Entscheidungsstichwort (Thema)
Einbeziehung von Lohnersatzleistungen bei der Berechnung des Steuersatzes (Progressionsvorbehalt)
Leitsatz (amtlich)
§ 32 b Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 EStG ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 20; AFG § 111; EStG § 3 Nr. 2, § 32b Abs. 1 Nr. 1, § 32b
Verfahrensgang
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob § 32 b Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 EStG i.d.F. des Zweiten Haushaltsstrukturgesetzes vom 22. Dezember 1981 (BGBl I S. 1523 – EStG 1982) verfassungswidrig ist.
Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93 a BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung von Grundrechten angezeigt.
§ 32 b Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 EStG i.d.F. des Zweiten Haushaltsstrukturgesetzes vom 22. Dezember 1981 verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Insbesondere werden Bezieher von Lohnersatzleistungen nicht in gleichheitswidriger Weise zu einer höheren Einkommensteuer veranlagt als Arbeitnehmer.
Durch die Einführung des Progressionsvorbehaltes in § 32 b EStG werden die Lohnersatzleistungen – Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Kurzarbeiter- und Schlechtwettergeld –, die nach § 3 Nr. 2 EStG steuerfrei sind, nicht der Einkommensteuer unterworfen, sondern lediglich zur Berechnung des Steuersatzes einbezogen. Bei Steuerpflichtigen, die nur Arbeitslosen-, Kurzarbeiter-, Schlechtwettergeld oder Arbeitslosenhilfe beziehen, wirkt sich der Progressionsvorbehalt wegen der in § 3 Nr. 2 EStG beibehaltenen Steuerfreiheit dieser Lohnersatzleistungen nicht aus. Folgen ergeben sich nur, wenn neben diesen Einkommenssurrogaten weitere steuerpflichtige eigene Einkünfte bezogen werden oder wenn der zur Einkommensteuer zusammenveranlagte Ehegatte Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 EStG erzielt hat. Durch die auf das Kalenderjahr abgestimmte Besteuerung, die Gewährung von auf das Kalenderjahr bezogenen Freibeträgen und die progressive Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs werden die während eines Jahres nur zeitweise bezogenen Einkünfte von der Besteuerung entlastet. Das hat vor Einführung des Progressionsvorbehaltes dazu geführt, daß Steuerpflichtige, die nur während eines Teils des Jahres arbeitslos waren, im Ergebnis nicht lediglich die in § 111 Abs. 1 AFG festgelegten 68 vom Hundert ihrer letzten Aktivbezüge erhielten, sondern über ihre steuerliche Entlastung einen höheren Betrag, während demgegenüber Steuerpflichtige mit Aktivbezügen, die denen des Arbeitslosen einschließlich des Arbeitslosengeldes bzw. der Arbeitslosenhilfe entsprachen, eine erhebliche höhere Steuer zahlen mußten. Mit der Einführung des Progressionsvorbehaltes verfolgte der Steuergesetzgeber das Ziel, Empfänger von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe im Ergebnis nicht besser zu stellen als mit den in § 111 Abs. 1 AFG genannten Teilbeträgen der letzten Nettobezüge. Dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Der Progressionsvorbehalt berücksichtigt das Leistungsvermögen des Steuerpflichtigen in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise. Es liegt auf der Hand, daß Steuerpflichtige, die im Kalenderjahr neben eigenen Einkünften Lohnersatzleistungen bezogen haben, wirtschaftlich leistungsfähiger sind als Steuerpflichtige, die gleich hohe Einkünfte ohne Lohnersatzleistungen erzielt haben. Die Einbeziehung der Lohnersatzleistungen zur Berechnung des Steuersatzes begegnet daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie ist insbesondere nicht willkürlich. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht gehindert, Einkommenssurrogate in die Besteuerung oder auch nur in den Tarif einzubeziehen. Er ist von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, durch die Ausgestaltung des Steuertarifs den Bezieher von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe steuerlich so zu entlasten, daß dessen Nettobezüge die Höhe der früheren Nettoeinkünfte als beschäftigter Arbeitnehmer erreichen.
