Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage; Ruhen des Einspruchsverfahrens wegen eines Musterverfahrens
Leitsatz (NV)
1. Ein Steuerpflichtiger muss eine Verzögerung der Entscheidung über seinen außergerichtlichen Rechtsbehelf über eine angemessene Frist hinaus nur dann hinnehmen, wenn dafür ein zureichender Grund besteht und dieser ihm mitgeteilt worden ist.
2. Ursachen im Bereich der Behördenorganisation, wie Arbeitsüberlastung durch Personalmangel, Urlaub oder Krankheitsfälle sind grundsätzlich kein zureichender Grund. Anderes kann für das Ruhen des Einspruchsverfahrens gelten.
3. Ein zureichender Grund ist unbeachtlich, wenn die Finanzbehörde ihn erst nach Klageerhebung mitteilt.
4. Das Ruhen des Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 AO 1977 setzt voraus, dass sich der Einspruchsführer in der Begründung seines Einspruchs auf das konkrete Verfahren beruft. Allein die Anhängigkeit eines Musterverfahrens, das sich aus der Einspruchsbegründung nicht ergibt, genügt nicht.
Normenkette
AO 1977 § 363 Abs. 2; FGO § 46 Abs. 1 Sätze 1-2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Ehegatten. Beide beziehen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Kläger erzielt außerdem Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr (1999) vom 17. November 2000 erhoben die Kläger Einspruch, weil der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) Unfallkosten des Klägers nicht als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt hatte.
Das FA teilte den Klägern in mehreren Schreiben, zuletzt am 26. September 2001 mit, dass der Einspruch wegen der Vielzahl der anhängigen Rechtsbehelfe noch nicht zur Entscheidung anstehe. Daraufhin erhoben die Kläger am 15. Februar 2002 Untätigkeitsklage und machten neben den Unfallkosten u.a. weitere Aufwendungen für ein Arbeitszimmer/eine Betriebsstätte des Klägers in Höhe von 843,94 DM geltend, die zu dem vom FA bereits anerkannten Betrag von 2 400 DM hinzukamen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unzulässig ab. Es liege ein zureichender Grund i.S. des § 46 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dafür vor, warum das FA über den Einspruch noch nicht entschieden habe. Die Kläger machten u.a. die unbeschränkte Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für ein Arbeitszimmer geltend. Diese Frage sei beim Bundesfinanzhof (BFH) in vielen Streitfällen anhängig (s. Beilage 1/2002 zu BStBl II Nr. 6/02 S. 47 - 50, u.a. das den Klägern mitgeteilte Verfahren Az. XI R 89/00). Nach § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) ruhe das Verfahren von Gesetzes wegen. Das habe das FA den Klägern zuvor auch mitgeteilt. Die Ausnahmevorschrift des § 363 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 liege nicht vor; die Kläger hätten die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens nicht beantragt. Ruhe das Einspruchsverfahren wegen einer beim BFH anhängigen Rechtsfrage, könne über Fragen, die nicht Anlass der Verfahrensruhe seien, nicht entschieden werden.
Dagegen richtet sich die Revision der Kläger, mit der sie geltend machen, das angefochtene Urteil verstoße gegen § 46 FGO. Normzweck sei es zu verhindern, dass die Behörde dem Steuerpflichtigen durch Untätigkeit den Rechtsschutz nehmen könne. Entsprechend könne eine nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO verfrüht erhobene Klage in die Zulässigkeit hineinwachsen und dürfe nicht als unzulässig abgewiesen werden. Das angefochtene Urteil sei daher aufzuheben.
Außerdem verstoße das Urteil gegen § 363 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz AO 1977. Danach ruhe das Verfahren nur "insoweit", als u.a. wegen der Rechtsfrage ein Verfahren bei einem obersten Bundesgericht anhängig sei. Da die AO 1977 andererseits keinen Teileinspruchsbescheid kenne, sei sie in sich widersprüchlich. Der Wortlaut der Vorschrift, eine teleologische und am Verfassungsrecht orientierte Auslegung sowie die Rechtsentwicklung sprächen dafür, dass entschieden werden müsse, soweit das Einspruchsverfahren nicht ruhe.
Das angefochtene Urteil beruhe überdies auf einem Verfahrensmangel, weil das FG gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen habe. Das FG habe die Kläger auf seine Rechtsansicht nicht hingewiesen, dass das Verfahren insgesamt ruhe und die Klage deshalb unzulässig sei, so dass sie sich dazu nicht hätten äußern können. Das sei jedoch wegen der Auslegung des FG, dass sie keinen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 gestellt hätten, geboten gewesen.
Die Kläger beantragen, das Urteil des FG München vom 31. Juli 2002 13 K 884/02 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG hat die von den Klägern erhobene Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen.
