Leitsatz (amtlich)
Die Verfügung der OFD Bremen vom 21. Februar 1950 in der Auslegung der Verfügung vom 2. Dezember 1963, wonach beim Erwerb von Grundstücken durch Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag die Grunderwerbsteuer zu erlassen ist, hält sich nicht in den Grenzen, die § 131 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AO dem Ermessen zieht.
Normenkette
AO § 131 Abs. 1 S. 2, Abs. 2
Tatbestand
Die Kläger, Eheleute, hatten 1967 eine in Bremen gelegene Eigentumswohnung gekauft. Für diesen Erwerbsvorgang hatte das beklagte FA von jedem der Kläger Grunderwerbsteuer gefordert. Den Antrag, ihnen die Grunderwerbsteuer aus Billigkeitsgründen zu erlassen, lehnte es ab. Mit der Beschwerde machten die Kläger geltend, die Einziehung der Steuer sei aus folgenden Gründen unbillig:
Sie seien im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat (Ostpreußen) vertrieben worden. Zum Nachweis ihrer Vertriebeneneigenschaft sei ihnen der Flüchtlingsausweis A ausgestellt worden. Seit 1948 lebten sie in dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland; doch habe jeder von ihnen zunächst nur eine Notunterkunft gehabt. Nach ihrer Eheschließung hätten sie das vom Kläger zu 1 im Jahre 1956 mit Hilfe eines Lastenausgleich-Darlehens gegründete Einzelhandelsgeschäft gemeinsam betrieben und daraus einen Gewinn von durchschnittlich 16 600 DM im Jahr (1962 bis 1965) erzielt. Ihre Wohn- und Geschäftsräume seien unzureichend (nur rund 50 qm groß) gewesen. Es sei ihnen jedoch nicht möglich gewesen, eine bessere Wohnung zu mieten, "weil es finanziell nicht zu schaffen" gewesen sei und weil das Geschäft ihre dauernde Anwesenheit erfordert habe. Im Jahre 1967 hätten sie ihr Geschäft mit Rücksicht auf ihr Alter und ihren Gesundheitszustand aufgegeben und ihre Eigentumswohnung bezogen; sie lebten seitdem von Renten in Höhe von zusammen 518 DM monatlich. Nur mit Hilfe eines Kredits sei es ihnen möglich gewesen, den Erwerb der Eigentumswohnung zu finanzieren.
Die OFD wies die Beschwerde als unbegründet zurück. Sie hielt - ebenso wie der Senator der Finanzen - die Voraussetzungen der von ihr aufgestellten Richtlinien für die Ausübung des Ermessens beim Erlaß von Grunderwerbsteuer in Fällen des Erwerbs von Grundstücken durch Vertriebene nicht für gegeben. Auch ein Erlaß oder Teilerlaß aus allgemeinen wirtschaftlichen Gründen komme nicht in Betracht.
Die Klage hatte keinen Erfolg.
Mit der Revision rügen die Kläger, das FG habe zu Unrecht die mehrjährige Zeitspanne zwischen Flucht und Grunderwerb zur Verneinung des unmittelbaren Zusammenhangs des Erwerbs der Eigentumswohnung und der Flucht genügen lassen. Weder die OFD-Verfügung vom 21. Februar 1950 noch deren Ergänzung vom 2. Dezember 1963 S 4545 - St 31 enthalte eine zeitliche Begrenzung. Die Kläger hätten deshalb entsprechend dem Wortlaut der genannten Verfügungen darauf vertrauen dürfen, daß für den von ihnen schon lange geplanten Grunderwerb keine Grunderwerbsteuer anfalle.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Das Urteil des FG ist aufzuheben, weil es zu Unrecht davon ausgegangen ist, daß die den Erlaß der Grunderwerbsteuer ablehnenden Verwaltungsentscheidungen im Einklang mit § 131 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AO stehen.
Das FA und die OFD haben den begehrten Erlaß der Grunderwerbsteuer abgelehnt, weil die Voraussetzungen der aufgrund des § 131 AO ergangenen Verfügung der OFD Bremen vom 21. Februar 1950 - S 4545 - 88 - St 2 nicht gegeben seien; die Kläger hätten bereits vor dem Erwerb der Eigentumswohnung über ausreichenden Wohnraum verfügt. Die OFD hat darüber hinaus den Erlaß mit der weiteren Begründung abgelehnt, daß die Rechtsnatur der Grunderwerbsteuer einem derartigen Erlaß aus allgemeinen wirtschaftlichen Gründen entgegenstehe.
