Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzlicher Richter. Erfordernis der Anrufung des Großen Senats beim BFH
Leitsatz (amtlich)
Die beim Bundesfinanzhof bestehende Praxis, nach der der erkennende Senat den Großen Senat nur dann anruft, wenn die Rechtsauffassung des anderen Senats, von der er abweichen will, in einer sogenannten „S-Entscheidung” enthalten ist, verstößt nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 S. 2; AO §§ 64, 66
Verfahrensgang
Gründe
I.
1. Der Beschwerdeführer zu 1) gab an die Gemeinnützige Baugesellschaft zu H. AG in den Jahren 1952 bis 1954 Baudarlehen in Höhe von insgesamt 213 000 DM, die gemäß den formularmäßig ausgefertigten Schuldscheinen unverzinslich und für Zwecke des sozialen Wohnungsbaus zu verwenden waren. Für diese Darlehen zahlte die Baugesellschaft an Verwandte der Beschwerdeführer und Arbeitnehmer oder ehemalige Angestellte des Beschwerdeführers zu 1) einmalige Provisionen in Höhe von insgesamt 14 640 DM aus. Das Finanzamt Köln-Süd sah in den Provisionen den Beschwerdeführern zuzurechnen im Hinblick auf die Steuervergünstigung des § 7c EStG schädliche Zinsen und ließ die Darlehen in den Einkommensteuerbescheiden für die Jahre 1952, 1953 und 1954 nicht zum Abzug gemäß § 7c EStG zu. Die Berufung der Beschwerdeführer an das Finanzgericht Düsseldorf – Kammern in Köln – hatte im wesentlichen Erfolg. Das Finanzgericht ließ die Darlehen zum Abzug zu, rechnete allerdings die an die Provisionsempfänger gezahlten Beträge dem steuerpflichtigen Einkommen der Beschwerdeführer zu. Auf die Rechtsbeschwerde des Vorstehers des Finanzamts und des Beschwerdeführers zu 1) hob der IV. Senat des Bundesfinanzhofs mit Urteil vom 7. Februar 1963 – IV 365/58 S – die Entscheidung des Finanzgerichts auf, rechnete die „Provisionen” zu den Einkünften aus Kapitalvermögen im Sinne von § 20 Abs. 2 Ziffer 1 EStG und versagte den Abzug der Darlehen bei der Gewinnermittlung in vollem Umfang. Zur Begründung führte er aus, die von der Baugesellschaft gezahlten „Provisionen” seien dem Beschwerdeführer als Zinsen im Zusammenhang mit der Hingabe sogenannter „verunglückter 7c-Darlehen” zuzurechnen. Anders als nach bürgerlichem Recht stelle jeder geldwerte Vorteil, den der Darlehensempfänger dem Darlehensgeber mit Rücksicht auf die Darlehensgewährung zuwende, Zins im Sinne des § 7c EStG dar, soweit der gewährte Vorteil nicht mit dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift vereinbart werden könne. Der Senat hielt es nicht für vertretbar, die Provisionen unter Zugrundelegung eines mäßigen Zinssatzes im Wege der Schätzung nur einem Teil der Darlehen als Zinsen zuzurechnen und den übrigen Teil der Darlehen als unverzinslich zu behandeln, wie dies in dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19. Januar 1960 (I 176, 177/59 U) geschehen war. In dieser Entscheidung hatte der I. Senat des Bundesfinanzhofs die Provision, die 8% der Darlehenssumme betrug, nur einem auf drei Fünftel geschätzten Teilbetrag zugerechnet, so daß zwei Fünftel des Darlehens zum Abzug zugelassen wurden. Das Urteil war als sogenanntes „U-Urteil” im Bundessteuerblatt 1960 III S. 102 veröffentlicht worden.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer Verletzung der Art. 3 Abs. 1 und 101 Abs. 1 Satz 2 GG sowie des Gewaltenteilungsprinzips. Sie beantragen, die Einkommensteuerbescheide des Finanzamts Köln-Süd vom 6. Oktober 1955 für die Jahre 1952, 1953 und 1954 und das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 7. Februar 1963 aufzuheben und die Sache an das Finanzgericht Düsseldorf – Kammern in Köln – zurückzuverweisen.
