Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtserheblichkeit nachträglich bekannt gewordener Tatsachen
Leitsatz (NV)
Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen sind nur dann rechtserheblich und können nur dann zu einer Änderung führen, wenn die Finanzbehörde bei rechtzeitiger Kenntnis einer ihr unbekannt gebliebenen Tatsache schon bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem höheren steuerlichen Ergebnis gelangt wäre. Bei der Feststellung dieses Ergebnisses besteht keine Bindung an bestimmte Beweismittel.
Normenkette
EStG 1987 § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b Doppelbuchst. bb; AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war als leitender Angestellter bei der Bayer X-AG nichtselbständig tätig. Bei den Einkommensteuerveranlagungen für die Streitjahre 1988 und 1989 wurden die Vorsorgeaufwendungen bei der Höchstbetragsberechnung nach § 10 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 27. Februar 1987 aufgrund einer vom Steuerpflichtigen vorgelegten Arbeitgeberbescheinigung ohne Kürzung des Vorwegabzugs als Sonderausgaben mit den jeweiligen gesetzlichen Höchstbeträgen berücksichtigt. In der Bescheinigung heißt es u.a.: "Zur Vorlage beim Finanzamt bescheinigen wir Ihnen, daß Sie von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreit sind, jedoch keine derartigen steuerfreien Zuschüsse erhalten; insbesondere werden für Sie keine Pensionskassenzuwendungen steuerfrei geleistet. Daher steht Ihnen der Sonderhöchstbetrag ungekürzt für Ihre Versicherungsbeiträge zur Verfügung."
Im Zuge einer Lohnsteuer-Außenprüfung wurde festgestellt, dass der Kläger auf eigenen Antrag von der gesetzlichen Versicherungspflicht befreit worden war, dass er als Ersatzversicherung eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte, und dass der Arbeitgeber keine steuerfreien Zuschüsse i.S. des § 3 Nr. 62 EStG geleistet hatte. Nach den Feststellungen der Lohnsteuer-Außenprüfung gehörte der Kläger jedoch zu den Arbeitnehmern, die neben ihrem Anspruch aus der Lebensversicherung und einem Anspruch auf Leistungen aus einer Pensionskasse zusätzlich von ihrem Arbeitgeber eine einzelvertragliche Pensionszusage erhalten hatten.
Daraufhin änderte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) die bestandskräftig gewordenen Einkommensteuerbescheide und setzte die Einkommensteuer für die Veranlagungszeiträume 1988 und 1989 unter Kürzung des Vorwegabzugs bei der Berechnung des abzugsfähigen Sonderausgabenhöchstbetrags neu fest, so dass entgegen den ursprünglichen Veranlagungen Vorsorgeaufwendungen in Höhe von jeweils 6 000 DM unberücksichtigt blieben.
Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) statt. Das FG führte aus: Zwar seien die Voraussetzungen des Kürzungstatbestandes nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. bb EStG gegeben. Die nachträglich bekannt gewordene Tatsache sei jedoch nicht rechtserheblich gewesen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte das FA den Vorwegabzug ungekürzt gelassen. Aus einem Schreiben des Finanzministeriums (FinMin) des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) an den Bundesminister der Finanzen (BMF) ergebe sich, dass von der Finanzverwaltung des Landes NRW zum fraglichen Zeitpunkt die Ansicht vertreten worden sei, dass bei dem Personenkreis, der sich von der Versicherungspflicht habe freistellen lassen und zu dem der Kläger gehöre, der Vorwegabzug nicht zu kürzen sei. Auch der anhängige Streit sei die Folge einer Beanstandung durch den Landesrechnungshof, der für die Zeit bis 1989 eine Überprüfung der bisher offensichtlich vertretenen Rechtsauffassung, wonach im Falle einer Pensionszusage der Vorwegabzug nicht zu kürzen sei, für erforderlich gehalten habe. Auch das FinMin NRW und die Oberfinanzdirektion (OFD) Köln seien ―unter Hinweis auf Abschn. 106 Abs. 2 Nr. 2 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) 1987― der Auffassung gewesen, dass sich die Kürzungsregelung nur auf Steuerpflichtige erstrecke, die sozialversicherungsrechtlich keine Arbeitnehmer seien.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts:
1. Im Zeitpunkt der erstmaligen Veranlagung im März 1989 bzw. im Juni 1990 habe es weder eine Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) noch eine die Finanzämter (FÄ) bindende Verwaltungsmeinung zu der streitigen Frage der Kürzung des Vorwegabzugs bei Arbeitnehmern gegeben, die auf eigenen Antrag von der gesetzlichen Versicherungspflicht befreit worden seien. Damit sei die Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung gegeben.
2. Aus der Niederschrift zu TOP 3 der Sitzung der Einkommensteuer-Referenten vom 10. bis 12. Februar 1993 Az. IV B 1 S -2520-/93 folge, dass im Zeitpunkt der erstmaligen Veranlagung eine eindeutige Verwaltungsauffassung nicht existent gewesen sei. Die bloße Möglichkeit, dass das FA bei Kenntnis der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache unrichtig entschieden hätte, reiche nicht aus, um die Rechtserheblichkeit zu verneinen.
