthin sein Interesse an einer gerichtlichen Überprüfung der in Rede stehenden Entscheidungen der Familienkasse.
3. Die Sache ist nicht spruchreif. Es bestehen Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers.
a) Wegen ihrer Bedeutung als Prozessvoraussetzung (Sachentscheidungsvoraussetzung) und als Prozesshandlungsvoraussetzung ist die Prozessfähigkeit in allen finanzgerichtlichen Verfahren zu beachten; sie ist in jeder Verfahrenslage und in jedem Rechtszug von Amts wegen zu prüfen (vgl. Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 6 und 8). Bei fehlender Prozessfähigkeit des Klägers ist das Gericht gehindert, zur Sache zu verhandeln und zu entscheiden. Die von einem oder für einen Prozessunfähigen erhobene Klage ist durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen (vgl. BGH-Urteil vom 23. Februar 1990 V ZR 188/88, BGHZ 110, 296; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 Rz. 13). Wird die Prozessunfähigkeit eines Beteiligten, die bereits im finanzgerichtlichen Verfahren vorlag, erst im Revisionsverfahren festgestellt, darf die Revision nicht als unzulässig verworfen werden; die Sache ist vielmehr durch Prozessurteil zur erneuten Verhandlung an das FG zurückzuverweisen (BFH-Urteil vom 3. Dezember 1971 III R 44/68, BFHE 105, 230, BStBl II 1972, 541; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 35).
b) Insbesondere bei krankhafter Querulanz oder auch bei Wahnvorstellungen kann eine nach bürgerlichem Recht weder geschäftsunfähige noch beschränkt geschäftsfähige Person gleichwohl partiell geschäftsunfähig und somit partiell prozessunfähig sein. Die Grenze zwischen rechthaberischer Verbohrtheit und krankhafter Querulanz ist allerdings fließend (vgl. Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 41). Liegen entsprechende konkrete Anhaltspunkte vor, muss das Prozessgericht sich im Einzelfall von der Prozessfähigkeit des Beteiligten ―ggf. durch Einholung eines Sachverständigengutachtens― überzeugen (vgl. BGH-Urteil vom 22. Dezember 1982 V ZR 89/80, NJW 1983, 996; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 5. Juni 1998 V C 147/67, BVerwGE 30, 24; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 41).
c) Das Revisionsgericht unterliegt bei der Überprüfung der Frage, ob der Kläger prozessfähig ist, keinen Beschränkungen. Insoweit darf der BFH auch neue Tatsachen feststellen und berücksichtigen (BFH-Urteile vom 27. Juli 1977 I R 205/75, BFHE 123, 286, BStBl II 1978, 11; vom 7. Dezember 1977 II R 96/75, BFHE 123, 437, BStBl II 1978, 70; vom 5. März 1986 II R 5/84, BFHE 146, 27, BStBl II 1986, 462; Lange in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, a.a.O., § 118 FGO Rz. 178). Dabei steht ihm allerdings ein Ermessen zu, ob es selbst Beweise erhebt oder zur Klärung zurückverweist. Die Ausübung dieses Ermessens hat sich an der Prozessökonomie auszurichten. Dabei sind weitere Prozessverzögerungen (Verfahrenskosten, Sachnähe und voraussichtliche Aufklärung) abzuwägen gegen die Hauptaufgabe des Revisionsgerichts, Rechtsfragen zu entscheiden (vgl. dazu auch BFH-Urteil vom 24. September 1985 IX R 47/83, BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268).
d) Im Streitfall sind konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Kläger prozessunfähig sein könnte. Verschiedene Gerichte haben bereits Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers geäußert bzw. diese verneint. Der Senat hält es jedoch nicht für zweckmäßig, dass er selbst die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zur Prozessfähigkeit des Klägers trifft und Beweise erhebt. Die Prozessökonomie gebietet im Streitfall, dass das FG die Prozessfähigkeit bzw. Prozessunfähigkeit des Klägers feststellt.
Fundstellen
Haufe-Index 705710 |
BFH/NV 2002, 651 |
AO-StB 2002, 147 |