Art. 101 GG sei deshalb verletzt, weil der IV. Senat gemäß § 66 AO den Großen Senat hätte anrufen müssen, da er von der Rechtsprechung des I. Senats abgewichen sei. Die Praxis des Bundesfinanzhofs, die nur den sogenannten „S-Urteilen” die Bindungswirkung des § 64 AO zumesse, könne nicht aufrechterhalten bleiben, denn allen in Teil III des Bundessteuerblattes veröffentlichten Entscheidungen wohne die Bindungswirkung des § 64 AO inne. Die Anrufung des Großen Senats sei willkürlich unterblieben.
Die Entscheidung des IV. Senats vom 7. Februar 1963 verstoße ferner gegen Art. 3 Abs. 1 GG, denn in den gleichliegenden Fällen der Carl J. W. GmbH und der Carl J. W. und Co. GmbH (I 176, 177/59 U) habe der I. Senat des Bundesfinanzhofs anders entschieden. Bei den genannten Gesellschaften, die der Gemeinnützigen Baugesellschaft zu H. AG Darlehen in Höhe von 200 000 und 300 000 DM gegeben hätten und deren Gesellschafter-Geschäftsführer dafür eine Provision von 40 000 DM erhalten habe, habe der Bundesfinanzhof zwei Fünftel der Darlehenssummen zum Abzug zugelassen. Irgendwelche sachlichen Gründe für eine unterschiedliche Rechtsanwendung seien nicht erkennbar.
Schließlich rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips. In § 7c EStG habe der Gesetzgeber für die Abzugsfähigkeit der Darlehen nur vorgeschrieben, daß sie unverzinslich, nicht, daß sie unentgeltlich sein müßten. Da der Steuergesetzgeber in § 7c EStG den zivilrechtlichen Begriff der Zinsen übernommen habe, dürfe der Zinsbegriff nicht bei der Rechtsanwendung durch das Steuergericht entgegen seinem überkommenen Inhalt ausgeweitet werden. Die Umdeutung des Begriffs der Unverzinslichkeit in den der Unentgeltlichkeit ersetze in unzulässiger Weise Gesetzesrecht durch Richterrecht.
3. Die Bundesregierung hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
Die Beschwerdeführer seien ihrem gesetzlichen Richter nicht entzogen worden. Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19. Januar 1960 sei keine nach § 64 AO veröffentlichte Entscheidung. Die Veröffentlichungspraxis des Bundesfinanzhofs stehe nicht in Widerspruch zu den §§ 64, 66 AO. Aus der Fassung des § 66 AO folge, daß es auch andere Entscheidungen dieses Gerichts als solche von grundsätzlicher Bedeutung geben müsse. Durch § 64 AO sei der Bundesfinanzhof nicht gehindert, auch sie zu veröffentlichen. Die Tatsache, daß neben den „S-Urteilen” auch andere Entscheidungen in Teil III des Bundessteuerblatts publiziert würden, lasse keinesfalls den Schluß zu, alle dort veröffentlichten Erkenntnisse seien von grundsätzlicher Bedeutung. Die äußere Kennzeichnung der Urteile verdeutliche hinreichend, welchen Entscheidungen die Bindungswirkung im Sinne der §§ 64, 66 AO zukomme. Die Auslegung dieser Vorschriften durch den Bundesfinanzhof sei weder willkürlich noch stütze sie sich auf grundrechtswidrige Erwägungen.
Die Abweichung des IV. Senats von der Entscheidung des I. Senats vom 19. Januar 1960 verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz, denn dieser verlange nicht, daß eine einmal höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage unter allen Umständen immer wieder gleich entschieden werden müsse. Sonst wäre nicht nur § 66 AO, sondern wären z.B. auch § 120 Abs. 3 und § 136 GVG gegenstandslos. Eine gefestigte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zum Begriff der „Unverzinslichkeit” oder der „Zinsen” im Sinne des § 7c EStG habe nicht bestanden. Die Übung des Bundesfinanzhofs, die Bedeutung der Urteile an dem Fortschritt der Rechtsentwicklung der jeweils zu entscheidenden Rechtsfrage zu messen, sei verfassungsmäßig nicht zu beanstanden.
