Leitsatz (amtlich)
War in einem Steuerbescheid ein Verspätungszuschlag festgesetzt (§ 168 AO a. F., § 152 AO 1977) und wird die Steuerschuld in der Einspruchsentscheidung oder einem Änderungsbescheid (§ 94 AO a. F., § 172 AO 1977) herabgesetzt, so hat das FA zu prüfen, in welchem Umfang die für die Festsetzung des Verspätungszuschlags maßgebenden Gesichtspunkte noch gegeben sind. Denn durch die Herabsetzung der Steuerschuld haben sich die für die Ausübung des Ermessens maßgebenden Gesichtspunkte geändert.
Normenkette
AO a.F. § 168 Abs. 2; AO 1977 § 152
Tatbestand
Der Kläger, der eine orthopädische Werkstätte unterhielt, hat trotz mehrfacher Erinnerungen des Finanzamts die Umsatzsteuererklärungen für 1972 und 1973 zu den vom Finanzamt festgesetzten Terminen nicht abgegeben. Das Finanzamt hatte daraufhin durch Umsatzsteuerbescheide vom 3. Dezember 1974 auf Schätzungsgrundlage die Steuerzahlungsschuld für 1972 auf 11 370 DM und für 1973 auf 12 215 DM festgesetzt. Gleichzeitig hatte es für 1972 einen Verspätungszuschlag von 1 137 DM und für 1973 einen solchen von 1 221 DM festgesetzt.
Nachdem der Kläger während des Einspruchsverfahrens die Steuererklärungen eingereicht hatte, hat das Finanzamt (Beklagter) am 28. August 1975 (für den Veranlagungszeitraum 1972) und am 8. September 1975 (für den Veranlagungszeitraum 1973) gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsabgabenordnung (AO a. F.) berichtigte Steuerbescheide erlassen. In diesen hat es die Umsatzsteuer für 1972 auf 10 062,40 DM und für 1973 auf 11 871,20 DM festgesetzt. Gleichzeitig hat es die Verspätungszuschläge auf 1 006 DM (1972) und auf 1 187 DM (1973) herabgesetzt.
Die Oberfinanzdirektion hat die wegen der Verspätungszuschläge erhobene Beschwerde als unzulässig verworfen.
Mit der Anfechtungsklage hat der Kläger eine anderweitige Festsetzung der Verspätungszuschläge begehrt. Das Finanzgericht hat die Verspätungszuschlagsfestsetzungen vom 28. August und 8. September 1975 sowie die Beschwerdeentscheidung aufgehoben und das Finanzamt verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Finanzgerichts zu bescheiden.
Dazu hat das Finanzgericht ausgeführt, bei den Festsetzungen der Verspätungszuschläge in den Änderungsbescheiden vom August und September 1975 handele es sich - entgegen der Auffassung der Oberfinanzdirektion in der Beschwerdeentscheidung - nicht nur um die deklaratorische Übernahme der bereits in den ursprünglichen Bescheiden angeordneten Verspätungszuschläge, sondern um konstitutive und daher anfechtbare Festsetzungsverfügungen. Das Verlangen des Klägers, die Verspätungszuschläge anderweitig festzusetzen, sei begründet. Denn die Verwaltung habe bei der Herabsetzung der Verspätungszuschläge von ihrem Ermessen keinen Gebrauch gemacht, weil sie davon ausgegangen sei, daß es sich nur um eine Neuberechnung zwecks Anpassung an die in den Änderungsbescheiden festgesetzten Steuerschulden gehandelt habe. Die bei der Herabsetzung der Verspätungszuschläge auf wiederum 10 v. H. der berichtigten Steuerforderungen unterlassene Ermessensprüfung sei bei der anderweitigen Festsetzung nachzuholen.
