Entscheidungsstichwort (Thema)
Schädigung eines beamteten Lehrers im Zuge seiner Diensttätigkeit durch einen Schüler
Leitsatz (amtlich)
Wird ein beamteter Lehrer im Zuge seiner Diensttätigkeit von einem Schüler geschädigt, so greift die Haftungsfreistellung des Schülers aus §§ 636, 637 RVO nicht ein.
Normenkette
BGB § 823 Abs. 1, § 828 Abs. 2; RVO §§ 636, 637 Abs. 4
Tenor
Auf die Revision des klagenden Landes wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 18. Dezember 1984 aufgehoben.
Die Berufungen des Beklagten gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 14. März 1984 und deren Ergänzungsurteil vom 9. Mai 1984 werden zurückgewiesen.
Die Kosten beider Rechtsmittelzüge fallen dem Beklagten zur Last.
Tatbestand
Der Studienrat K. erlitt am 14. Oktober 1981 bei einer Klassenwanderung durch einen Sturz einen Bruch der Radiusköpfchen beider Ellenbogen. Zu dem Sturz war es gekommen, weil der damals zwölfjährige Beklagte, der als Schüler an der Klassenwanderung teilnahm, dem vor ihm gehenden K., der die Schülergruppe anführte, ein Bein gestellt hatte. K. war infolge dieser Verletzungen für einige Monate dienstunfähig; er mußte sich mehreren Operationen unterziehen.
Das klagende Land zahlte als Dienstherr des K. dessen Dienstbezüge fort und trug die unfallbedingten Aufwendungen. Mit der Klage nimmt es aus übergegangenem Recht (§ 99 LBG NRW) den Beklagten auf Erstattung dieser Leistungen in Höhe von insgesamt 53.897,04 DM in Anspruch; ferner begehrt es die Feststellung, daß der Beklagte verpflichtet sei, ihm künftige unfallbedingte Aufwendungen zu ersetzen.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen.
Mit der Revision erstrebt das klagende Land die Wiederherstellung der Urteile des Landgerichts.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts liegen zwar die Voraussetzungen für eine Haftung des Beklagten aus §§ 823 Abs. 1, 828 Abs. 2 BGB vor; der Beklagte habe über die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht verfügt und schuldhaft gehandelt. Den Klageansprüchen stünden jedoch die die Haftung des Schädigers beschränkenden Vorschriften der §§ 636, 637 RVO entgegen. Es handele sich um einen Schulunfall, so daß nach § 637 Abs. 4 i.V.m. §§ 637 Abs. 1, 636 Abs. 1 RVO Schadensersatzansprüche des Geschädigten ausgeschlossen seien. Zwar erfasse die hier einschlägige zweite Alternative des § 637 Abs. 4 RVO nur die Ersatzansprüche der "Versicherten untereinander"; dies bedeute, daß - stelle man auf den Gesetzeswortlaut ab - im Streitfall eine Haftungsbeschränkung zu verneinen sei, weil K. als Beamter nach § 541 RVO nicht zum Kreis der Versicherten zähle. Dieses Ergebnis bedürfe jedoch einer Korrektur; die gesetzliche Regelung beruhe auf einem Redaktionsversehen. Die Haftungsfreistellung dürfe nicht davon abhängen, ob der Schüler einen beamteten oder einen angestellten Lehrer schädige. Die Einfügung des § 637 Abs. 4 RVO sei von dem gesetzgeberischen Willen getragen gewesen, die Schüler umfassend von der Haftung für Schulunfälle freizustellen und damit einen Beitrag zum Schulfrieden zu leisten.
II.
Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.
1.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts greift die Haftungsablösung aus §§ 636, 637 RVO nicht ein, so daß die Schadensersatzansprüche des Studienrats K. gegen den Beklagten aus §§ 823 Abs. 1 ff. BGB nach § 99 des Landesbeamtengesetzes von Nordrhein-Westfalen in der im Streitfall maßgebenden Fassung der Bekanntmachung vom 1. Mai 1981 (GVBl. NWS. 234) in dem hier geltend gemachten Rahmen auf das klagende Land übergegangen sind.
Es handelt sich um einen Schulunfall. Für solche Unfälle bestimmt die 2. Alternative des § 637 Abs. 4 RVO, daß nach § 636 i.V.m. § 637 Abs. 1 RVO die Haftungsablösung eingreift, wenn es um Ersatzansprüche der "Versicherten untereinander" geht. Studienrat K. war als Beamter aber nicht ein Versicherter im Sinne dieser Bestimmung. Der Begriff des Versicherten im Sinne der §§ 636, 637 RVO erfaßt nicht die Personen, die nach § 541 RVO versicherungsfrei sind (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 636 Rdn. 16 und § 637 Rdn. 3). Nach § 541 Abs. 1 Nr. 1 RVO sind - von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - Personen hinsichtlich solcher Unfälle versicherungsfrei, die sich im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses ereignen, für das beamtenrechtliche Unfallfürsorgevorschriften oder entsprechende Grundsätze gelten. Um einen solchen Unfall handelt es sich hier. Der Unfall war für K. ein Dienstunfall; er ereignete sich im Zuge seiner Diensttätigkeit. Damit ist K. für seine Absicherung gegen die Folgen dieses Unfalls allein auf die beamtenrechtlichen Vorschriften verwiesen; Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung sind für ihn ausgeschlossen (vgl. BSG SozR § 636 Nr. 2 = VersR 1984, 1038). Dies bedeutet zugleich, daß die Anwendung der die Haftungsablösung regelnden Vorschriften der §§ 636 Abs. 1, 637 Abs. 1 RVO schon im Ansatz scheitert.