Es mag dahinstehen, ob die Kläger die Voraussetzungen der Verfügung der OFD Bremen vom 21. Februar 1950 unter Beachtung der Verfügung der OFD Bremen vom 2. Dezember 1963 S 4545 - St 31 erfüllen, wie sie behaupten, ob also der ursächliche Zusammenhang zwischen der Vertreibung und dem 1967 getätigten Erwerb der Eigentumswohnung gegeben ist. Denn die genannten Verfügungen halten sich nicht in den Grenzen des § 131 Abs. 2 in Verbindung mit § 131 Abs. 1 Satz 1 AO. Die Verfügungen der OFD Bremen stellen den Grundstückserwerb durch Vertriebene, mögen diese in den Vertreibungsgebieten Grundbesitz verloren haben oder nicht, von der Grunderwerbsteuer frei, wenn sie die Einkommensvoraussetzungen des § 25 des Zweiten Wohnungsbau- und Familienheimgesetzes (II. WoBauG) erfüllen, wenn ferner die Gegenleistung für den Grundstückserwerb 50 000 DM nicht überschreitet und wenn schließlich zwischen Vertreibung und Grundstückserwerb ein unmittelbarer Zusammenhang besteht.
Der Senat hat bereits entschieden, daß die Besteuerung der Grundstückserwerbe durch Vertriebene nicht den Wertungen des GrEStG zuwiderläuft und es deshalb im Sinne des § 131 AO nicht generell unbillig ist, wenn für diesen Grundstückserwerb Grunderwerbsteuer erhoben wird (vgl. Urteil des Senats vom 7. August 1974 II R 57/72, BFHE 113, 265, BStBl II 1975, 51). Ob diese Frage in den ersten Jahren nach Kriegsende anders gesehen werden mußte, mag dahinstehen. Im Jahre 1963 jedenfalls, als die Verfügung vom 2. Dezember 1963 erging, waren schon verschiedentlich grunderwerbsteuerrechtliche Gesetze in Bremen ergangen, ohne daß der Gesetzgeber zu erkennen gegeben hatte, die Erhebung der Grunderwerbsteuer beim Grundstückserwerb durch Vertriebene widerspreche seinen Wertungen. Daß die bremische Bürgerschaft möglicherweise glaubte, durch die OFD-Verfügungen sei eine zufriedenstellende Lösung der grunderwerbsteuerlichen Probleme der Vertriebenen erreicht worden, ändert hieran nichts. Der Gesetzgeber kann eine Gesetzgebungsmaterie nicht durch Unterlassen einer Regelung der Verwaltung zur Regelung nach § 131 AO freigeben.
An dieser Auffassung ändert sich auch dadurch nichts, daß die Verfügungen der OFD Bremen verschiedene Einschränkungen enthalten, die den Anwendungsbereich so weit einschränken, daß die Zahl der Fälle, die unter diese Verfügungen fallen, nur noch gering ist. Durch die Einfügung der Einkommensgrenze und vor allem der Gegenleistungsgrenze von 50 000 DM ist zwar erreicht worden, daß der Anwendungsbereich nur schmal ist. Dadurch sind jedoch keinesfalls aus der Masse der Grundstückserwerbe durch Vertriebene diejenigen Erwerbe ausgewählt worden, in denen bei Vorliegen des Zusammenhangs zwischen Vertreibung und Erwerb eines Grundstücks die Erhebung der Grunderwerbsteuer immer unbillig ist. Letzten Endes handelt es sich um die allgemeine Frage, ob es unbillig ist, von jemandem Grunderwerbsteuer zu fordern, der durch Kriegsereignisse seine Wohnung verloren hat und eine andere Wohnung zu Eigentum erwirbt. Es bedarf keiner näheren Erörterung, daß sich im Einzelfall die Erhebung der Grunderwerbsteuer als unbillig erweisen kann. Keinesfalls aber ergibt allein die Erfüllung der Voraussetzungen der Verfügung der OFD Bremen vom 2. Dezember 1963 die Unbilligkeit der Grunderwerbsteuererhebung. Es ist nicht einzusehen, warum z. B. die Erhebung der Grunderwerbsteuer ohne Rücksicht darauf unbillig sein soll, ob der Vertriebene vor der Vertreibung in einer eigenen oder in einer gemieteten Wohnung wohnte. Die Frage entsteht, inwieweit sich nach den Wertungen des Grunderwerbsteuergesetzes - nur auf diese kommt es hier an - der vertriebene Mieter einer Wohnung von dem im Bundesgebiet ausgebombten Mieter einer Wohnung unterscheidet. Es kommt entscheidend hinzu, daß die OFD glaubte, danach differenzieren zu können, ob jemand im erworbenen Haus oder in der erworbenen Wohnung erstmals nach der Vertreibung ausreichend untergebracht ist oder ob er erstmals in einer Mietwohnung ausreichend untergebracht wird. Diese Abgrenzung kann kein Kriterium dafür sein, daß in einem Falle die Erhebung der Grunderwerbsteuer unbillig ist, im anderen dagegen nicht. Die Umstände, die darüber entscheiden, ob ein Vertriebener ausreichenden Wohnraum zunächst in Form einer Mietwohnung oder aber sofort in einem eigenen Haus oder einer eigenen Wohnung erlangt, sind außerordentlich unterschiedlich. Es ist nicht erkennbar, daß der alsbaldige Erwerb eigenen Wohnraums so entscheidend von der wohl als Regelfall anzusehenden Anmietung einer Wohnung abweicht, daß es gerechtfertigt wäre, denjenigen die Grunderwerbsteuer zu erlassen, denen es gelingt, die erste ausreichende Wohnung im Bundesgebiet bereits zu Eigentum zu erwerben. Viele Vertriebene wie auch andere Bürger konnten und können ausreichenden Wohnraum für ihre Familie zunächst nur durch Anmietung einer Wohnung beschaffen. Personen, die die Einkommensgrenzen des § 25 des II. WoBauG nicht überschreiten, können Wohnungseigentum weitgehend nur durch langjährige Sparsamkeit erreichen. Unter diesen Umständen ist es nicht gerechtfertigt, jene Vertriebenen durch Erlaß der Grunderwerbsteuer generell zu begünstigen, denen es aus welchen Gründen auch immer gelingt, bereits im unmittelbaren Zusammenhang mit der Vertreibung eine Wohnung zu Eigentum zu erwerben.