1. Eine Klage ist nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO abweichend von § 44 FGO ohne vorherigen Abschluss eines Vorverfahrens zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Die Klage kann jedoch nicht vor Ablauf von 6 Monaten seit Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben werden, es sei denn, dass wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FGO). Nach Satz 3 der Vorschrift kann das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten, verlängerbaren Frist aussetzen.
a) Wie sich aus § 46 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 FGO entnehmen lässt, ist eine Frist von bis zu 6 Monaten nach Einlegung des Einspruchs regelmäßig als angemessen anzusehen (vgl. Senatsbeschluss vom 30. Oktober 1987 IV B 148/86, BFH/NV 1989, 558; BFH-Beschluss vom 7. März 2006 VI B 78/04, BFHE 211, 433, BFH/NV 2006, 1018; Urteil des FG Köln vom 9. Oktober 2003 15 K 354/03, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2004, 519; Steinhauff in Hübschmann/Hepp/ Spitaler --HHSp--, § 46 FGO Rz. 115, m.w.N.). Das Tatbestandsmerkmal "in angemessener Frist" ist jedoch auch nach Ablauf von sechs Monaten zu prüfen. Dabei ist nach den gesamten Umständen des Falles zu beurteilen, ob eine darüber hinausreichende Frist noch "angemessen" ist (BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 1018). Abzuwägen sind auf der einen Seite der Umfang und die rechtlichen Schwierigkeiten des Falles und auf der anderen Seite das Interesse des Rechtsbehelfsführers an einer baldigen Entscheidung (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 1018; von Beckerath in Beermann/Gosch, FGO, § 46 Rz. 88 und 95).
b) Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO muss ein Steuerpflichtiger eine Verzögerung der Entscheidung über seinen außergerichtlichen Rechtsbehelf über eine angemessene Frist hinaus nur dann hinnehmen, wenn dafür ein zureichender Grund besteht und dieser ihm mitgeteilt worden ist.
aa) Ursachen im Bereich der Behördenorganisation, wie Arbeitsüberlastung durch Personalmangel, Urlaub oder Krankheitsfälle sind grundsätzlich kein zureichender Grund für die Überschreitung einer angemessenen Frist (Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 142, m.w.N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 46 FGO Tz. 12; von Beckerath in Beermann/Gosch, a.a.O., § 46 FGO Rz. 120). Das Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 AO 1977 kann jedoch ein zureichender Grund sein (Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 150 ff.; Tipke/Kruse, a.a.O., § 46 FGO Tz. 12; von Beckerath in Beermann/Gosch, a.a.O., § 46 FGO Rz. 123).
bb) § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO erfordert über das Vorhandensein des zureichenden Grundes hinaus dessen Mitteilung; denn andernfalls liefe der Steuerpflichtige Gefahr, eine unzulässige Klage zu erheben (von Beckerath in Beermann/Gosch, a.a.O., § 46 FGO Rz. 131; Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 172). Ein zureichender Grund ist daher unbeachtlich, wenn die Finanzbehörde ihn erst nach Klageerhebung mitteilt. Der entgegenstehenden Auffassung des FG, nach der es für die Mitteilung auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage ankommt, kann nicht gefolgt werden. Denn sie ließe die Regelung praktisch leer laufen und wäre unvereinbar mit ihrem Zweck, den Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. dazu Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 30, 33 und 176).
2. Nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 ruht das Einspruchsverfahren insoweit, als u.a.
- wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren bei einem obersten Bundesgericht anhängig ist und
- der Einspruch hierauf gestützt wird.
Das Einspruchsverfahren ist fortzusetzen, wenn der Einspruchsführer dies beantragt (Satz 4 der Vorschrift).
Das Ruhen des Verfahrens setzt danach voraus, dass sich der Einspruchsführer in der Begründung seines Einspruchs auf das konkrete Verfahren beruft (Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 150; Birkenfeld in HHSp, § 363 AO Rz. 162; Tipke/Kruse, a.a.O., § 363 AO Rz. 17; Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 363 Rz. 48). Da die Einspruchsbegründung somit verfahrensgestaltende Bedeutung hat, muss sich daraus ergeben, auf welches konkrete Musterverfahren der Einspruch gestützt wird (vgl. Birkenfeld in HHSp, § 363 AO Rz. 175; Tipke/Kruse, a.a.O., § 363 AO Rz. 17). Allein die Anhängigkeit eines Musterverfahrens, das sich aus der Einspruchsbegründung nicht ergibt, genügt nicht. Dies folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift und dient der erforderlichen Rechtsklarheit.