Diese aus dem Gesetzestext folgende Rechtslage hat das Berufungsgericht auch erkannt. Es hält aber ihre Folge - die Haftung des Schülers, der einen beamteten Lehrer schuldhaft schädigt, und den Fortfall dieser Haftung, wenn der Schüler einen angestellten Lehrer verletzt - für nicht hinnehmbar. Diese Regelung kann nach seiner Auffassung nur auf einem Redaktionsversehen beruhen, das im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung zu korrigieren sei. Dem kann nicht gefolgt werden.
Zwar sind die Gerichte grundsätzlich befugt, eine gesetzliche Regelungslücke durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen (BVerfGE 65, 182, 190 ff.). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts weist § 637 Abs. 4 RVO, der den verletzten Beamten nicht dem Haftungsprivileg des Schädigers nach §§ 636, 637 RVO aussetzt, jedoch keine Regelungslücke auf. Die Vorschrift ist als Teil der Regelung der Haftungsablösung nach §§ 636, 637 RVO im Zusammenhang mit dem Leistungssystem der gesetzlichen Unfallversicherung zu sehen; das Recht der Unfallversicherung nach §§ 537 ff. RVO und das Deliktsrecht des BGB sind zwei verschiedene rechtliche Ordnungssysteme, von denen jedes für sich betrachtet werden muß (BVerfGE 34, 118, 129, 131). Bei dieser Betrachtung erweist sich die Regelung des § 637 Abs. 4 RVO, die für den Geschädigten einen Anspruchsverlust nur dann eintreten läßt, wenn er als Versicherter geschädigt worden ist, als systembedingt.
Die Haftungsabslösung der §§ 636 ff. RVO beruht auf dem Gedanken der Ersetzung der Individualhaftung des Schädigers durch die Kollektivhaftung der gesetzlichen Unfallversicherung. Ihr liegt ein ausgewogenes Verhältnis von Vor- und Nachteilen für den Geschädigten zugrunde (vgl. Senatsurteil vom 6. Mai 1980 - VI ZR 58/79 - VersR 1980, 844, 845). Seine Vorteile bestehen darin, daß er des ihn sonst treffenden Verschuldens- oder Schadensnachweises enthoben ist, daß ihn ein Mitverschulden nicht belastet und er den Vorteil einer institutionalisierten Erfassung und Regulierung des Versicherungsfalles genießt. Diesen Vorteilen stehen die Nachteile gegenüber, daß er mit seinem über die Versicherungsleistungen hinausgehenden Schaden ausgeschlossen ist und insbesondere auf ein Schmerzensgeld verzichten muß (vgl. BGB-RGRK, Vorbem. vor § 823 Rdn. 74). Es ist durch dieses System bedingt, daß das Gesetz diesen Nachteilen nur die in der Unfallversicherung Versicherten unterwirft. § 636 Abs. 1 RVO, auf den § 637 verweist, setzt voraus, daß der Verletzte für seinen Unfall den Versicherungsschutz aus der gesetzlichen Unfallversicherung genießt. Das ist folgerichtig und notwendig. Der Beamte, der durch einen Dienstunfall geschädigt wird, genießt aber ausschließlich die beamtenrechtliche Unfallfürsorge, die das Verhältnis von Beamtenversorgung und Deliktsansprüchen eigenständig regelt. Dies ist der Grund, weshalb ihn das Gesetz in § 541 RVO aus dem Kreis der Versicherten ausgrenzt (vgl. BT-Drs. IV/938-neu-S. 5).