Mit der Revision rügt der Beklagte unrichtige Anwendung der §§ 230 ff. AO a. F. Das Finanzgericht habe verkannt, daß mit der nachträglichen Herabsetzung der Verspätungszuschläge die ursprünglichen Festsetzungen nur der Höhe nach geändert worden seien. Eine konstitutive Neufestsetzung liege lediglich hinsichtlich der herabgesetzten Differenzbeträge vor, während die nach der Herabsetzung verbleibenden Beträge von 1 006 DM (1972) und 1 187 DM (1973) aus den ursprünglichen Bescheiden ungeprüft übernommen worden seien, so daß es sich insoweit nur um eine deklaratorische Wiedergabe der ursprünglichen Festsetzungen handele. Soweit der Zuschlag ermäßigt worden sei, fehle es an einer Beschwer des Klägers; soweit der Zuschlag lediglich übernommen worden sei, sei mangels eines neuen selbständigen Beschwerdegrundes ein förmlicher Rechtsbehelf gegen die Zweitfestsetzungen nicht gegeben. Die gegenteilige Auffassung des Finanzgerichts widerspreche den Ausführungen des Urteils des Bundesfinanzhofs vom 3. August 1961 IV 96/59 U (BFHE 73, 761, BStBl III 1961, 542).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist unbegründet.
1. Wird auf Einspruch die Steuerfestsetzung erhöht (§ 248 Abs. 1 Satz 2 AO a. F.), ist zufolge § 95 AO a. F. eine Erhöhung des Verspätungszuschlags ausgeschlossen. Wird die Steuerfestsetzung dagegen in der Einspruchsentscheidung oder - wie hier - auf Einspruch gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO a. F. herabgesetzt, ist es geboten, die Höhe des bereits zuvor in gesonderter Verfügung (vgl. § 230 Abs. 1 AO a. F., nicht § 229 Nr. 1 AO a. F.) festgesetzten Verspätungszuschlags auch dann in vollem Umfang zu überprüfen (vgl. § 93 AO a. F.), wenn diese Festsetzung bereits unanfechtbar geworden ist. Denn mit der Ermäßigung der Steuer von Rechts wegen erweist sich zumindest ein Teil der bei der Festsetzung des Verspätungszuschlags angestellten Ermessenserwägungen als unrichtig.
Der Verspätungszuschlag konnte gemäß § 168 Abs. 2 AO a. F. dem Steuerpflichtigen bis zur Höhe von 10 v. H. der "endgültig festgesetzten Steuer" auferlegt werden. Endgültig festgesetzte Steuer ist die Steuer, die im Rechtsbehelfsverfahren nicht mehr angefochten werden kann (vgl. insoweit Urteil vom 24. Januar 1956 V 260/55 U, BFHE 62, 270, BStBl III 1956, 100). Daraus hätte zum alten Recht der Zweifel erwachsen können, ob es überhaupt zulässig war, den Verspätungszuschlag festzusetzen, bevor die Steuerfestsetzung unanfechtbar geworden war. Geht man dagegen - wie es § 152 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO 1977) für das neue Recht ausdrücklich vorsieht (vgl. § 152 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 ohne das Wort "endgültig") - davon aus, daß schon unter altem Recht die Festsetzung des Verspätungszuschlags vor Bestandskraft zur Steuerfestsetzung zulässig war, muß das Finanzamt bei Änderung des Steuerbescheids in der Einspruchsentscheidung oder durch Abhilfe gemäß § 94 AO a. F. nachprüfen, in welchem Umfang die seinerzeit für die Ausübung des Ermessens maßgebenden Gesichtspunkte für die Erhebung des Verspätungszuschlags noch gegeben sind. Denn zufolge der Herabsetzung der Steuer haben sich in jedem Fall die für die Ausübung des Ermessens wesentlichen Gesichtspunkte verändert. Das gilt offenbar für die Obergrenze von 10 v. H. der festgesetzten Steuer (§ 168 Abs. 2 AO a. F.; vgl. § 152 Abs. 2 Satz 1 AO 1977); die "endgültig festgesetzte Steuer" kann den zuvor angenommenen Betrag nicht erreichen. Eine linear proportionale Herabsetzung