Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; Disagio als laufzeitabhängiger Ausgleich für niedrigeren Nominalzinssatz; Übergangserlasse der Finanzverwaltung
Leitsatz (NV)
- Der Prozessbevollmächtigte braucht regelmäßig nicht zu überprüfen, ob sein sonst zuverlässig arbeitendes Kanzleipersonal der ‐ zutreffenden ‐ Angabe des Gerichts auch dessen richtige postalische Anschrift beigefügt hat.
- Ein Disagio ist in der Regel kein Entgelt für einen einmaligen Verwaltungsaufwand bei der Kreditbeschaffung und ‐gewährung, sondern als laufzeitabhängiger Ausgleich für einen niedrigeren Nominalzinssatz und damit als Vorauszahlung eines Teils der Zinsen anzusehen. Es kann deshalb nur als Vorkosten nach § 10e Abs. 6 EStG abgezogen werden, soweit es wirtschaftlich auf die Zeit vor Bezug entfällt.
- Auch wenn seit dem 1. Januar 1996 die Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme mit dem Rechtsbehelf des Einspruchs angefochten wird, können die Steuergerichte Übergangserlasse der Finanzverwaltung nicht im Anfechtungsverfahren gegen Steuerbescheide bzw. Feststellungsbescheide berücksichtigen.
Normenkette
FGO § 56; EStG § 10e Abs. 6
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und wurden im Streitjahr 1992 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
Mit notariellem Vertrag vom 14. August 1992 erwarben sie ein mit einem Einfamilienhaus bebautes Grundstück zu einem Kaufpreis in Höhe von 1 500 000 DM. Die anteiligen Gebäudeanschaffungskosten betragen 515 534 DM. Vor Bezug des Hauses am 17. Dezember 1992 ließen die Kläger das gesamte Gebäude renovieren. U.a. wurde die nach Auffassung des Schornsteinfegers nicht zulässige Heizungsanlage demontiert und in der Waschküche neu errichtet. Die Hauselektrik wurde entfernt und die Elektroleitungen wurden neu installiert. Die gesamten Instandsetzungs- und Modernisierungsaufwendungen in Höhe von 154 280,60 DM verteilen sich auf folgende Gewerke: Maler, Fliesenleger, Glaser, Elektriker, Installateur, Maurer, Heizungsinstallateur. Die Räume im Kellergeschoss wurden in eine psychologische Praxis umgestaltet. Zu diesem Zweck wurden Wände versetzt bzw. neu eingezogen und erstmalig eine Dusche und Toilette eingebaut.
Von den vor Bezug entstandenen gesamten Baukosten ordneten die Kläger dem betrieblichen Bereich insgesamt 63 098,86 DM als nachträgliche Herstellungskosten zu. 44 963,18 DM davon betrafen den betrieblichen Bereich unmittelbar, 18 135,68 DM (= 16,59 v.H.) entfielen entsprechend der anteiligen Nutzung des Gebäudes auf die Praxisräume.
Die auf die eigengenutzte Wohnung entfallenden Modernisierungsaufwendungen in Höhe von 91 181,74 DM und Finanzierungskosten in Höhe von 186 372 DM (Schuldzinsen vor Bezug: 27 392 DM; Damnum: 146 710 DM; Geldbeschaffungskosten: 12 270 DM) machten die Kläger in ihrer Steuererklärung für das Streitjahr als Vorkosten nach § 10e Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) berücksichtigte antragsgemäß eine Sonderabschreibung nach § 4 des Fördergebietsgesetzes (FördG) in Höhe von 31 549 DM (= 50 v.H. von 63 098,86 DM), die Absetzung für Abnutzung nach § 7 Abs. 4 EStG, die Finanzierungskosten als Vorkosten nach § 10e Abs. 6 EStG sowie Schuldzinsen in Höhe von 3 197 DM nach § 10e Abs. 6 a EStG. Die Modernisierungsaufwendungen in Höhe von 91 181,74 DM ließ er nicht als Vorkosten nach § 10e Abs. 6 EStG zum Abzug zu. Diese Aufwendungen seien als anschaffungsnaher Aufwand den Anschaffungskosten des Gebäudes hinzuzurechnen.
Die Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verwehrte den Klägern hinsichtlich der Modernisierungsaufwendungen den Vorkostenabzug nach den auch im Rahmen von § 10e Abs. 6 EStG anwendbaren Grundsätzen über den anschaffungsnahen Herstellungsaufwand. Zudem hätte das Damnum (146 710 DM) nur zeitanteilig in Höhe von 7 820 DM als Vorkosten nach § 10e Abs. 6 EStG berücksichtigt werden dürfen. Der Schuldzinsenabzug nach § 10e Abs. 6 a EStG sei zu Unrecht gewährt worden.
