Entscheidungsstichwort (Thema)
Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens bei fehlender Zugehörigkeit von Vermögen aus selbstständiger Tätigkeit des Schuldners zur Insolvenzmasse
Leitsatz (amtlich)
Hat der Insolvenzverwalter erklärt, das Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit des Schuldners gehöre nicht zur Insolvenzmasse, kann auf Antrag eines Neugläubigers ein auf dieses Vermögen beschränktes zweites Insolvenzverfahren eröffnet werden.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der nach „Freigabe” einer selbstständigen Tätigkeit gem. § 35 Abs. 2 InsO vom Schuldner durch diese Tätigkeit erzielte Neuerwerb (hier als Steuerberater) haftet während des eröffneten (Erst-)Verfahrens grundsätzlich nur den Neugläubigern, nicht aber den Insolvenzgläubigern.
2. Für die Eröffnung des Zweitverfahrens gelten grundsätzlich die allgemeinen Vorschriften der Insolvenzordnung.
Normenkette
InsO § 14 Abs. 1, § 35 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Hanau (Beschluss vom 23.07.2010; Aktenzeichen 3 T 140/10) |
AG Hanau (Beschluss vom 06.07.2010; Aktenzeichen 70 IN 236/10) |
Tenor
Auf die Rechtsmittel der weiteren Beteiligten werden der Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Hanau vom 23.7.2010 und der Beschluss des AG Hanau vom 6.7.2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an das AG zurückverwiesen.
Gründe
I.
Rz. 1
Am 10.4.2007 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet. Der Schuldner war und ist als selbständiger Steuerberater tätig. Mit Schreiben vom 18.7.2008 gab der Insolvenzverwalter die selbständige Tätigkeit des Schuldners frei.
Rz. 2
Mit Schreiben vom 15.6.2010 hat die weitere Beteiligte (fortan: Gläubigerin) wegen rückständiger Sozialversicherungsbeiträge und Pauschsteuern im Zeitraum 1.2.2009 bis 31.5.2010 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das freigegebene Vermögen des Schuldners beantragt. Das Insolvenzgericht hat den Antrag als unzulässig abgewiesen. Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer Rechtsbeschwerde will die Gläubigerin weiterhin die Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners erreichen.
II.
Rz. 3
Die Rechtsbeschwerde ist nach §§ 34 Abs. 1, 6, 7 InsO, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Insolvenzgericht.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt: Dem Antrag fehle das Rechtsschutzbedürfnis. Voraussetzung der Eröffnung eines weiteren Insolvenzverfahrens sei, dass sich die freigegebenen Vermögensgegenstände wider Erwarten als wirtschaftlich werthaltig und verwertbar erwiesen oder der Schuldner die freigegebene selbständige Tätigkeit fortführe. Dies habe die Gläubigerin weder dargetan noch glaubhaft gemacht. Die Freigabe lasse den Schluss darauf zu, dass die selbständige Tätigkeit nicht wirtschaftlich fortgeführt werden könne und Einkünfte nicht zu erzielen seien.
Rz. 5
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Der Antrag auf Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners kann mit dieser Begründung nicht abgewiesen werden.
Rz. 6
a) Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH haben die Neugläubiger auch dann, wenn der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens selbständig tätige Schuldner die daraus herrührenden Verbindlichkeiten nicht erfüllen kann, grundsätzlich kein rechtlich geschütztes Interesse an der Eröffnung eines weiteren Insolvenzverfahrens (BGH, Beschl. v. 18.5.2004 - IX ZB 189/03, NZI 2004, 444; v. 3.7.2008 - IX ZB 182/07, NZI 2008, 609 Rz. 10). Für ein weiteres Insolvenzverfahren ist deshalb kein Raum, weil das gesamte vom Schuldner nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erworbene Vermögen einschließlich aller Einkünfte aus einer selbständigen Tätigkeit gem. § 35 Abs. 1 InsO in die Insolvenzmasse des eröffneten Verfahrens fällt. Dem Schuldner bleibt nur das unpfändbare Vermögen (§ 36 InsO), das aber nicht die Grundlage für ein weiteres Insolvenzverfahren darstellen kann.
