Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Rechnung von einem als inaktiv erklärten Steuerpflichtigen, Verhältnismäßigkeit, Rechnungsaussteller als nicht registrierter Unternehmer
Leitsatz (amtlich)
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, nach denen einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung verwehrt wird, dass der Wirtschaftsteilnehmer ‐ der ihm gegenüber gegen eine Rechnung, auf der Kosten und Mehrwertsteuer ausgewiesen sind, eine Dienstleistung erbracht hat ‐ von der Steuerbehörde eines Mitgliedstaats für inaktiv erklärt wurde, wobei diese Erklärung der Inaktivität öffentlich und im Internet für jeden Steuerpflichtigen dieses Staates zugänglich ist, dann entgegensteht, wenn die Verweigerung des Vorsteuerabzugsrechts systematisch und endgültig erfolgt und auch nicht die Erbringung des Nachweises zulässt, dass keine Steuerhinterziehung bzw. kein Steuerausfall vorliegt.
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Administratia Judeteana a Finantelor Publice Bistrita Nasaud |
Directia Regionala a Finantelor Publice Cluj Napoca |
Verfahrensgang
Curtea de Apel Cluj (Rumänien) (Beschluss vom 21.01.2016; Abl.EU 2016, Nr. C 175/9) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerrecht ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Recht auf Vorsteuerabzug ‐ Bedingungen für die Ausübung ‐ Art. 273 ‐ Nationale Maßnahmen ‐ Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung ‐ Von einem von der Steuerbehörde für ‚inaktiv‘ erklärten Steuerpflichtigen ausgestellte Rechnung ‐ Gefahr der Steuerhinterziehung ‐ Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug ‐ Verhältnismäßigkeit ‐ Ablehnung der Berücksichtigung von Nachweisen für das Nichtvorliegen einer Steuerhinterziehung oder eines Steuerverlusts ‐ Keine Begrenzung der zeitlichen Wirkungen des zu erlassenden Urteils“
In der Rechtssache C-101/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Cluj (Berufungsgericht Cluj, Rumänien) mit Entscheidung vom 21. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Februar 2016, in dem Verfahren
SC Paper Consult SRL
gegen
Direcţia Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca,Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Bistriţa-Năsăud
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Rosas (Berichterstatter), der Richterinnen C. Toader und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Januar 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der SC Paper Consult SRL, vertreten durch A. Bora, avocat,
‐ der rumänischen Regierung, vertreten durch R. H. Radu, M. Bejenar und E. Gane als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Owsiany-Hornung und G.-D. Balan als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 31. Mai 2017
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der SC Paper Consult SRL (im Folgenden: Paper Consult) auf der einen sowie der Direcţia Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca (Regionaldirektion für öffentliche Finanzen Cluj-Napoca, Rumänien) und der Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Bistriţa-Năsăud (Amt für öffentliche Finanzen Bistriţa-Năsăud, Rumänien) auf der anderen Seite. Paper Consult wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem ihr das Recht auf Abzug der Vorsteuer, die sie für Leistungen der SC Rom Packaging SPRL (im Folgenden: Rom Packaging) entrichtet hatte, mit der Begründung versagt wurde, dass diese zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zur „inaktiven“ Steuerpflichtigen erklärt gewesen sei.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2006/112
Rz. 3
Der 59. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Es ist in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen angebracht, dass die Mitgliedstaaten von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen ergreifen oder weiter anwenden können, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder bestimmte Formen der Steuerhinterziehung oder -umgehung zu verhüten.“
Rz. 4
Titel I („Zielsetzung und Anwendungsbereich“) Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die v...