Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Verwirkung bei jahrelang unterbliebener Auswertung von Änderungsmitteilungen (sog. ESt-4-Mitteilungen)
Leitsatz (NV)
1. Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Verzögerung der Postbeförderung.
2. Das Vorhandensein eines zumindest subjektiven Vertrauenstatbestandes bleibt auch im Falle der bloßen Untätigkeit der Behörde Grundvoraussetzung für die Annahme einer Verwirkung.
3. Werden gesondert festgestellte Besteuerungsgrundlagen erst nach 7 Jahren bei der Steuerfestsetzung berücksichtigt, so führt dies ohne Hinzutreten weiterer vertrauensschaffender Umstände nicht zur Verwirkung des Steueranspruchs.
4. Die Verjährungsfristen sind als Anhaltspunkt für die Beurteilung des Zeitmoments bei der Verwirkung grundsätzlich nicht geeignet.
Normenkette
AO § 146a Abs. 3, § 218 Abs. 4 (AO 1977 § 175 Abs. 1 Nr. 1); FGO § 56
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches FG |
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war im Streitjahr 1970 an mehreren Verlustzuweisungsgesellschaften beteiligt. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) berücksichtigte im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr aufgrund von Mitteilungen des zuständigen Betriebs-FA die Verluste aus den Beteiligungen bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb. Der Bescheid wurde am 4. April 1973 zur Post gegeben.
Am 31. August 1976 und 7. Dezember 1976 gingen dem FA Mitteilungen über die Änderung (Verminderung) der Verlustanteile des Klägers aus den gewerblichen Beteiligungen zu, die zunächst nicht ausgewertet wurden. Nachdem das Betriebs- FA auf entsprechende Rückfrage im Jahre 1983 mitgeteilt hatte, daß die Änderungen der Gewinnanteile auf bei den Gesellschaften durchgeführten Betriebsprüfungen beruhten, erließ das FA am 19. August 1983 einen auf § 175 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Änderungsbescheid, in dem es den Verlust aus Gewerbebetrieb entsprechend den Mitteilungen des Betriebs-FA aus dem Jahre 1976 verminderte.
Die Einkommensteuerbescheide 1971 und 1973 waren bereits im Jahre 1978 und später (zusammen mit den Einkommensteuerbescheiden 1972 und 1974) noch einmal im Jahre 1982 aufgrund geänderter Verlustanteile des Klägers an den Beteiligungsgesellschaften geändert worden.Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Einspruch gegen den Änderungsbescheid für 1970 erhobenen Klage statt. Es vertrat die Auffassung, daß der Steueranspruch aufgrund der langjährigen Untätigkeit des FA zum Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsbescheides verwirkt gewesen sei. Da die Auswertung der Mitteilungen ohne sachlichen Grund unterblieben sei, sei entsprechend der Verjährungsregelung spätestens mit Ablauf des fünften Jahres nach Eingang der Mitteilungen beim FA Verwirkung eingetreten.
Mit seiner vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision gegen das am 19. September 1985 zugestellte Urteil rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Die Revisionsbegründungsschrift vom 14. November 1985 ist beim Bundesfinanzhof (BFH) erst am 22. November 1985 eingegangen. Das FA hat wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beantragt und zur Begründung vorgetragen, die Revisionsbegründungsschrift sei ausweislich des Absendevermerks am 15. November 1985 mit einfacher Post an den BFH abgesandt worden.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
1. Die Revision ist zulässig.
Das FA hat zwar die Frist zur Begründung der Revision versäumt, doch ist ihm insoweit antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO zu gewähren.
Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO war die Revision innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils einzulegen und spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen. Im Streitfall wurde die Zustellung des Urteils, die nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) zu erfolgen hat (§ 53 Abs. 1 und 2, § 104 Abs. 2 FGO), nach § 5 Abs. 2 VwZG gegen Empfangsbekenntnis am 19. September 1985 ausgeführt. Die Frist zur Einlegung der Revision lief am Montag den 21. Oktober 1985 und die Revisionsbegründungsfrist folglich am 21. November 1985 ab (§ 54 FGO, § 222 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung; §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 und 193 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Die Revisionsbegründungsschrift ging ausweislich des Eingangsstempels erst am 22. November 1985 beim BFH ein.
Das FA trifft jedoch an der Fristversäumnis kein Verschulden. Es hat durch Vorlage einer Kopie des Absendevermerks und die ergänzende Erläuterung über das im Amt praktizierte Postabsendeverfahren hinreichend glaubhaft gemacht, daß die Revisionsbegründungsschrift bereits am 15. November 1985 mit einfachem Brief abgesandt worden ist. Der Aufgabezeitpunkt war so rechtzeitig, daß das Schriftstück bei Zugrundelegung der - gerichtsbekannten - üblichen Postlaufzeiten den BFH noch vor Ablauf der Frist erreicht hätte. Die Verzögerung der Beförderung beruhte somit auf Gründen, die nicht im Bereich des FA zu suchen sind. Der Bürger wie auch die Behörde, denen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den gleichen Grundsätzen zu gewähren ist, dürfen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) insbesondere darauf vertrauen, daß die von der Post nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden. Versagen sie, so darf ihnen das, da sie darauf keinen Einfluß haben, im Rahmen der Wiedereinsetzung nicht als Verschulden zur Last gelegt werden (Beschluß des BVerfG vom 4. Mai 1977 2 BvR 616/75, BVerfGE 44, 302, Neue Juristische Wochenschrift 1977, 1233, m.w.N.).
2. Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).
Der Steueranspruch war entgegen der Auffassung des FG im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Einkommensteuerbescheides noch nicht verwirkt.
a) Das Rechtsinstitut der Verwirkung gilt als Ausfluß der die gesamte Rechtsordnung beherrschenden Grundsätze von Treu und Glauben auch im Steuerrecht. Der Tatbestand der Verwirkung setzt neben dem bloßen Zeitmoment sowohl ein bestimmtes Verhalten des Anspruchberechtigten voraus, demzufolge der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung darauf vertrauen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden - Vertrauenstatbestand - als auch, daß der Anspruchsverpflichtete tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich hierauf eingerichtet hat - Vertrauensfolge - (vgl. BFH-Urteile vom 14. September 1978 IV R 89/74, BFHE 126, 130, BStBl II 1979, 121, mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen, und vom 7. Juni 1984 IV R 180/81, BFHE 141, 451, BStBl II 1984, 780).
b) Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG fehlt es im Streitfall sowohl an einem Vertrauenstatbestand als auch an einer Vertrauensfolge. Das FG hat außer dem bloßen Zeitablauf keine Umstände festgestellt, aus denen der Kläger hätte entnehmen können, daß die im Verfahren der einheitlichen und gesonderten Feststellung ergangenen Änderungsbescheide nicht zu der im Gesetz angeordneten Folgeänderung bei der Einkommensteuerveranlagung des Streitjahres führen sollte.
Derartige Umstände können entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht daraus hergeleitet werden, daß das FA bereits vor Erlaß des angefochtenen Bescheides Änderungsbescheide für die Folgejahre erlassen hatte, in denen die Änderungen der Verlustanteile für diese Jahre berücksichtigt worden waren. Denn hieraus hätte der Kläger allenfalls entnehmen können, daß die Voraussetzungen für eine Änderung der Veranlagung des Streitjahres nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 aus der Sicht des Wohnsitz-FA bei Erlaß der Änderungsbescheide der Folgejahre nicht vorgelegen haben, nicht jedoch, daß das Wohnsitz-FA, dem hinsichtlich der Folgeänderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 keine eigene Entscheidungskompetenz zusteht, von einer Änderung endgültig absehen wollte. Derartige Vermutungen waren insbesondere auch deshalb nicht begründet, weil das FA bei Erlaß der Änderungsbescheide für die Folgejahre keine zeitliche Reihenfolge eingehalten und beispielsweise die Veranlagung des Jahres 1972 erst vier Jahre nach Erlaß des Änderungsbescheides für 1973 geändert hatte.
Dem Kläger ist auch kein Nachteil entstanden, den er bei rechtzeitiger Geltendmachung des Steueranspruchs nicht erlitten hätte. Er hat nicht einmal behauptet, im Vertrauen auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs über seine Mittel verfügt oder sonstige, nicht mehr rückgängig zu machende Maßnahmen getroffen zu haben.
c) Im Streitfall ist Verwirkung auch nicht durch bloßen Zeitablauf eingetreten.
aa) Nach ständiger Rechtsprechung reicht das Untätigbleiben der Finanzbehörden allein für die Annahme einer Verwirkung grundsätzlich nicht aus (vgl. BFH-Urteile in BFHE 129, 462, BStBl II 1980, 368; vom 29. Juli 1981 I R 62/77, BFHE 134, 264, BStBl II 1982, 107; vom 3. November 1982 I R 39/80, BFHE 137, 183, BStBl II 1983, 182, und vom 8. Oktober 1986 II R 167/84, BFHE 147, 409, BStBl II 1987, 12). Denn die zeitlichen Grenzen für die Festsetzung eines Steueranspruchs sind in den Verjährungsvorschriften abschließend festgelegt.
Allerdings hat der BFH bereits im Urteil vom 10. Dezember 1971 III R 35/71 (BFHE 104, 283, BStBl II 1972, 331) die Frage aufgeworfen, ob nicht für den Fall, daß die Finanzbehörde ohne sachlichen Grund übermäßig lange untätig bleibt und dadurch die Regelverjährungsfrist wegen Ablaufhemmung ungewöhnlich lang hinausgezögert würde, eine zeitliche Grenze nach Treu und Glauben gezogen werden müßte. In einer späteren Entscheidung hat er es für denkbar gehalten, daß Verwirkung ausnahmsweise auch einmal ohne vertrauensbedingte Disposition, etwa nur durch bloßen Zeitablauf eintreten könne (BFH-Urteil in BFHE 126, 130, BStBl II 1979, 121).