Rz. 7
b) An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Sie betrifft jedoch nicht den Sonderfall des § 35 Abs. 2 InsO. Nach dieser Vorschrift kann der Insolvenzverwalter erklären, dass Vermögen aus einer ausgeübten oder beabsichtigten selbständigen Tätigkeit des Schuldners nicht zur Insolvenzmasse gehört und Ansprüche aus dieser Tätigkeit nicht im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können. Die Vorschrift ist eingeführt worden, um dem Insolvenzschuldner die Möglichkeit einer selbständigen Tätigkeit außerhalb des Insolvenzverfahrens zu eröffnen (BT-Drucks. 16/3227, 17). Es handelt sich um eine Art Freigabe des Vermögens, welches der gewerblichen Tätigkeit gewidmet ist, einschließlich der dazu gehörenden Vertragsverhältnisse (BT-Drucks. 16/3227, 17). Die Einkünfte, welche der Schuldner von der Erklärung des Verwalters an im Rahmen dieser Tätigkeit erzielt, stehen den Gläubigern, deren Forderungen erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, als Haftungsmasse zur Verfügung (BT-Drucks. 16/3227, 17). Gibt es eine Haftungsmasse, ist auch ein gesondertes zweites Insolvenzverfahren, das nur der Befriedigung der Neugläubiger dient, rechtlich möglich (Uhlenbruck/Hirte, InsO, 13. Aufl., § 35 Rz. 107; Lwowski in MünchKomm/InsO/Peters, 2. Aufl., § 35 Rz. 75; Holzer in Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 35 Rz. 116; Ahrens in Kohte/Ahrens/Grote/Busch, Verfahrenskostenstundung, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenzverfahren, 5. Aufl., § 287 Rz. 37; Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Zipperer, ZVI 2007, 541, 542; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1106; AG Hamburg ZVI 2008, 295, 296; AG Trier, Beschl. v. 21.9.2009 - 23 IN 91/09, juris Rz. 13 f.; AG Köln NZI 2010, 743, 744; a.A. 482; AG Dresden ZVI 2009, 289, 290; LG Dresden ZVI 2011, 179 f.).
Rz. 8
c) Durchgreifende systematische Bedenken gegen ein Zweitverfahren über das gem. § 35 Abs. 2 InsO insolvenzfreie Vermögen eines Verfahrensschuldners bestehen nicht:
Rz. 9
aa) Die Vorschrift des § 295 Abs. 2 InsO, die gem. § 35 Abs. 2 Satz 2 InsO nach der "Freigabe" der selbständigen Tätigkeit des Schuldners entsprechend anwendbar ist, steht einem Zweitverfahren nicht entgegen. Nach dieser Bestimmung obliegt es dem Schuldner, die Insolvenzgläubiger durch Zahlungen an den Insolvenzverwalter so zu stellen, wie wenn er ein angemessenes Dienstverhältnis eingegangen wäre. Die Abführungspflicht ist eingeführt worden, um eine pauschale Besserstellung der Selbständigen gegenüber den abhängig Beschäftigten - die den pfändbaren Teil ihrer Einkünfte an den Verwalter abführen müssen - zu vermeiden (BT-Drucks. 16/3227, 17). Im Hinblick auf ein Zweitverfahren hat sie entweder zur Folge, dass der an den Insolvenzverwalter des eröffneten Verfahrens abzuführende Teil des Einkommens im Zweitverfahren nicht mehr zur Verfügung steht, also dessen Masse schmälert. Oder der Insolvenzverwalter des ersten Verfahrens muss den Anspruch auf Abführung des entsprechenden Betrages im Zweitverfahren anmelden. Ausgeschlossen ist ein Zweitverfahren damit nicht.
Rz. 10
bb) Auch die Vorschrift des § 89 Abs. 1 InsO verbietet nicht die Anordnung eines weiteren Insolvenzverfahrens über das freigegebene Vermögen des Schuldners. Nach § 89 Abs. 1 InsO sind Zwangsvollstreckungen für einzelne Insolvenzgläubiger während der Dauer des Insolvenzverfahrens auch in das sonstige Vermögen des Schuldners unzulässig. Ein vom Insolvenzverwalter freigegebener Vermögensgegenstand stellt "sonstiges Vermögen" im Sinne dieser Vorschrift dar (BGH, Beschl. v. 12.2.2009 - IX ZB 112/06, NZI 2009, 382 Rz. 8 ff.). Die Eröffnung des weiteren Insolvenzverfahrens ist jedoch keine Zwangsvollstreckung zugunsten einzelner Insolvenzgläubiger. An ihm sind nur die Neugläubiger beteiligt, diejenigen Gläubiger also, deren Forderungen im Zeitpunkt der Eröffnung des ersten Insolvenzverfahrens noch nicht bestanden und in diesem Verfahren also keine Insolvenzgläubiger sind (vgl. § 38 InsO).