Das angegriffene Urteil des Bundesfinanzhofs verstoße auch nicht gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz. Die durch den I. und den IV. Senat getroffene Bestimmung des Zinsbegriffs im Sinne von § 7c EStG sei nicht offensichtlich unhaltbar, sondern halte sich im Rahmen der allgemeinen Auslegungsgrundsätze. Die Beschwerdeführer übersähen, daß es im Zivilrecht an einer Legaldefinition des Begriffs „Zinsen” überhaupt fehle. Die im Zivilrecht übliche Definition der Zinsen sei vielmehr erst durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts entwickelt worden.
Der Bundesfinanzhof hat sich zur Frage der verschiedenen Behandlung von S- und U-Urteilen geäußert. Nach seiner Ansicht ergibt sich aus dem Zusammenhang der §§ 64 und 66 AO, daß die Veröffentlichung nur bei Urteilen von grundsätzlicher Bedeutung erfolgen und daß die Entscheidung des Großen Senats nur in einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung herbeigeführt werden solle. Nicht die Veröffentlichung sei der die Zuständigkeit des Großen Senats begründende wesentliche Vorgang, sondern der Willensentschluß des Bundesfinanzhofs, die Entscheidung als grundsätzlich anzuerkennen und deshalb veröffentlichen zu lassen. Es müsse ihm daher auch unbenommen bleiben zu erklären, daß eine Entscheidung zwar veröffentlicht werden, aber keinen grundsätzlichen Charakter haben solle. Ebensowenig wie bei den sogenannten „KU-Urteilen” eine Publizierung in der Zeitschrift „Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung” den Grundsatzcharakter der Entscheidung begründen könne, sei dies möglich, wenn eine U-Entscheidung im Bundessteuerblatt veröffentlicht werde. Diese Art der Veröffentlichung diene lediglich der vereinfachten Unterrichtung der am Steuerrecht interessierten Kreise. Im übrigen würde eine derartige Auslegung des § 66 Abs. 1 AO durch alle Senate des Gerichts als Auslegung einfachen Rechts selbst dann keinen Verstoß gegen Verfassungsrecht darstellen, wenn sie unrichtig wäre.
II.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 3, 359 [364]; 7, 327 [329]; 9, 223 [230]) kann jemand auch durch Maßnahmen, Unterlassungen oder Entscheidungen des Gerichts seinem gesetzlichen Richter entzogen werden, wenn sie willkürlich, nicht aber schon, wenn sie nur rechtsirrtümlich sind. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann auch dadurch verletzt sein, daß der Senat eines oberen Bundesgerichts die Verpflichtung zur Vorlage an den Großen Senat außer acht läßt, selbst wenn der Große Senat nur über eine bestimmte Rechtsfrage zu entscheiden hat (BVerfGE 3, 359 [363]; 9, 213 [215 f.]; 13, 132 [143]; Beschluß vom 7. April 1965 – 2 BvR 227/64 –).
Das von den Beschwerdeführern angegriffene Urteil des Bundesfinanzhofs und die ihm zugrunde liegende Praxis des Gerichts, bei einer Abweichung von sogenannten „U-Entscheidungen” den Großen Senat nicht anzurufen, würde demnach nur dann gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen, wenn diese Unterlassung willkürlich wäre, weil die ihr zugrunde liegende Auslegung des § 66 AO bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich wäre oder sich derart weit von der auszulegenden Norm entfernte, daß sich der Schluß aufdrängte, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen (vgl. BVerfGE 4, 1 [7]).
Die Zuständigkeit des Großen Senats beim Bundesfinanzhof ist begrenzter als bei den anderen oberen Bundesgerichten. Während beim Bundesgerichtshof (§ 136 Abs. 1 GVG), beim Bundesverwaltungsgericht (§ 11 Abs. 3 VwGO), beim Bundesarbeitsgericht (§ 45 Abs. 2 Satz 1 ArbGG) und beim Bundessozialgericht (§ 42 SGG) der Große Senat grundsätzlich schon zu entscheiden hat, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen will, haben die Senate des Bundesfinanzhofs gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 AO die Rechtsfrage an den Großen Senat nur dann zu verweisen, wenn sie in ihr von einer „nach § 64 veröffentlichten Entscheidung abweichen” wollen (anders der von der Bundesregierung beschlossene Entwurf einer Finanzgerichtsordnung (BT-Drucks. IV/1446), der in § 12 Abs. 3 insoweit die für die übrigen oberen Bundesgerichte geltende Regelung übernimmt).