Die Einführung des Progressionsvorbehaltes verstößt auch nicht deshalb gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil lediglich einzelne Lohnersatzleistungen einbezogen werden. Der Steuergesetzgeber hat weitgehende Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Erschließung von Steuerquellen (vgl. BVerfGE 81, 108 [117]). Grundsätzlich ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche Sachverhalte er als gleich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG werten will. Will er eine bestimmte Steuerquelle erschließen, andere hingegen nicht, dann ist der allgemeine Gleichheitssatz solange nicht verletzt, als die Differenzierung auf sachgerechten Erwägungen, beispielsweise finanzpolitischer, volkswirtschaftlicher, sozialpolitischer oder steuertechnischer Natur, beruht (BVerfGE 49, 343 [360]; 50, 386 [392]; 65, 325 [354]).
Die Erwägungen des Gesetzgebers, die die Einführung des Progressionsvorbehaltes für einzelne Lohnersatzleistungen tragen, sind einsichtig und nachvollziehbar. Daß der Gesetzgeber zunächst nur die steuerliche Berücksichtigung eines Kernbereichs von Lohnersatzleistungen insoweit neu geregelt hat, beruht auf der von ihm gewonnenen Erkenntnis, daß das Zusammentreffen von Einkünften und Lohnersatzleistungen bei Beziehern dieser Gruppe praktisch besonders bedeutsam ist und daß gerade bei diesen Leistungsempfängern ein deutlicher Abstand zu den Einkommen der beschäftigten Arbeitnehmer erhalten bleiben müsse, damit die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme nicht beeinträchtigt werde. Allein diese Erwägung, nämlich möglichst allen Arbeitslosen im Ergebnis lediglich die in § 111 Abs. 1 AFG genannten prozentualen Beträge ihrer letzten Nettobezüge zu belassen, damit die Arbeitsaufnahme wirtschaftlich sinnvoll bleibe, rechtfertigt die Einführung eines besonderen Steuersatzes. Dies gilt unabhängig von der tatsächlichen Lage auf dem Arbeitsmarkt.
Ungeachtet dessen ist die angegriffene Regelung nicht etwa willkürlich und bereits deshalb verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber die Eignung der Regelung zur Erreichung eines weiteren Zwecks, nämlich der Förderung der Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme, falsch eingeschätzt hätte. Wie der Bundesfinanzhof ausgeführt hat, kann die Eignung der Regelung insoweit nicht bereits mit Hinweis auf ein im Jahre 1981 oder 1982 nicht ausreichendes Arbeitsplatzangebot in Frage gestellt werden. Es erscheint schon fraglich, ob das Arbeitsplatzangebot als solches überhaupt ein geeignetes Kriterium für die Bewertung der Zwecktauglichkeit des Mittels ist. Denn das Arbeitsplatzangebot bestimmt zwar die Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme – was indessen nicht unmittelbarer Zweck des Gesetzes ist –, nicht jedoch bestimmt es die Motivation des Arbeitnehmers, seine innere Einstellung zur Arbeitsaufnahme in vergleichbarer Ausschließlichkeit, sondern allenfalls unter Hinzutreten einer Vielzahl anderer Faktoren. Einer dieser anderen Komponenten, die die Motivation zur Arbeitsaufnahme jedenfalls auch beeinflussen, gilt die gesetzliche Regelung. Im übrigen könnte die Frage, ob die mit einer Regelung beabsichtigten Wirkungen eintreten werden, bei einer Vorschrift wie der vorliegenden, die auf unbestimmte Dauer angelegt ist, ohnehin deshalb nicht allein unter Zugrundelegung der Daten der Arbeitsmarktentwicklung eines beschränkten Zeitraums beurteilt werden, weil Regelungen dieser Art stets ein prognostisches Element zu eigen ist. Insoweit kommt dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zur Einschätzung der Lage und der zukünftigen Entwicklung sowie der Zwecktauglichkeit des Mittels zu (vgl. BVerfGE 30, 250 [262 f.] m.w.N.; 50, 57 [102]; 55, 28 [30]). Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren vielfältiger Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs (vgl. BVerfGE 50, 290 [332 f.]). So unterliegt etwa der Arbeitsmarkt unablässig Veränderungen, etwa unter dem Einfluß gesamtwirtschaftlicher Bedingungen oder der konjunkturellen Entwicklung im einzelnen. Auch ist der Arbeitsmarkt nicht homogen, sondern weist in örtlicher und persönlicher Hinsicht – Alter, Geschlecht oder Qualifikation – erhebliche Unterschiede auf, die selbst bei einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit im übrigen und einem damit einhergehenden Rückgang an offenen Stellen die Annahme rechtfertigen können, die Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. der Arbeitslosenhilfe sei geeignet, die Bereitschaft zur Wiederaufnahme einer Arbeit zu beeinflussen. Mit dem steuerrechtlichen Instrument wird im vorliegenden Falle nur ein Ausschnitt einer höchst komplexen Materie geregelt.