3. Das FG hat die Klage danach zu Unrecht als unzulässig abgewiesen.
a) Zwischen der Einlegung des Einspruchs und der Klageerhebung waren mindestens 14 Monate vergangen, wie sich den Feststellungen des vorinstanzlichen Urteils zum Datum des angefochtenen Steuerbescheides einerseits und der Klageerhebung andererseits entnehmen lässt. Die verstrichene Frist betrug damit mehr als das Doppelte der Regelsperrfrist des § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO. Anhaltspunkte dafür, dass ausnahmsweise gleichwohl nicht vom Ablauf einer angemessenen Frist i.S. des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO auszugehen wäre, ergeben sich aus den Feststellungen des FG nicht.
b) Als Grund für die Verzögerung der Einspruchsentscheidung hatte das FA den Feststellungen des angefochtenen Urteils zufolge mitgeteilt, dass der Einspruch wegen der Vielzahl der anhängigen Rechtsbehelfe noch nicht zur Entscheidung anstehe. Der Sache nach machte das FA damit Arbeitsüberlastung geltend. Das ist jedoch --wie unter II.1.b aa dargelegt-- kein zureichender Grund.
c) Das FG hat seine Entscheidung auch nicht auf diesen Grund gestützt. Es hat die Mitteilung eines zureichenden Grundes vielmehr darin gesehen, dass hinsichtlich der streitigen Arbeitszimmerkosten beim BFH viele Musterverfahren anhängig seien, darunter das den Klägern vom FA während des Klageverfahrens mitgeteilte Verfahren XI R 89/00.
d) Das FG hat dabei jedoch nicht festgestellt, dass sich die Kläger während des Einspruchsverfahrens auf dieses konkrete Musterverfahren berufen haben. Das war ausweislich der vorgelegten Akten auch nicht der Fall; die Kläger haben danach im Einspruchsverfahren lediglich auf die Kommentierung von Heinicke in Schmidt, EStG, zu § 4 Rz. 596 (offenbar 19. Auflage) hingewiesen.
Das Einspruchsverfahren ruhte entgegen der Ansicht des FG auch nicht deshalb nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977, weil die Kläger in der Begründung ihrer Untätigkeitsklage zu dem Streitpunkt "Arbeitszimmer" auf das Urteil des FG München vom 8. November 2000 1 K 3219/99 (EFG 2001, 264) Bezug genommen haben, das dem Revisionsverfahren XI R 89/00 zugrunde lag. Denn dieser Hinweis genügte schon deshalb nicht, weil er nicht der Begründung des Einspruchs, sondern der Klage diente. Entgegen der Auffassung des FG kann die Klagebegründung in diesem Zusammenhang nicht zugleich als Einspruchsbegründung angesehen werden. Hinzu kommt, dass die Annahme des FG, die Kläger hätten das Einspruchsverfahren ruhen lassen wollen, in erkennbarem Widerspruch zu ihrem mit der Erhebung der Untätigkeitsklage zum Ausdruck gebrachten Willen zur Verfahrensfortführung stand.
e) Unzutreffend ist darüber hinaus die Rechtsauffassung des FG, soweit es die (erst) nach Erhebung der Untätigkeitsklage erfolgte Mitteilung eines zureichenden Grundes (mit Schreiben des FA vom 9. Juli 2002) als ausreichend angesehen hat (s. oben unter II.1.b bb). Da das Verfahren nicht nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 ruhte (s. vorstehend unter II.3.d), kann offen bleiben, ob in einem solchen Fall ausnahmsweise eine Mitteilung entbehrlich ist (vgl. dazu Steinhauff in HHSp, § 46 FGO Rz. 174).
4. Es bedarf danach vorliegend auch keiner Entscheidung, ob das FG den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO) verletzt hat und ob es auf Grundlage seiner Rechtsansicht den Klägern Gelegenheit hätte geben müssen, sich zu der Frage des Ruhens des Verfahrens und ggf. seiner Fortsetzung nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 zu äußern. Gleiches gilt für die Frage, ob das Verfahren im Falle einer vorzeitig erhobenen Klage auszusetzen gewesen wäre (vgl. dazu BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 1018, unter 4.).
Offen bleiben kann darüber hinaus die Frage, ob sich das Ruhen eines Rechtsbehelfsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 auf den von dem Musterverfahren betroffenen Streitpunkt beschränkt, wie die Kläger meinen, oder ob dem Rechtsschutzgebot durch die Möglichkeit, nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 jederzeit die Fortsetzung des Verfahrens zu beantragen, ausreichend Rechnung getragen wird.
5. Die Vorentscheidung ist danach aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Eine abschließende Entscheidung kommt nicht in Betracht, weil das FG die dafür erforderlichen Feststellungen (noch) nicht getroffen hat.
Fundstellen
Haufe-Index 1571974 |
BFH/NV 2006, 2017 |
DStRE 2006, 1424 |