Das Urteil des FG wurde den Klägern am 16. Februar 1998 zugestellt. Am 7. April 1998 ging beim FG der Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom gleichen Tage ein, mit dem dieser namens der Kläger Revision einlegte und außerdem Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragte. Der am 12. März 1998 und somit innerhalb der Revisionsfrist zur Post gegebene Schriftsatz vom gleichen Tage habe infolge eines Büroversehens einer ansonsten zuverlässig arbeitenden Kanzleimitarbeiterin, Frau H., nicht die vollständige Anschrift des FG enthalten, sondern sei an das "Finanzgericht Berlin, 4. Senat Berlin" adressiert worden. Die Deutsche Post AG habe deshalb nach Ablauf der Revisionsfrist den Schriftsatz an den Prozessbevollmächtigten der Kläger zurückgesandt. Frau H. habe zu dieser Zeit die Urlaubsvertretung der Sekretärin des Prozessbevollmächtigten, Frau S., wahrgenommen und sei von dieser über die Besonderheiten finanzgerichtlicher Prozesse im gesamten Bundesgebiet und auch vor dem Bundesfinanzhof (BFH) unterrichtet worden.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung von § 10e Abs. 6 EStG. Sie beantragen sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und weitere Vorkosten in Höhe von 91 181,74 DM zum Abzug wie Sonderausgaben zuzulassen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. 1. Den Klägern wird auf ihren innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses (§ 56 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―) und somit rechtzeitig gestellten Antrag wegen der Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt (§ 56 FGO). Sie haben die Frist weder durch eigenes Verschulden noch durch das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten versäumt.
Der Prozessbevollmächtigte hat durch Vorlage einer Kopie des Postausgangbuchs vom 12. März 1998, von eidesstattlichen Versicherungen und der Revisionsschrift vom 12. März 1998 dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die Revisionsschrift aufgrund seines Diktats von Frau H., einer erfahrenen Sekretärin in verschiedenen Anwaltskanzleien und Notariaten, gefertigt wurde und dass die Revisionsschrift mit ―abgesehen von der Anschrift des FG― richtigem Inhalt (Gericht und Aktenzeichen der Vorinstanz, Parteien, Prozessbevollmächtigte, Erlassdatum des angefochtenen Urteils, Revisionseinlegung) rechtzeitig vor Ablauf der Revisionsfrist geschrieben, unterzeichnet und zur Post gegeben worden ist. Um seinen eigentlichen Aufgaben als Organ der Rechtspflege gerecht werden zu können, darf sich ein Rechtsanwalt von rein büromäßigen Aufgaben freihalten und diese sorgfältig geschulten und allgemein überwachten Angestellten überlassen. Die Angabe der postalischen Anschrift des Gerichts, an das ein Schriftsatz gerichtet wird, ist eine rein büromäßige Aufgabe ohne jeden Bezug zu Rechtsfragen auch einfachster Art. Da sie dem Büropersonal keinerlei Schwierigkeiten bereitet, darf ein Prozessbevollmächtigter diese Aufgabe ―ähnlich wie die Frankierung ausgehender Sendungen― seinem zuverlässigen Personal überlassen. Er kann auf eine fehlerfreie Erledigung dieser Aufgabe vertrauen und braucht das Ergebnis nicht regelmäßig zu überprüfen (Bundesgerichtshof ―BGH―, Urteil vom 2. Mai 1990 XII ZB 17/90, Neue Juristische Woche - Rechtsprechungs-Report Zivilrecht ―NJW-RR― 1990, 1149, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ―HFR― 1991, 307).
2. Die Revision ist unbegründet.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Aufwendungen der Kläger für die neue Heizungsanlage, die nach den Feststellungen des FG aufgrund einer Anordnung des Schornsteinfegers demontiert und in der Waschküche neu installiert werden musste, für die Elektroinstallation, die nach dem Vortrag der Kläger im Schriftsatz vom 16. April 1998 aus Sicherheitsgründen erneuert werden musste, sowie die bautechnisch damit zusammenhängenden Aufwendungen schon deshalb Anschaffungskosten des Gebäudes sind, weil sie dazu dienten, funktionsuntüchtige Teile des Gebäudes, die für seine Nutzung unerlässlich sind, wieder herzustellen (vgl. BFH-Urteile vom 12. September 2001 IX R 52/00, BFHE 198, 85, BFH/NV 2002, 966, und vom 20. August 2002 IX R 98/00, BFH/NV 2003, 103). Denn selbst wenn der gesamte von den Klägern als Vorkosten beanspruchte Betrag anzuerkennen wäre, bliebe der Klage und damit der Revision der Erfolg versagt, weil das FA ein Damnum (Disagio) in Höhe von 138 890 DM zu Unrecht als Vorkosten zum Abzug zugelassen hat. Dieser Fehler ist jedenfalls im Wege der Saldierung zu korrigieren, ohne dass damit gegen das Verbot der Verböserung verstoßen wird. Die Saldierung lässt den Antrag der Kläger auf eine gerichtliche Entscheidung zur Abziehbarkeit der Modernisierungsaufwendungen ins Leere gehen.
