Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Ausschlussfrist für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts, Versagung des Vorsteuerabzugs auf innermeinschaftliche Erwerbe, bulgarisches Mehrwertsteuerrecht
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 179 Abs. 1 und die Art. 180 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer Ausschlussfrist für die Geltendmachung des Rechts auf Vorsteuerabzug wie derjenigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht entgegenstehen, sofern diese Frist die Ausübung des genannten Rechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert. Letzteres zu beurteilen, ist Sache des nationalen Gerichts, das dabei u. a. die spätere erhebliche Verlängerung der Ausschlussfrist und die Dauer eines Mehrwertsteuerregistrierungsverfahrens berücksichtigen kann, das zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug innerhalb derselben Frist durchzuführen ist.
2. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität steht einer Sanktion entgegen, die darin besteht, bei einer verspäteten Entrichtung der Mehrwertsteuer das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, nicht hingegen einem Säumniszuschlag, sofern diese Sanktion den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 179 Abs. 1, Art. 180, 273
Beteiligte
EMS-Bulgaria Transport OOD |
Direktor na Direktsia Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto Plovdiv |
Verfahrensgang
Varhoven administrativen sad (Bulgarien) (Urteil vom 25.05.2011; ABl. EU 2011, Nr. C 238/12) |
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Recht auf Vorsteuerabzug ‐ Ausschlussfrist für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug ‐ Effektivitätsgrundsatz ‐ Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug ‐ Grundsatz der steuerlichen Neutralität“
In der Rechtssache C-284/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 25. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2011, in dem Verfahren
EMS-Bulgaria Transport OOD
gegen
Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ Plovdiv
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) sowie der Richter U. Lõhmus, A. Ó Caoimh, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. März 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der EMS-Bulgaria Transport OOD, vertreten durch N. Nikolov, advokat,
‐ des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ Plovdiv, vertreten durch E. Raycheva und G. Arnaudov als Bevollmächtigte,
‐ der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Ivanov und E. Petranova als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und D. Roussanov als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 179, 180 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie der Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen einer Klage, die die EMS-Bulgaria Transport OOD (im Folgenden: EMS) gegen einen wegen Versagung des Vorsteuerabzugs erlassenen Steueränderungsbescheid erhoben hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 20 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
Als ‚innergemeinschaftlicher‘ Erwerb von Gegenständen gilt die Erlangung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen beweglichen körperlichen Gegenstand zu verfügen, der durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung befand, an den Erwerber versandt oder befördert wird.“
Rz. 4
Art. 68 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Der Steuertatbestand tritt zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen bewirkt wird.
Der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen gilt als zu dem Zeitpunkt bewirkt, zu dem die Lieferung gleichartiger Gegenstände innerhalb des Mitgliedstaats als bewirkt gilt.“
Rz. 5
Art. 69 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„(1) Beim innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen tritt der Steueranspruch am 15. Tag des Monats ein, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand eingetreten ist.
(2) Abweichend von Absatz 1 tritt der Steueranspruch bei der Ausstellung der Rechnung gemäß Artikel 220 ein, wenn diese Rechnung vor dem 15. Tag des Monats ausgestellt worden ist, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand eingetreten ist.“
Rz. 6
Art. 167 der Mehrwerts...