des Verspätungszuschlags - wie sie der Beklagte für richtig hält - reicht aber nicht aus. Denn diese Obergrenze ist nicht der einzige Maßstab für die gebotene Ermessensausübung. Für das alte Recht folgte das daraus, daß § 168 Abs. 2 AO a. F. den Verspätungszuschlag gerade nicht in ein lineares Verhältnis zur festgesetzten Steuer setzte, sondern ein solches Verhältnis nur als obere Grenze vorschrieb; im neuen Recht sind die Zumessungsmaßstäbe für den Verspätungszuschlag ausdrücklich benannt (§ 152 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Schon unter altem Recht konnte "die Höhe des sich aus der Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs" nicht unbeachtet bleiben; ersichtlich hat die Verspätung hinsichtlich der Abgabe der Steuererklärung geringeres Gewicht, wenn gleichwohl die gesamte geschuldete Steuer rechtzeitig vorausgezahlt war. Allein schon der Umstand, daß bei Herabsetzung der Steuer das Verhältnis zwischen festgesetzter Steuer und noch geschuldeter Steuer verschoben werden kann, verpflichtet das Finanzamt zu erneuter Ermessensprüfung; § 93 AO a. F. ermöglicht sie (da die Festsetzung des Verspätungszuschlags nicht unter §§ 229, 94 Abs. 1 Nr. 2 AO a. F. fällt) auch unanfechtbaren Festsetzungen gegenüber. Ebenso können die Gründe, die zur Herabsetzung der Steuer geführt haben, die Versäumnis im Sinne des § 168 Abs. 2 Satz 2 AO a. F. entschuldbar erscheinen lassen; analog dieser Vorschrift ist in der erneuten Prüfung zu berücksichtigen, wenn das Verschulden zwar gegeben, aber geringer sein sollte, als ursprünglich angenommen.
2. Auf diese wiederholte Prüfung der Zumessungsgründe hat der mit seinem Einspruch erfolgreiche Steuerpflichtige einen Rechtsanspruch. Dieser ist, sofern die Festsetzung des Verspätungszuschlags bereits unanfechtbar geworden war, nach vorangegangenem Vorverfahren (§ 44 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) im Wege der Verpflichtungsklage (§ 40 Abs. 1 FGO) zu verfolgen. Hat - wie hier - die Finanzbehörde den Verspätungszuschlag zwar herabgesetzt, ist sie dabei aber nicht in eine erneute Prüfung der Gesamtheit der Zumessungsgründe eingetreten, kann die Entscheidung des Finanzamts in der Gestalt der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (§ 44 Abs. 2 FGO) mit dem Ziele angefochten werden, die ergangene Entscheidung aufzuheben (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO) und den Kläger unter Beachtung der gesetzlichen Zumessungsmaßstäbe für den Verspätungszuschlag (§ 168 Abs. 2 AO a. F.; vgl. § 152 Abs. 2 AO 1977) neu zu bescheiden (§ 101 FGO).
Im vorliegenden Fall ist der Verspätungszuschlag jeweils mit 10 v. H. der festgesetzten Steuerschuld, also dem gesetzlich vorgesehenen Höchstbetrag (§ 168 Abs. 2 AO a. F.), erhoben worden. Das ist nur in außergewöhnlichen Fällen bei Zusammentreffen mehrerer erschwerender Umstände zulässig. Ob hier ein Fall dieser Art gegeben und die Anwendung des Höchstsatzes von 10 v. H. rechtmäßig ist, haben weder das Finanzamt noch die Oberfinanzdirektion dargetan. Sie haben sich vielmehr gesetzwidrig (oben 1.) auf den Standpunkt gestellt, der Kläger habe keinen Anspruch auf erneute Prüfung. Eine gerichtliche Überprüfung der Festsetzungen war deshalb dem Finanzgericht nicht möglich. Es hat daher zutreffend die angefochtene Entscheidung aufgehoben und dem Finanzamt die Verpflichtung auferlegt, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden (§ 101 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 73214 |
BStBl II 1979, 641 |
BFHE 1979, 17 |