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts rechtfertigt die beamtenrechtliche Unfallfürsorge, obwohl sie dem Beamten einen dem Anspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung vergleichbaren Anspruch gewährt, aber nicht die Anwendung der §§ 636, 637 RVO. Denn der Gesetzgeber hat die aus der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge folgende Konsequenz für die Rechtsposition des Beamten bereits im Rahmen des Beamtenrechts gezogen. Nach § 46 Abs. 2 Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG), der nach § 1 BeamtVG und § 96 Abs. 1 LBG NW auch hier anwendbar ist, stehen - in gewisser Parallele zu § 636 f. RVO - dem verletzten Beamten gegen einen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn oder gegen die in seinem Dienst stehenden Personen deliktische Ansprüche - von den Ausnahmefällen des Erweiterungsgesetzes vom 7. Dezember 1943 (RGBl. I 674) abgesehen - nur dann zu, wenn der Dienstunfall durch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung verursacht worden ist. Allerdings bedeutet dies keine so weitgehende Entlastung des Schädigers, wie sie durch die §§ 636, 637 RVO bewirkt wird; vielmehr gehen Ersatzansprüche in Höhe der Versorgungsansprüche auf den Versorgungsträger über, so daß dieser bei den Verantwortlichen grundsätzlich in vollem Umfang Rückgriff nehmen kann (vgl. BGB-RGRK, Vorbem. 110 vor § 823 m.w.N.). Dies bedeutet, daß bei einer Verletzung eines beamteten Lehrers ein öffentlicher Bediensteter als Schädiger - etwa ein anderer beamteter oder angestellter Lehrer - in gleicher Weise wie ein Schüler dem Regreß des Dienstherrn des Verletzten ausgesetzt ist. Eine Haftungsprivilegierung des Schülers wegen der beamtenrechtlichen Versorgung des Lehrers, wie sie das Berufungsgericht für geboten hält, hätte daher systemrichtig im Rahmen der beamtenrechtlichen Regelung erfolgen müssen. Das Berufungsgericht übersieht zudem, daß die von ihm angestrebte Gleichbehandlung des schädigenden Schülers, der einen beamteten Lehrer verletzt, mit den Fällen der Verletzung eines in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Lehrers auf dem Boden des geltenden Rechts ohnehin nur erkauft werden könnte durch eine Bevorzugung des Schülers im Verhältnis zu den im Schulbetrieb tätigen öffentlichen Bediensteten, die nach dem zuvor Gesagten bei Verletzung eines Beamten jedenfalls mit den Regreßansprüchen des Dienstherrn des Verletzten belastet bleiben, um die es hier gerade geht.
Auch die weitere Erwägung des Berufungsgerichts, daß die von ihm für richtig gehaltene Gesetzesanwendung dem Schulfrieden diene, trägt nicht die Anwendung der §§ 636, 637 RVO. Zwar verfolgt § 637 Abs. 4 RVO in der Tat die Wahrung des Schulfriedens (vgl. Senat BGHZ 67, 279, 284). Dies rechtfertigt aber nicht eine sowohl vom Gesetzeswortlaut abweichende als auch systemwidrige Rechtsanwendung. Die der Haftungsablösung zugrunde liegenden gesetzgeberischen Motive können vielmehr nur im Rahmen einer vom Gesetzeswortlaut ausgehenden und die Gesetzessystematik wahrenden Gesetzesanwendung zum Tragen gelangen.
Der Senat verkennt nicht, daß die Gesetzesanwendung, zu der sich das Berufungsgericht bekannt hat, in der Literatur vereinzelt für geboten erachtet wird (vgl. etwa Gamillscheg/Hanau, Die Haftung des Arbeitnehmers, 2. Aufl., 1974, S. 175; Plagemann/Plagemann, Gesetzliche Unfallversicherung, 1981, Rdn. 436; wohl auch Lauterbach, aaO, 637 Rdn. 28 a). Diese Beiträge vermögen aber nicht zu überzeugen. Sie lassen nicht erkennen, daß dort die Einbindung der Haftungsablösung in das System der gesetzlichen Unfallversicherung berücksichtigt worden ist. Im übrigen verkennen diese Beiträge die Regelung des § 46 BeamtVG.
2.
Die Klageabweisung ist auch nicht aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten gerechtfertigt. Ohne Erfolg macht die Revisionserwiderung geltend, das Berufungsgericht habe zu Unrecht die Deliktsfähigkeit des Beklagten angenommen. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts verfügte der altersgemäß entwickelte Beklagte im Unfallzeitpunkt über die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht; er konnte und mußte auch wissen, daß er durch das "Bein-Stellen" Studienrat K. verletzen konnte. Diese Feststellungen reichten zur Bejahung der Zurechnungsfähigkeit nach § 828 Abs. 2 BGB und des Verschuldens nach § 276 BGB aus (vgl. Senatsurteil vom 28. Februar 1984 - VI ZR 132/82 - VersR 1984, 641, 642). Demgegenüber kann sich die Revisionserwiderung nicht mit Erfolg darauf berufen, daß das Berufungsgericht zur Begründung seiner Ansicht, der Beklagte habe den Unfall nicht vorsätzlich im Sinne des § 636 RVO herbeigeführt, dargelegt hat, daß er lediglich aus Übermut und Neckerei gehandelt habe. Ein von solchen Momenten bestimmtes Handeln schließt nicht aus, daß der Beklagte nach seiner alterstypischen Verstandesreife fähig war, die erkannte Gefahr, die sein Verhalten für K. in sich trug, zu vermeiden.
III.
Bei dieser Sachlage mußten unter Aufhebung des Berufungsurteils die den Klageanträgen stattgebenden Urteile des Landgerichts wieder hergestellt werden.
Unterschriften
Dr. Steffen
Dr. Kullmann
Dr. Lepa
Bischoff
Dr. Schmitz
Fundstellen
Haufe-Index 1456263 |
NJW 1986, 1937 |