§ 64 AO lautet:
Der Bundesfinanzhof veröffentlicht seine Entscheidungen, soweit sie grundsätzliche Bedeutung haben. Der Bundesminister der Finanzen bestimmt die Art der Veröffentlichung.
Die ständige Rechtsauffassung aller Senate des Bundesfinanzhofs, die offensichtlich den IV. Senat im Ausgangsverfahren bestimmt hat, das Urteil des I. Senats vom 19. Januar 1960 (I 176, 177/59 U) nicht als nach § 64 AO publiziert zu betrachten, läßt keine Willkür erkennen.
Ob eine Entscheidung grundsätzliche Bedeutung hat, bestimmt der Bundesfinanzhof, und zwar der erkennende Senat. § 10 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Bundesfinanzhofs i. d. F. der Bekanntmachung vom 22. November 1957, BAnz. 1957 Nr. 229 S. 1, lautet:
Der Senat beschließt bei jeder Entscheidung, ob sie nach § 64 AO zu veröffentlichen ist (‚S’), ob sie zum Umlauf innerhalb des Bundesfinanzhofs und damit zur Bekanntgabe freigegeben wird (‚U’) oder ob – bei den anderen Entscheidungen (‚KU’) – ein Stichwort für die Zentralkartei zu bilden ist.
Demgemäß unterscheidet man in der Veröffentlichungspraxis des Bundesfinanzhofs zwischen sogenannten „S-Entscheidungen”, „U-Entscheidungen” und „KU-Entscheidungen”. Schon der Reichsfinanzhof bediente sich einer solchen Unterteilung, wenngleich § 26 seiner Geschäftsordnung (Zentralblatt für das Deutsche Reich 1920 S. 861) sie nicht kannte. War der Entscheidung ein „S” beigegeben, so bedeutete dies, daß sie zur Veröffentlichung in der „Amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Reichsfinanzhofs” bestimmt war. „U-Urteile” wurden durch Umlauf allen Senaten des Reichsfinanzhofs zur Kenntnis gegeben, zur Veröffentlichung freigegeben und bis 1934 vor allem in der Zeitschrift „Steuer und Wirtschaft”, danach fast ausschließlich im Reichssteuerblatt publiziert. Das Zeichen „KU” brachte die Auffassung des Senats zum Ausdruck, der Entscheidung komme keine rechtsgrundsätzliche Bedeutung zu.
Im wesentlichen knüpfte der Bundesfinanzhof an diese Praxis an. Allerdings wurde die „Amtliche Sammlung” in der bisherigen Form nicht mehr fortgeführt. In einem Geleitwort (Bundessteuerblatt 1951 I S. 1) bestimmte der Bundesminister der Finanzen das Bundessteuerblatt III als amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs. In einer Vorbemerkung zu Teil III des Bundessteuerblatts (1951 III S. 1), der, wie die Bundesregierung mitgeteilt hat, ein Schreiben des Bundesfinanzhofs vom 10. November 1950 an den Bundesminister der Finanzen zugrunde lag, heißt es:
„Der Bundesfinanzhof veröffentlicht seine Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 64 AO in Teil III des Bundessteuerblatts. Diese Entscheidungen werden durch den Buchstaben ‚S’ (S-Urteile) als Zusatz zum Aktenzeichen besonders gekennzeichnet. Außerdem werden unter einem besonderen Abschnitt wichtige Entscheidungen des Bundesfinanzhofs veröffentlicht, die mit dem Buchstaben ‚U’ (U-Urteile) gekennzeichnet werden. Diese Entscheidungen haben nicht die bindende Kraft des § 66 Abs. 1 Satz 1 AO.”
Die Bekanntgabe der „S-Urteile” und „U-Urteile” in gesonderten Abschnitten wurde nur bis zum Jahre 1953 beibehalten. Von da an wurden die Entscheidungen nach den einzelnen Gesetzesgebieten geordnet veröffentlicht. Gemäß einer wiederum vom Bundesfinanzhof veranlaßten Vorbemerkung in Teil III des Bundessteuerblatts (1953 III S. 2) werden seither die Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 64 AO „im Inhalt und im Textteil durch das Sternzeichen * besonders gekennzeichnet”.