Der Vertreter des Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, daß die OFD Bremen den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Vertreibung und dem Erwerb eines Hauses oder einer Wohnung vor allem deshalb fordere, weil die Vertriebenen mit der Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland immer weiter in das wirtschaftliche und soziale Leben ihrer neuen Heimat eingegliedert werden und sich immer weniger von einheimischen Bürgern unterscheiden und daß es deshalb immer weniger gerechtfertigt sei, sie gegenüber den anderen Bürgern zu bevorzugen. Diese Überlegung beweist nach Auffassung des Senats, daß es mehr als problematisch war, die Frage der Nichterhebung der Grunderwerbsteuer beim Erwerb durch Vertriebene durch eine Billigkeitsmaßnahme nach § 131 Abs. 2 AO lösen zu wollen. Dem FG kann durchaus darin zugestimmt werden, daß die Zeit über die fraglichen Verfügungen der OFD hinweggegangen ist. Die Verfügung von 1950 kann aber nicht durch die Einschränkung "gerettet" werden, sie nur noch in wenigen Fällen anwendbar sein zu lassen, ohne daß damit auch nur mit einiger Sicherheit festgestellt werden kann, es handele sich hierbei gerade um die Fälle, in denen die Erhebung der Grunderwerbsteuer bei einem Grundstückserwerb durch Vertriebene unbillig ist.
Es darf schließlich nicht übersehen werden, daß es nicht um die Rechtfertigung einer gesetzlichen Regelung, sondern allein um die Frage geht, ob die Erhebung der Grunderwerbsteuer in den in den Verfügungen der OFD Bremen genannten Fällen unbillig ist. Der Gesetzgeber wäre relativ frei gewesen. Die OFD jedoch war auch bei einer Regelung nach § 131 Abs. 2 AO an die engen Voraussetzungen des § 131 Abs. 1 Satz 1 AO gebunden.
Halten sich danach die OFD-Verfügungen von 1950 und 1963 nicht in den Grenzen des § 131 AO, so können die Kläger hieraus keinen Anspruch auf Erlaß der Grunderwerbsteuer herleiten. Sie haben aber Anspruch darauf, daß die Verwaltung unmittelbar nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AO prüft, ob die Erhebung der Grunderwerbsteuer im vorliegenden Fall unbillig ist, und nach pflichtgemäßem Ermessen über den Erlaßantrag entscheidet. Das Bestehen von Richtlinien nach § 131 Abs. 2 AO schneidet dem Bürger nicht das Recht ab, eine Entscheidung über den Billigkeitsantrag unmittelbar aufgrund des § 131 Abs. 1 Satz 1 AO zu fordern (vgl. das Urteil des Senats vom 10. Mai 1972 II 57/64, BFHE 105, 458, BStBl II 1972, 649). Das hat die Verwaltung insofern nicht getan, als sie den Erlaßantrag wegen Nichterfüllung der Voraussetzungen der OFD-Verfügungen ablehnte und im übrigen zu erkennen gab, daß einem Erlaß der Grunderwerbsteuer aus allgemeinen wirtschaftlichen Gründen die Rechtsnatur der Grunderwerbsteuer entgegenstehe. Ein solcher Anlaß ist jedoch entgegen der offensichtlichen Annahme der OFD nicht ausgeschlossen, wenngleich hier wesentlich engere Grenzen bestehen als bei den Ertragsteuern.
Bei dieser Sachlage waren das Urteil des FG und die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen aufzuheben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FA wird nunmehr unter Berücksichtigung aller Umstände erneut über den Erlaßantrag der Kläger unmittelbar aufgrund des § 131 Abs. 1 Satz 1 AO entscheiden müssen (§ 101 Satz 2 FGO). Hierbei wird einmal die Eigenschaft der Grunderwerbsteuer als eine Rechtsverkehrsteuer mit Kostencharakter, außerdem aber auch zu berücksichtigen sein, ob und inwieweit sich nach der Erlaßpraxis innerhalb des Bezirks der OFD Bremen die Fälle, in denen die Grunderwerbsteuer erlassen worden ist, von dem vorliegenden Fall unterscheiden, und ob damit die Frage der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes) aufgeworfen wird.
Fundstellen
Haufe-Index 71488 |
BStBl II 1975, 720 |
BFHE 1976, 58 |