3. Das Urteil vom 10. März 1999 II R 99/97 (BFHE 188, 276, BStBl II 1999, 433) sei nicht einschlägig, da ihm ein anderer Sachverhalt zugrunde liege.
Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Der Auffassung des FG sei zu folgen. Es habe eine Verwaltungsmeinung gegeben, nach der die FÄ den Vorwegabzug in Fällen dieser Art regelmäßig nicht gekürzt hätten.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
1. Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Im Streitfall ist dem FA nachträglich bekannt geworden, dass der Kläger in das System der betrieblichen Altersversorgung durch seinen Arbeitgeber einbezogen war und von diesem eine einzelvertragliche Pensionszusage erhalten hatte. Daher hätten die nach § 10 Abs. 3 EStG vorgesehenen Höchstbeträge gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. bb EStG gemindert werden müssen.
2. Jedoch sind nachträglich bekannt gewordene Tatsachen nur dann rechtserheblich und können nur dann zu einer Änderung führen, wenn die Finanzbehörde bei rechtzeitiger Kenntnis einer ihr unbekannt gebliebenen Tatsache schon bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre (BFH-Beschluss vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180; BFH-Urteile vom 15. Januar 1991 IX R 238/87, BFHE 164, 492, BStBl II 1991, 741; vom 14. Dezember 1994 XI R 80/92, BFHE 176, 308, BStBl II 1995, 293; vom 11. Juni 1997 X R 242/93, BFHE 183, 427, BStBl II 1997, 612; BFH-Beschluss vom 29. Juli 1997 VII B 90/97, BFH/NV 1998, 16; BFH-Urteile vom 13. Mai 1998II R 67/96, BFH/NV 1999, 1; vom 29. Juli 1998 II R 39/96, BFH/NV 1999, 154; zum Meinungsstand Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., Stand April 1998, § 173 AO 1977 Tz. 55). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das FA die dem Sachverhalt entsprechende (zutreffende) Entscheidung getroffen hätte (BFH-Urteil in BFHE 176, 308, 311, BStBl II 1995, 293).
Im Streitfall ist das FG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Schluss gekommen, dass das FA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch bei Kenntnis der nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen nicht anders entschieden haben würde; es beruft sich insoweit vor allem auf das Schreiben des FinMin NRW vom 13. November 1992 - S 2221-2 V B 6 an den BMF. Diese Tatsachenwürdigung bindet, da sie verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen ist und nicht durch Denkfehler oder die Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflusst ist (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., 1997, § 118 Rz. 40). Nach dem Inhalt dieses Schreibens war das FinMin (in Übereinstimmung mit der OFD Köln) nach wie vor der Auffassung, dass eine Kürzung nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. bb EStG nicht vorgenommen werden dürfe. Diese Kürzungsvorschrift betreffe ―neben bestimmten Selbständigen― nur Steuerpflichtige mit Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, die sozialversicherungsrechtlich keine Arbeitnehmer seien, z.B. Vorstandsvorsitzende von AG. Bei den hier in Rede stehenden, wegen Abschlusses einer Lebensversicherung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreiten Angestellten dürfte es sich durchweg um Arbeitnehmer im sozialversicherungsrechtlichen Sinne handeln; auch ab 1990 komme eine Kürzung des Vorwegabzugs nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a Doppelbuchst. cc EStG 1990 nicht in Betracht.
Angesichts dieses ganz eindeutigen Rechtsstandpunkts, der für Zweifel an der praktizierten Verwaltungsauffassung im Land NRW keinen Raum lässt, ist das FG berechtigterweise zu dem Ergebnis gekommen, dass das FA auch bei Kenntnis der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu einer anderen Beurteilung hinsichtlich der Kürzung des Vorwegabzugs gelangt wäre.
Dieser Beurteilung steht die Niederschrift zu TOP 3 der Sitzung der Einkommensteuer-Referenten vom 10. bis 12. Februar 1993 Az. IV B 1 - S 2520 -/93 nicht entgegen. Aus dieser Niederschrift ergibt sich lediglich, dass sich das FinMin NRW mit seiner Auffassung nicht hat durchsetzen können; zu der Praxis der Finanzverwaltung bei der ursprünglichen Veranlagung enthält die Niederschrift keine Aussage.
Unerheblich ist, dass über Abschn. 106 Abs. 2 Nr. 2 EStR 1987 hinaus offenbar keine Verwaltungsanweisungen zu dieser Frage ergangen sind. Dies hängt augenscheinlich damit zusammen, dass die Verwaltung ihre Auffassung für so eindeutig hielt, dass es weiterer Verwaltungsanweisungen ―etwa auf der Ebene der OFD― nicht bedurfte. Dem Beschluss des Großen Senats in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180 lässt sich nicht die Auffassung entnehmen, dass die Feststellung, wie das FA bei der ursprünglichen Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entschieden hätte, nur mit Hilfe ganz bestimmter Beweismittel getroffen werden könnte (so auch BFH-Urteil in BFHE 188, 276, BStBl II 1999, 433).
Fundstellen