Es braucht hier nicht entschieden zu werden, ob diese Veröffentlichungspraxis dem § 64 AO widerspricht (bejahend Wacke, FR 1964, S. 4 [6]; zweifelnd auch Vangerow, StuW 1959, Sp. 268). Entscheidend ist allein, ob die von den Senaten des Bundesfinanzhofs geübte Auslegung des § 66 Abs. 1 Satz 1 AO für vertretbar gehalten werden kann oder auf sachfremden Erwägungen beruht. Dem Zweck des § 66 Abs. 1 AO, die Einheitlichkeit der höchstrichterlichen Steuerrechtsprechung sicherzustellen, dürfte es zwar besser entsprechen, allen in Teil III des Bundessteuerblatts als dem amtlichen Veröffentlichungsorgan bekanntgemachten Entscheidungen des Bundesfinanzhofs die Bindungswirkung des § 66 AO beizulegen. Dies läßt sich jedoch mit dem Wortlaut des Gesetzes und dem Sinnzusammenhang beider Vorschriften nicht vereinbaren. Unstreitig wird in § 64 Satz 1 AO nur über jene Entscheidungen eine Bestimmung getroffen, denen grundsätzliche Bedeutung zukommt. Auch die in Satz 2 dieser Vorschrift dem Bundesminister der Finanzen übertragene Kompetenz betrifft, wie sich aus dem Zusammenhang mit dem Vordersatz ergibt, nur diese Entscheidungen. Allein auf sie kann sich daher auch § 66 Abs. 1 Satz 1 AO beziehen.
Diese Auslegung und die zurückhaltende Praxis der Senate bei der Erklärung zu „S-Urteilen” mögen zwar zu einer Vernachlässigung des Großen Senats führen, der seit Bestehen des Bundesfinanzhofs erst in fünf Fällen tätig geworden ist. Auch hat sie in Verbindung mit dem vom Reichsfinanzhof übernommenen Veröffentlichungsmodus die unerwünschte Folge, daß sich widersprechende Urteile der einzelnen Senate publiziert werden (Heßdörfer, BB 1959 S. 1257). Durch derartige mißliche Auswirkungen (Kühn, Abgabenordnung, 7. Aufl. 1963, Anm. 3 zu § 64 S. 38) wird die von allen Senaten des Bundesfinanzhofs geübte Auslegung des § 66 Abs. 1 Satz 1 AO aber nicht schon verfassungswidrig. Es ist auch nicht ersichtlich, daß der I. Senat des Bundesfinanzhofs willkürlich gehandelt hätte, als er seine Entscheidung nur als „U-Urteil”, nicht als „S-Urteil” klassifizierte und dadurch bewirkte, daß der IV. Senat im Ausgangsverfahren nicht zur Anrufung des Großen Senats verpflichtet war.
Zu Unrecht berufen sich die Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1954 (BVerfGE 3, 359 [363]). Dort heißt es zwar beiläufig, daß eine Vorlagepflicht grundsätzlich besteht, wenn der erkennende Senat von der früheren Rechtsauffassung der anderen Senate abweichen will. Weil das Bundesverfassungsgericht aber in jener Entscheidung schon eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung verneint hat, ist es zu einer Prüfung der Vorlagepflicht gemäß § 66 AO gar nicht gekommen.
2. Das angegriffene Urteil des Bundesfinanzhofs vom 7. Februar 1963 verstößt nicht deshalb gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil es von dem Urteil des I. Senats dieses Gerichts vom 19. Januar 1960 abweicht. Zwar steht jede Rechtsanwendung unter den zwingenden Geboten des Gleichheitssatzes. Dieser wird aber durch verschiedenartige Auslegung derselben Bestimmungen durch verschiedene erkennende Gerichte nicht verletzt. Es könnte sich lediglich in dem einen Fall der voneinander abweichenden Entscheidungen um eine unrichtige Gesetzesinterpretation und damit um eine unrichtige Entscheidung handeln (vgl. BVerfGE 1, 82 [85]).