Auch in der Literatur wird die Auffassung vertreten, daß bei einem sehr langen Zeitablauf bereits die reine Untätigkeit der Finanzbehörden für die Schaffung eines Vertrauenstatbestands ausreichen und das Zeitmoment das Dispositionserfordernis völlig verdrängen kann (vgl. Rath, Die Verwirkung im Steuerrecht, 1981, S. 67 und 109, m.w.N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 4 AO 1977 Tz. 67).
bb) In Fällen, in denen die Finanzbehörden gesondert festgestellte Besteuerungsgrundlagen erst nach mehreren Jahren bei der Steuerfestsetzung berücksichtigt haben, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung Verwirkung in den bisherigen entschiedenen Fällen ausdrücklich abgelehnt (vgl. BFH-Urteile in BFHE 104, 282, BStBl II 1972, 331; BFHE 129, 462, BStBl II 1980, 368; vom 5. November 1980 I R 98/77, nicht veröffentlicht - NV -, und vom 18. Juli 1984 III R 36/83, NV). Sie hat hierbei vor allem dem Umstand Bedeutung beigemessen, daß ein Steuerpflichtiger, dem bereits die Grundlagen der noch vorzunehmenden Besteuerung vom FA mitgeteilt worden sind, nicht darauf vertrauen kann, nicht mehr zur Entrichtung der Steuer herangezogen zu werden. Unterbleibt der rein mechanische Vorgang der Folgeänderung gemäß § 218 Abs. 4 AO (§ 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977), so ist für den Steuerpflichtigen ohne weiteres erkennbar, daß es sich hierbei lediglich um einen Fehler im Verwaltungsablauf handeln kann, der auch bei längerer Dauer zur Schaffung eines Vertrauenstatbestandes nicht geeignet ist. Das Vorhandensein eines zumindest subjektiven Vertrauenstatbestandes bleibt jedoch auch im Falle der bloßen Untätigkeit der Behörde Grundvoraussetzung für die Annahme einer Verwirkung.
cc) Nach den Feststellungen des FG war dem Kläger allerdings nicht bekannt, daß dem FA Änderungsmitteilungen vorlagen. Selbst wenn das FG mit dieser Feststellung zum Ausdruck bringen wollte, daß der Kläger über die Durchführung von Betriebsprüfungen bei den Beteiligungsgesellschaften und den hierauf beruhenden geänderten Feststellungsbescheiden trotz der ihm zustehenden Kontroll- und Informationsrechte (vgl. § 166 des Handelsgestzbuches) nicht unterrichtet gewesen sein sollte, so wäre auch in diesem Fall keine Verjährung durch bloßen Zeitablauf eingetreten. Hat der Kläger nämlich nicht gewußt, daß für die Beteiligungsgesellschaften geänderte Feststellungsbescheide ergangen waren, so konnte er aus dem Verhalten des FA auch keine Folgerungen ziehen, die einen Vertrauenstatbestand hätten begründen können, der auch im Falle der bloßen Untätigkeit grundsätzlich unverzichtbare Grundvoraussetzung für die Annahme einer Verwirkung ist. Ob und ggf. nach welchem Zeitraum die Geltendmachung des Steueranspruchs ausnahmsweise allein durch Zeitablauf - ohne den Nachweis des Vertrauens auf den Bestand des früheren Bescheides - verwirkt werden kann, bedarf angesichts der im Streitfall noch überschaubaren Fristen keiner Entscheidung.
dd) Die Annahme einer zeitlichen Grenze zur Durchführung der Folgeänderung war für die Geltungsdauer der Reichsabgabenordnung (AO) auch nicht aus Gründen der Rechtssicherheit zwingend geboten.
Die Verwirkung ist keine Ersatzverjährungsfrist (so schon Fritsch, Finanz- Rundschau 1965, 244; Oswald, Steuerberater-Jahrbuch 1963/64, 511). Die Rechtsinstitute der Verjährung und der Verwirkung dienen unterschiedlichen Zwecken. Während bei der Verjährung die Geltendmachung von Ansprüchen nach Ablauf verbindlich festgelegter Fristen aus Gründen der Rechtssicherheit generell ausgeschlossen ist, soll der Steuerpflichtige durch die Verwirkung im Einzelfall davor geschützt werden, daß ihm durch die verspätete Durchsetzung von Ansprüchen Nachteile entstehen.
Die Verjährungsfristen sind somit als Anhaltspunkt für die Beurteilung des Zeitmoments bei der Verwirkung grundsätzlich nicht geeignet. Die Anknüpfung an die Regelverjährungsfristen durch das FG verbietet sich aber auch deshalb, weil die Rechtsprechung eine analoge Anwendung anderer Verjährungsfristen im Hinblick auf das Fehlen einer Frist in § 146a Abs. 3 AO für den Erlaß der auf einer Betriebsprüfung beruhenden Steuerbescheide ausdrücklich abgelehnt hat (vgl. BFH- Urteil vom 3. Mai 1979 I R 49/78, BFHE 128, 364, BStBl II 1979, 738).
Fundstellen
Haufe-Index 415862 |
BFH/NV 1989, 351 |