Wenn demgemäß der Bundesfinanzhof die von den Beschwerdeführern für erforderlich gehaltene Untersuchung der im Jahre 1982 offenen Stellen als für die Entscheidung unerheblich unterlassen hat, begegnet dies im Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG keinen Bedenken.
Auch das Vorbringen der Beschwerdeführer im übrigen läßt eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG oder anderer Grundrechte nicht erkennen.
Die gesetzliche Regelung steht nicht im Widerspruch zum Sozialstaatsprinzip. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, auch Arbeitslosenbezüge oder sonstige Einkommenssurrogate im Rahmen der Besteuerung zu berücksichtigen, sofern – wie bei vorliegender Regelung der Fall – die Grundsätze der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beachtet werden.
§ 32 b Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 verstößt auch nicht gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG. Dieses Grundrecht schützt grundsätzlich nicht gegen die Auferlegung von Geldleistungspflichten (BVerfGE 78, 214 [230]), insbesondere nicht gegen die Verpflichtung zur Zahlung von Einkommensteuer, es sei denn, sie belaste den Betroffenen übermäßig und beeinträchtige ihn grundlegend in seinen Vermögensverhältnissen (BVerfGE 81, 108 [122]). Von einer in diesem Sinne erdrosselnden Wirkung des besonderen Steuersatzes des § 32 b Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 EStG kann keine Rede sein. Wie vom Bundesfinanzhof bereits hervorgehoben, wird das Arbeitslosengeld als solches nicht versteuert. Lediglich die Einkünfte der Beschwerdeführer werden mit einem höheren Steuersatz belegt. Der Anspruch des Beschwerdeführers auf Arbeitslosengeld wird durch diese Regelung nicht berührt.
Der Bundesfinanzhof hat auch nicht die auf ein fiktives Gehalt hochgerechneten Arbeitslosenbezüge ohne gesetzliche Grundlage zur Berechnung des Steuersatzes einbezogen. § 51 Abs. 4 Nr. 2 EStG i.d.F. der Bekanntmachung vom 6. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1249), geändert durch Art. 26 des Zweiten Haushaltsstrukturgesetzes vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1523), ermächtigt den Bundesminister der Finanzen, anders als die Bestimmungen der vorstehenden Absätze 1 bis 3, nicht zum Erlaß einer Rechtsverordnung, sondern dazu, „die für die Anwendung des § 32 b Abs. 2 Nr. 1 EStG maßgebenden Beträge festzusetzen”. Aus der gesetzlichen Regelung des § 32 b EStG in Verbindung mit § 111 Abs. 2 AFG und der jeweiligen Verordnung über die Leistungssätze des Unterhaltsgeldes des Arbeitslosengeldes, der Arbeitslosenhilfe, des Kurzarbeitergeldes und des Schlechtwettergeldes läßt sich mit hinreichender Bestimmtheit entnehmen, in welcher Höhe das Arbeitslosengeld zur Berechnung des Steuersatzes einzubeziehen ist. Aus den genannten Vorschriften ergibt sich insbesondere auch, daß nicht die individuell ermittelten steuerlichen oder sonstigen gesetzlichen Abzüge, sondern die in § 111 Abs. 2 AFG in Verbindung mit der Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung genannten, nach Steuerklassen unterschiedenen Abzüge zu berücksichtigen sind. Die Ermächtigung an den Bundesminister der Finanzen zur Festsetzung der maßgebenden Beträge betrifft lediglich die konkrete Bezifferung der in Ansatz zu bringenden Beträge. Die tabellarische Übersicht erleichtert der Verwaltung die Rechtsanwendung. Die Verwaltung ist im übrigen von Verfassungs wegen nicht gehindert, im Interesse der Einheitlichkeit und Praktikabilität Richtlinien zu erlassen, um die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes weiter zu konkretisieren. Insofern ist von Verfassungs wegen auch nichts dagegen zu erinnern, daß die tabellarische Übersicht nicht im Wege der Rechtsverordnung erlassen worden ist.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 1179050 |
BStBl II 1995, 758 |