Im übrigen verlangt der Gleichheitssatz nicht, daß eine einmal höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage niemals mehr anders entschieden werden darf. Damit würde jede Rechtsentwicklung und Rechtsfortbildung behindert werden, und die Einrichtung Großer Senate bei den oberen Bundesgerichten wäre sinnlos. Ob ein Senat des Bundesfinanzhofs, der ohne schwerwiegende Argumente eine aus wohlerwogenen Gründen geschaffene Rechtsprechung, die auch zur Grundlage der Verwaltungspraxis geworden ist, wieder umstieße, den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen verletzen würde (BFH, BStBl. 1964 III S. 558 [559]; vgl. auch BFH, BStBl. 1964 III S. 548 [549]), braucht hier nicht entschieden zu werden. Der I. Senat des Bundesfinanzhofs hat in seinem Urteil vom 19. Januar 1960 (BStBl. III S. 102 [103] = BFH 70, 273 [277]) die Möglichkeit einer Aufteilung des Darlehens, für das eine Provision gezahlt worden ist, in einen verzinslichen und einen unverzinslichen Teil lediglich für „vertretbar” gehalten und mit der Kennzeichnung seiner Entscheidung als „U-Urteil” überdies zum Ausdruck gebracht, daß er die Rechtsentwicklung zu dieser Frage nicht als abgeschlossen betrachtete und der gefundenen Lösung noch keinen grundlegenden Vertrauensschutz zubilligen wollte. Als dann der IV. Senat in der von den Beschwerdeführern angefochtenen Entscheidung vom 7. Februar 1963 (BStBl. 1963 III S. 258) in der Behandlung der Darlehen hinsichtlich ihrer Verzinslichkeit von dem vorgenannten Urteil des I. Senats abwich, weil er diese Art der Aufteilung des Darlehens nicht für vertretbar hielt, stieß er damit keine gefestigte Rechtsprechung um.
Freilich könnte das angegriffene Urteil Art. 3 Abs. 1 GG dadurch verletzen, daß es § 7c EStG willkürlich nicht angewandt hätte (BVerfGE 4, 1 [7]). Das ist jedoch nicht festzustellen. § 7c in der hier maßgeblichen Fassung des Einkommensteuergesetzes vom 15. September 1953 (BGBl. I S. 1355) begünstigt nur unverzinsliche Darlehen zur Förderung des Wohnungsbaus. Die Beurteilung des vom Beschwerdeführer zu 1) der Gemeinnützigen Baugesellschaft zu H. AG gewährten Darlehens als nicht unverzinslich im Sinne von § 7c Abs. 1 EStG ist – wenn überhaupt unrichtig – jedenfalls nicht so fehlerhaft, daß sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken als nicht mehr vertretbar angesehen werden müßte. Darauf, ob das bürgerliche Recht einmalige oder wiederholte Provisionsleistungen des Darlehensempfängers an dem Darlehensgeber nahestehende Personen unter bestimmten Voraussetzungen als Zinsen im Sinne von § 608 BGB behandelt, kommt es hier nicht an. Das Steuerrecht bedient sich der vom Reichsfinanzhof entwickelten wirtschaftlichen Betrachtungsweise, die auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen besonders häufig Anwendung findet (Kühn, aaO, StAnpG § 1 Anm. 4a, S. 635). Unter diesem Gesichtspunkt ist es jedenfalls nicht willkürlich, wenn der Kapitalgeber, der Zinsen in fortlaufend gleichen Raten erhält, die sich nach der Überlassungsdauer richten, und der Kapitalgeber, der sich selbst oder einer von ihm bestimmten dritten Person eine „Provision” zahlen läßt, steuerlich gleich behandelt werden. Auch daß der IV. Senat des Bundesfinanzhofs die an die vom Beschwerdeführer zu 1) bezeichneten Personen gezahlten Provisionen nicht lediglich einem Teil der Darlehen als Zinsen zugerechnet, sondern die ganze Darlehenssumme als nicht abzugsfähig behandelt hat, läßt keine Willkür erkennen.
3. Schließlich werden auch das Gewaltenteilungs- und das Rechtsstaatsprinzip durch die angegriffene Entscheidung des Bundesfinanzhofs nicht verletzt. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar betont, es könne unter dem Verfassungsprinzip des Rechtsstaates bedenklich sein, wenn der Steuertatbestand vom Richter neu geschaffen oder ausgeweitet werde (BVerfGE 13, 318 [328]). Das hat aber der Bundesfinanzhof nicht getan, wenn er einmalige oder mehrmalige finanzielle Gegenleistungen für die Darlehenshingabe als Zins im Sinne des § 7c EStG angesehen hat. Er hat damit die bestehende Steuernorm nicht ausgeweitet und auch keinen neuen Steuertatbestand begründet.
Fundstellen
Haufe-Index 1721400 |
BVerfGE, 38 |
NJW 1965, 1323 |
DRiZ 1965, 237 |