Rz. 11
cc) Die Eröffnung eines Zweitverfahrens vor Aufhebung des eröffneten Insolvenzverfahrens widerspricht allerdings dem Grundgedanken der Insolvenzordnung, dass über das Vermögen einer Person nicht mehr als ein Insolvenzverfahren eröffnet wird (vgl. Jaeger/Henckel, InsO § 35 Rz. 131). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht ausnahmslos. Die Insolvenzordnung kennt durchaus Sonderinsolvenzverfahren über Vermögensmassen, die nicht allen Gläubigern gleichermaßen haften (Jaeger/Henckel, a.a.O., Rz. 132 f.; vgl. insb. die Fälle des § 11 Abs. 2 Nr. 2 InsO). Der nach "Freigabe" einer selbständigen Tätigkeit gem. § 35 Abs. 2 InsO vom Schuldner durch diese Tätigkeit erzielte Neuerwerb haftet während des eröffneten (Erst-)Verfahrens grundsätzlich nur den Neugläubigern, nicht aber den Insolvenzgläubigern (Berger, ZInsO 2008, 1101, 1106).
Rz. 12
d) Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen (ebenso aber AG Dresden ZVI 2009, 289, 290; AG Oldenburg ZVI 2009, 196, 197; AG Oldenburg ZVI 2009, 195, 196; LG Dresden ZVI 2011, 179, 180) ist der Antrag eines Gläubigers nicht nur dann zulässig, wenn der Gläubiger das Vorhandensein neuen Vermögens darlegt und glaubhaft macht. Eine gesetzliche Grundlage für diese zusätzliche Anforderung gibt es nicht. Für die Eröffnung des Zweitverfahrens gelten grundsätzlich die allgemeinen Vorschriften der Insolvenzordnung. Der Antrag eines Gläubigers ist zulässig, wenn der Gläubiger ein rechtliches Interesse an der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat und seine Forderung und den Eröffnungsgrund glaubhaft macht (§ 14 Abs. 1 InsO). Dass seine Forderung ganz oder teilweise befriedigt werden kann, braucht der Gläubiger nicht darzulegen. Das Rechtsschutzinteresse für einen Insolvenzantrag besteht unabhängig davon, ob der Gläubiger in dem Verfahren eine Befriedigung erlangen kann. Auch Masseunzulänglichkeit berührt das Rechtsschutzinteresse für einen Eröffnungsantrag nicht (BGH, Beschl. v. 23.9.2010 - IX ZB 282/09, NZI 2011, 58 Rz. 11 zum Eröffnungsantrag eines nachrangigen Insolvenzgläubigers). Eröffnet werden kann das Zweitverfahren allerdings nur, wenn die Verfahrenskosten gedeckt sind (§ 26 Abs. 1 InsO). Ob dies der Fall ist, hat das Insolvenzgericht jedoch von Amts wegen zu ermitteln (§ 5 Abs. 1 InsO).
III.
Rz. 13
Der angefochtene Beschluss kann damit keinen Bestand haben. Er ist aufzuheben; die Sache ist zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Da eine Prüfung der Zulässigkeit des Eröffnungsantrags sowie der Eröffnungsvoraussetzungen bislang noch nicht stattgefunden hat, hält der Senat es für sachgerecht, die Sache an das Insolvenzgericht zurückzuverweisen (vgl. BGH, Beschl. v. 22.7.2004 - IX ZB 161/03, BGHZ 160,176, 185).
Fundstellen
Haufe-Index 2718865 |
BFH/NV 2011, 2222 |
DB 2011, 1690 |
DB 2011, 6 |
DStR 2011, 1769 |
HFR 2012, 217 |
NJW 2011, 8 |
NWB 2011, 2608 |
EBE/BGH 2011, 246 |
NJW-RR 2011, 1615 |
EWiR 2011, 751 |
NZG 2011, 983 |
StuB 2011, 768 |
WM 2011, 1344 |
ZIP 2011, 1326 |
DGVZ 2012, 75 |
DZWir 2011, 393 |
MDR 2011, 1142 |
NZI 2011, 6 |
NZI 2011, 633 |
Rpfleger 2011, 550 |
ZInsO 2011, 1349 |
InsbürO 2011, 310 |
NJW-Spezial 2011, 471 |
NWB direkt 2011, 841 |
StBW 2011, 902 |
VE 2011, 204 |
ZBB 2011, 294 |
ZVI 2011, 448 |
VIA 2011, 68 |