a) Der Vorkostenabzug nach § 10e Abs. 6 EStG setzt unter anderem voraus, dass die Aufwendungen vor Beginn der erstmaligen Nutzung der Wohnung zu eigenen Wohnzwecken entstanden sind. Sie müssen also wirtschaftlich dem Zeitraum vor Bezug der Wohnung zuzuordnen sein (Senatsurteil vom 8. Juni 1994 X R 30/92, BFHE 174, 541, BStBl II 1994, 893). Laufzeitbezogene Finanzierungskosten sind daher aufzuteilen und ―unabhängig vom Zeitpunkt der Zahlung― als Vorkosten zu berücksichtigen, soweit sie auf die Zeit vor Bezug der Wohnung entfallen. Ein nicht laufzeitbezogener Kreditaufwand ist wirtschaftlich dem Zeitraum zuzuordnen, in dem er geleistet worden ist (Senatsurteil vom 8. Juni 1994 X R 26/92, BFHE 174, 535, BStBl II 1994, 930).
b) Bis zum Veranlagungszeitraum 1989 ist ein Disagio nach der Rechtsprechung des Senats nicht als laufzeitbezogener, auf den Zinsfestschreibungszeitraum zu verteilender Kreditaufwand, sondern als Entgelt für einmalige Kosten der Kreditbeschaffung und andere Aufwendungen des Kreditgebers zu beurteilen (Senatsurteil in BFHE 174, 535, BStBl II 1994, 930). Diese Rechtsprechung beruht auf der früheren Beurteilung durch den BGH, dass es im Ermessen der Parteien liege, das Damnum als Kosten des Kredits oder als laufzeitbezogenen Zins zu vereinbaren (vgl. BGH-Urteile vom 2. Juli 1981 III ZR 8/80 und III ZR 17/80, Neue Juristische Wochenschrift 1981, 2180 und 2181).
Im Jahr 1990 hat der BGH jedoch seine Auffassung zur Rechtsnatur des Damnums geändert (vgl. BGH-Urteile vom 29. Mai 1990 XI ZR 231/89, Der Betrieb ―DB― 1990, 1610; vom 4. April 2000 XI ZR 200/99, DB 2000, 1556). Dieses diene in der Bankpraxis nur noch als Rechenfaktor für die Zinsbemessung während des Zinsfestschreibungszeitraums. Es sei in der Regel als laufzeitabhängiger Ausgleich für einen niedrigeren Nominalzinssatz und damit als Vorauszahlung eines Teils der Zinsen anzusehen. Diese gewandelte Funktion des Disagios beeinflusst auch dessen einkommensteuerrechtliche Behandlung (vgl. im Einzelnen Senatsurteile vom 20. Oktober 1999 X R 69/96, BFHE 190, 185, BStBl II 2000, 259, und vom 5. September 2001 X R 29/00, BFHE 196, 527, BStBl II 2002, 380). In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats, an welcher er festhält, hat das FG das Disagio als laufzeitabhängigen Ausgleich für einen niedrigeren Nominalzinssatz gewertet und nur zeitanteilig zum Abzug zugelassen. Die Finanzverwaltung wendet diese Urteile aus Gründen des Vertrauensschutzes über die entschiedenen Einzelfälle hinaus nicht an (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen ―BMF― vom 19. April 2000 IV C 3 -S 2225 a- 26/00, BStBl I 2000, 484).
c) Auch eine Berufung auf das BMF-Schreiben in BStBl I 2000, 484 verhilft der Revision nicht zum Erfolg. Derartige Übergangserlasse sind, wenn sie eine ausreichende Rechtsgrundlage haben, auch von den Steuergerichten zu beachten (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603, 609; vgl. auch BFH-Urteil vom 12. Januar 1989 IV R 87/87, BFHE 155, 487, BStBl II 1990, 261). Seit In-Kraft-Treten der Abgabenordnung (AO 1977) können die Steuergerichte Übergangserlasse jedoch nicht mehr im Anfechtungsverfahren gegen Steuerbescheide bzw. Feststellungsbescheide berücksichtigen (BFH-Urteile vom 28. November 1980 VI R 226/77, BFHE 132, 264, BStBl II 1981, 319, und vom 28. April 1987 IX R 40/81, BFH/NV 1987, 712). Daran hat sich durch die am 1. Januar 1996 in Kraft getretene Regelung, wonach auch die Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme mit dem Rechtsbehelf des Einspruchs angefochten wird (vgl. § 347 AO 1977 i.d.F. des Grenzpendlergesetzes vom 24. Juni 1994, BStBl I 1994, 440), nichts geändert (Senatsurteil vom 20. März 2002 X R 34/00, BFH/NV 2002, 914).
d) Da die Revision bereits aus anderen Gründen nicht zum Erfolg führt, kommt es auf die Möglichkeit der Saldierung des zu Unrecht gewährten Schuldzinsensabzugs nach Bezug gemäß § 10e Abs. 6 a EStG mit Vorkosten nach § 10e Abs. 6 EStG nicht an.
Fundstellen
Haufe-Index 921363 |
BFH/NV 2003, 757 |
HFR 2003, 476 |
ZfIR 2003, 839 |