Leitsatz (amtlich)
1. Pfändungsverfügungen, die bei gleichzeitig bekanntgegebenem Leistungsgebot unter Verletzung der Wochenfrist des § 326 Abs. 3 Nr. 1 AO ergehen, sind nicht nichtig, sondern lediglich anfechtbar.
2. Ficht der Vollstreckungsschuldner eine wegen Verletzung der Schonfrist rechtsfehlerhafte Vollstreckungsmaßnahme fristgerecht mit der Beschwerde an, so erlangt diese nicht mit Ablauf der Schonfrist Rechtswirksamkeit ex nunc.
Normenkette
AO § 326 Abs. 3 Nr. 1; BeitrO § 12 Abs. 4 S. 2; ZPO §§ 750, 766, 798
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) forderte vom Kläger und Revisionskläger (Kläger) mit mehreren vorläufigen Bescheiden vom 3. Dezember 1974 Umsatzsteuervorauszahlungen für 1973 und 1974 in Höhe von je 5 000 DM und Lohnsteuer für die Jahre 1973 und 1974 in Höhe von je 10 000 DM. Die Bescheide wurden am selben Tage durch Boten zugestellt. Gleichzeitig pfändete das FA wegen dieser Steuerschulden zwei Forderungen des Klägers, die von den jeweiligen Drittschuldnern später in Höhe von 27 700 DM bzw. 2 500 DM anerkannt wurden. Das FA stützte sich bei seinen Maßnahmen auf Feststellungen bei einer Steuerfahndungsprüfung, wonach der Kläger seinen steuerlichen Aufzeichnungs-, Erklärungs- und Zahlungspflichten nur unzureichend oder überhaupt nicht nachgekommen sei.
Die gegen die Pfändungsverfügungen eingelegte Beschwerde hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte aus, die Pfändungsverfügungen seien trotz des Verstoßes gegen die Schonfrist des § 326 Abs. 3 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) weder nichtig noch rechtsfehlerhaft, weil die innerhalb der Schonfrist nicht aufgehobenen Vollstreckungsmaßnahmen nach Ablauf der Wochenfrist Rechtswirksamkeit ex nunc erlangt hätten.
Mit seiner hiergegen eingelegten Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 326 Abs. 3 Nr. 1 AO.
Zur Nichteinhaltung der Wochenfrist des § 326 Abs. 3 Nr. 1 AO führt der Kläger aus, es treffe nicht zu, daß der überwiegende Teil der Literatur der Auffassung sei, daß ohne Einhaltung der Wochenfrist ergangene Pfändungsverfügungen nach Ablauf der Frist ex nunc Wirksamkeit erlangten. Nicht nur die drei im Vorbescheid des FG erwähnten Kommentatoren, sondern auch der Bundesfinanzhof - BFH - (Urteile vom 30. September 1953 II 167/52 S, BFHE 58, 54, BStBl III 1953, 312; vom 29. März 1962 IV 222/60 U, BFHE 75, 147, BStBl III 1962, 321; vom 19. November 1963 VII 144/59, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 326, Rechtsspruch 10) und das FG Hamburg (Urteile vom 29. April 1952 II 74/52 und vom 20. Mai 1952 II 167/52 S, BFHE 58, 54, BStBl III 1953, 312; vom 105 -) verträten die Auffassung, daß bei Nichtbeachtung der Mußvorschrift des § 326 Abs. 5 Nr. 1 AO a. F. Zwangsvollstreckungsmaßnahmen unheilbar nichtig seien.
Der Kläger beantragt im Ergebnis, die Pfändungsmaßnahmen aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD) und der Pfändungsverfügung des FA. Der Kläger ist durch die Pfändungsverfügungen in seinen Rechten verletzt, weil mit der Zwangsvollstreckung vor Ablauf der Wochenfrist nach Bekanntgabe der Leistungsgebote begonnen worden ist.
Nach § 326 Abs. 3 Nr. 1 AO darf die Zwangsvollstreckung erst beginnen, wenn dem Vollstreckungsschuldner die Verfügung, durch die er zur Leistung aufgefordert wird (Leistungsgebot), bekanntgegeben und seit der Bekanntgabe mindestens eine Woche verstrichen ist. Es gibt danach zwei Voraussetzungen für den Beginn der Zwangsvollstreckung, die einer gesonderten rechtlichen Beurteilung fähig sind und die nicht stets gemeinsam verletzt sein müssen. Im Streifall sind dem Kläger gleichzeitig mit der Zustellung der Pfändungsverfügungen auch die Leistungsgebote bekanntgegeben worden. Die erste der zwei Voraussetzungen des § 326 Abs. 3 Nr. 1 AO ist damit erfüllt. Zu entscheiden ist danach nur darüber, welche rechtlichen Folgen es hat, wenn die Vollstreckung vor Ablauf der Wochenfrist beginnt.
