Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Vorsteuerabzug. Begriff ‚Steuerpflichtiger’. Holdinggesellschaft. Ausgaben im Zusammenhang mit einem in Form einer Sacheinlage an Tochtergesellschaften erbrachten Gesellschafterbeitrag. Keine Teilhabe der Ausgaben an den allgemeinen Aufwendungen. Überwiegend steuerfreie Tätigkeiten der Tochtergesellschaften
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 168 Buchst. a; EGRL 112/2006 Art. 168 Buchst. a
Beteiligte
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit deren Art. 167
ist dahin auszulegen, dass
einer Holdinggesellschaft, die steuerpflichtige Ausgangsumsätze an Tochtergesellschaften ausführt, das Recht auf Vorsteuerabzug für Leistungen, die sie von Dritten bezieht und gegen die Gewährung einer Beteiligung am allgemeinen Gewinn in die Tochtergesellschaften einlegt, nicht zusteht, wenn erstens die bezogenen Eingangsleistungen nicht in direktem und unmittelbarem Zusammenhang mit den eigenen Umsätzen der Holdinggesellschaft, sondern mit den weitgehend steuerfreien Tätigkeiten der Tochtergesellschaften stehen, zweitens diese Eingangsleistungen in den Preis der an die Tochtergesellschaften erbrachten steuerpflichtigen Umsätze keinen Eingang finden und drittens diese Leistungen nicht zu den allgemeinen Kostenelementen der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit der Holdinggesellschaft gehören.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 23. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Februar 2021, in dem Verfahren
Finanzamt R
gegen
W GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Passer, der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) und des Richters N. Wahl,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der W GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte M. Dietrich und N. Penner,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und P.-L. Krüger als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Pethke und V. Uher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. März 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 167 und Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt R (Deutschland) und der W GmbH über den dieser Gesellschaft versagten Vorsteuerabzug für Leistungen, die es ihr ermöglicht haben, als Gesellschafterbeiträge Leistungen an ihre Tochtergesellschaften zu erbringen, die ihrerseits überwiegend mehrwertsteuerfrei Leistungen erbringen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…”
Rz. 4
Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Rz. 5
In Art. 167 der Richtlinie heißt es:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”
Rz. 6
Art. 168 der Richtlinie bestimmt:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…”
Deutsches Recht
Rz. 7
§ 2 des Umsatzsteuergesetzes vom 21. Februar 2005 (BGBl. 2005 I S. 386) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: UStG) lautet:
„(1) Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Das Unternehmen umfasst die gesamte gewerbliche oder beruflich...