Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung, Ausfuhrlieferung, Frist zum Verlassen des Zollgebiets der EU
Leitsatz (amtlich)
Art. 146 Abs. 1 und Art. 131 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der im Rahmen einer Ausfuhrlieferung die für die Ausfuhr nach Orten außerhalb der Europäischen Union bestimmten Gegenstände das Hoheitsgebiet der Europäischen Union innerhalb einer starren Frist von 90 Tagen nach der Lieferung verlassen haben müssen, entgegenstehen, sofern dem Steuerpflichtigen allein durch die Überschreitung dieser Frist die Steuerbefreiung der Lieferung endgültig verwehrt ist.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 146 Abs. 1, Art. 131
Beteiligte
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Közép-magyarországi Regionális Adó Foigazgatósága |
Verfahrensgang
Kúria (Ungarn) (Urteil vom 18.10.2012; ABl. EU 2013, Nr. C 114/22) |
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 146 ‐ Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr ‐ Art. 131 ‐ Von den Mitgliedstaaten festgelegte Bedingungen ‐ Nationale Rechtsvorschriften, nach denen ein für die Ausfuhr bestimmter Gegenstand das Zollgebiet der Europäischen Union innerhalb einer starren Frist von 90 Tagen nach der Lieferung verlassen haben muss“
In der Rechtssache C-563/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Kúria (Ungarn) mit Entscheidung vom 18. Oktober 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Dezember 2012, in dem Verfahren
BDV Hungary Trading Kft., in Liquidation,
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Közép-magyarországi Regionális Adó Főigazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas, D. Šváby und C. Vajda,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Oktober 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der BDV Hungary Trading Kft., in Liquidation, vertreten durch Á. Gerey und D. Sobor, ügyvédek,
‐ der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Közép-magyarországi Regionális Adó Főigazgatósága, vertreten durch Z. Szilveszter und Z. Tamásné Kajati, jogtanácsos,
‐ der ungarischen Regierung, vertreten durch K. Szíjjártó, M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
‐ der griechischen Regierung, vertreten durch I. Pouli und M. Tassopoulou als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios, V. Bottka und A. Sipos als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der Fassung der Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 (ABl. L 376, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie der Art. 131, 146 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der BDV Hungary Trading Kft. (im Folgenden: BDV), die sich im Verfahren der freiwilligen Liquidation befindet, und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Közép-magyarországi Regionális Adó Főigazgatósága (Nationale Steuer- und Zollverwaltung ‐ Regionale Finanzdirektion für Mittelungarn) über die Mehrwertsteuerbefreiung der Lieferung von Gegenständen, die nach Orten außerhalb der Europäischen Union versandt oder befördert worden sind.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 15 Nrn. 1 und 2 der Sechsten Richtlinie lautet:
„Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
1. Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden;
2. Lieferungen von Gegenständen, die durch den nicht im Inland ansässigen Abnehmer oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden, mit Ausnahme der vom Abnehmer selbst beförderten Gegenstände zur Ausrüstung oder Versorgung von Sportbooten und Sportflugzeugen sowie von sonstigen Beförderungsmitteln, die privaten Zwecken dienen;
…“
Rz. 4
Die Richtlinie 2006/112 hat gemäß ihren Art. 411 und 413 die Mehrwertsteuervorschriften der Union, insbesondere die Sechste Richtlinie, mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und ersetzt. Nach dem ersten und dem ...