Der Senat teilt nicht die Meinung des Klägers, daß die Pfändungsverfügungen unheilbar nichtig seien, weil das FA die Wochenfrist nicht beachtet hatte. Vollstreckungsakte sind grundsätzlich voll wirksam, auch wenn sie bei richtiger Handhabung hätten unterbleiben müssen. Sind sie fehlerhaft, sind sie gültig, bis sie auf Anfechtung hin aufgehoben werden (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 10. Juni 1959 V ZR 204/57, BGHZ 30, 173, 175 mit weiteren Hinweisen). Sie sind nur dann ausnahmsweise nichtig, wenn ihnen schwerwiegende Mängel anhaften. Das ist z. B. dann der Fall, wenn es an den Grundvoraussetzungen für Vollstreckungsmaßnahmen schlechthin fehlt, etwa am Leistungsgebot. Auch zu §§ 750 und 798 der Zivilprozeßordnung (ZPO) geht die allgemeine Meinung dahin, daß Vollstreckungsakte wie allgemeine Verwaltungsakte nur bei grundlegenden, schweren Mängeln unwirksam sind und daß andere Mängel die Vollstreckungsmaßnahmen lediglich anfechtbar machen (BGH-Urteile V ZR 204/57 und vom 16. Februar 1976 II ZR 171/74, Neue Juristische Wochenschrift 1976 S. 851 - NJW 1976, 851 -; Beschluß des Oberlandesgericht (OLG) Hamm vom 28. Januar 1974 - 14 W 108/73, NJW 1974, 1516; Beschluß des OLG Bremen vom 28. Juli 1961 - 3 W 54/61, NJW 1961, 1824; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 35. Aufl., Grundzüge § 704 Anm. 8 C).
Mit schwerwiegenden Mängeln dieser Art haben sich die vom Kläger zur Unterstützung seiner Auffassung herangezogenen BFH-Entscheidungen II 167/52 S und IV 222/60 U befaßt. Im Urteil II 167/52 S hat der BFH ausgeführt, daß ohne Leistungsgebot vorgenommene Vollstreckungsmaßnahmen nicht rechtswirksam sind und auch bei nachgeholten Leistungsgeboten nicht wirksam werden. In den Gründen wird zwar auch die Beachtung der Wochenfrist als von der Mußvorschrift des § 326 Abs. 5 AO a. F. erfaßt angesehen; für die Entscheidung kam es aber darauf nach dem zu beurteilenden Sachverhalt nicht an. Der IV. Senat hat sich in seinem Urteil IV 222/60 U der Meinung des II. Senats über die unheilbare Nichtigkeit einer ohne Leistungsgebot durchgeführten Zwangsvollstreckungsmaßnahme angeschlossen.
Die Nichtbeachtung der Wochenfrist des § 326 Abs. 3 Nr. 1 AO stellt keinen schwerwiegenden, zur Nichtigkeit der Pfändungsverfügungen führenden Mangel dar. Die Frist ist zwar mit guten Gründen vom Gesetzgeber vorgeschrieben worden; ihre Nichtbeachtung, gegen die sich der Betroffene mit Rechtsbehelfen wenden kann, ist aber nicht so gravierend wie etwa das Fehlen eines Leistungsgebots.
Da der Kläger die im Streitfalle unter Verletzung der Schonfrist ergangene Pfändungsverfügungen fristgerecht gem. § 230 Abs. 1 AO mit der Beschwerde angefochten hat, sind sie als rechtsfehlerhaft aufzuheben. Dem FG und den Finanzbehörden kann nicht darin gefolgt werden, daß die Pfändungsverfügungen nach Ablauf der Wochenfrist, weil sie in diesem Zeitpunkt noch Bestand gehabt hätten, Rechtswirksamkeit ex nunc erlangt hätten. In dieser Allgemeinheit kann diese Rechtsauffassung weder der vom FG zitierten Literatur (Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Rdnr. 22 d zu § 326 AO; Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Anm. 4 d zu § 326 AO; Liman/Schwarz, Das Steuerbeitreibungsrecht, Bd. I Randnr. 11 zu § 12 BeitrO und Bd. III Randnr. 7 zu § 12 BeitrO) noch dem (die Gerichte nicht bindenden) § 12 Abs. 4 Satz 3 der Beitreibungsordnung (BeitrO) entnommen werden. § 12 Abs. 4 Satz 2 BeitrO sieht zwar vor, daß eine vorzeitig getroffene Vollstreckungsmaßnahme nach Ablauf der Wochenfrist voll wirksam wird, wenn sie in diesem Zeitpunkt noch besteht. In Übereinstimmung damit vertreten die genannten Autoren die Meinung, daß zur Anfechtbarkeit führende Mängel (z. B. einer vorzeitigen Pfändung) - vgl. Urteil des Reichsgerichts (RG) vom 25. Juni 1929 III 485/28, RGZ 125, 286 - heilbar sind. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, ob rechtsfehlerhafte Pfändungsverfügungen nach Ablauf der Schonfrist auch dann Rechtswirksamkeit erlangen, wenn sie mit der Beschwerde angefochten werden.
Auch der BGH hat in seinen zu § 750 ZPO ergangenen Entscheidungen V ZR 204/57 und II ZR 171/74 nicht zu diesen Fragen Stellung zu nehmen brauchen. In beiden Fällen ging es nicht um die Anfechtung mängelbehafteter Vollstreckungsakte gem. § 766 ZPO. Im Urteil II ZR 171/74 hat der BGH im Hinblick auf die vom beklagten Drittschuldner gerügte fehlende Zustellung des Vollstreckungstitels an den Schuldner auf das Erinnerungsverfahren gem. § 766 ZPO hingewiesen und ausgeführt, daß das Prozeßgericht (in dem vom Gläubiger gegen den Drittschuldner geführten Verfahren) solange von der Geltung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses auszugehen habe, wie er nicht im Erinnerungsverfahren aufgehoben worden ist. Gerade um die Anfechtung einer Vollstreckungsmaßnahme im dafür nach der Reichsabgabenordnung vorgesehenen Beschwerdeverfahren und damit um die Frage, ob Pfändungsverfügungen nach Ablauf der Wochenfrist voll wirksam werden, geht es aber im vorliegenden Streitfall.
Diese Frage ist zu verneinen. Dem Vollstreckungsschuldner, der eine gegen ihn ohne Beachtung der Schonfrist des § 326 Abs. 3 Nr. 1 AO ergangene Pfändungsverfügung anficht, muß Rechtsschutz auch dann gewährt werden, wenn diese Frist inzwischen abgelaufen ist. Nur wenn er eine rechtsfehlerhafte Vollstreckungsmaßnahme nicht anficht, kann diese nach Ablauf der Wochenfrist Rechtswirksamkeit erlangen. Legt er gegen die rechtsfehlerhafte Verfügung fristgerecht Beschwerde ein, so kann nicht darauf abgestellt werden, ob er dies vor Ablauf der Wochenfrist tut oder danach. Auf die Beschwerde hin ist jedenfalls über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Pfändungsverfügung zu entscheiden.
Aus den Entscheidungen des RG, daß eine nach § 798 ZPO zu früh vorgenommene und damit "zunächst unwirksame" Pfändung sich durch den Ablauf der Wochenfrist in eine wirksame verwandelt mit der Folge, daß eine gem. § 766 ZPO erhobene Erinnerung zurückzuweisen ist, und des OLG Hamm 14 W 108/73, daß die Heilung eines Verstoßes gegen § 798 ZPO durch Fristablauf auch dann möglich ist, wenn der Schuldner den Mangel vor Ablauf der Wochenfrist gem. § 766 ZPO gerügt hat, kann für den Streitfall schon deshalb nichts abgeleitet werden, weil die Reichsabgabenordnung eine eigene Regelung des Zwangsvollstreckungsrechts enthält (vgl. dazu das BFH-Urteil II 167/52 S). Insbesondere sind Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach der Reichsabgabenordnung nicht mit dem an keine Fristen gebundenen Rechtsbehelf der Erinnerung gem. § 766 ZPO, sondern mit dem fristgebundenen Rechtsmittel der Beschwerde anzufechten. Im übrigen ist dem Beschluß des OLG zu entnehmen, daß die Meinungen darüber, ob eine Heilung des Verstoßes auch dann in Betracht kommt, wenn er vor Ablauf der Schonfrist gem. § 766 ZPO gerügt wird, geteilt sind.
Die angefochtenen Pfändungsverfügungen waren danach als rechtsfehlerhaft aufzuheben, ohne daß es auf den weiteren Revisionsvortrag des Klägers, insbesondere zu § 333 AO, noch ankommt.
Fundstellen
Haufe-Index 73193 |
BStBl II 1979, 589 |
BFHE 1979, 4 |
ZIP 1980, 384 |