Entscheidungsstichwort (Thema)
Stille Reserven, Überführung von Wirtschaftsgütern, Ausländische Betriebsstätte, Theorie der finalen Entnahme, Fremdvergleichspreis
Leitsatz (amtlich)
Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht entgegensteht, die im Fall der Überführung von Wirtschaftsgütern einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft in eine Betriebsstätte dieser Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat vorsieht, dass die mit diesen Wirtschaftsgütern verbundenen, in diesem ersten Mitgliedstaat gebildeten stillen Reserven aufgedeckt und besteuert werden und die Steuer auf diese stillen Reserven auf zehn Jahre gestaffelt erhoben wird.
Normenkette
AEUV Art. 49
Beteiligte
Verder LabTec GmbH & Co. KG |
Verfahrensgang
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerrecht ‐ Niederlassungsfreiheit ‐ Art. 49 AEUV ‐ Beschränkungen ‐ Gestaffelte Erhebung der Steuer auf die stillen Reserven ‐ Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten ‐ Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C-657/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Düsseldorf (Deutschland) mit Entscheidung vom 5. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Dezember 2013, in dem Verfahren
Verder LabTec GmbH & Co. KG
gegen
Finanzamt Hilden
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Verder LabTec GmbH & Co. KG, vertreten durch O. Kress, Steuerberater,
‐ des Finanzamts Hilden, vertreten durch U. Franz als Bevollmächtigten,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
‐ der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.-C. Halleux als Bevollmächtigte,
‐ der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning und M. S. Wolff als Bevollmächtigte,
‐ der spanischen Regierung, vertreten durch L. Banciella Rodríguez-Miñón als Bevollmächtigten,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
‐ der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer und M. Bulterman als Bevollmächtigte,
‐ der schwedischen Regierung, vertreten durch U. Persson und A. Falk als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Cordewener und W. Roels als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Februar 2015
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Verder LabTec GmbH & Co. KG mit Sitz in Deutschland (im Folgenden: Verder LabTec) und dem Finanzamt Hilden (im Folgenden: Finanzamt) wegen der Besteuerung der mit den Wirtschaftsgütern dieser Gesellschaft verbundenen stillen Reserven anlässlich der Überführung dieser Wirtschaftsgüter in ihre Betriebsstätte in den Niederlanden.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die deutsche Regelung im Bereich der Besteuerung von stillen Reserven im Zusammenhang mit den Wirtschaftsgütern einer Gesellschaft mit Sitz in Deutschland, die in eine im Ausland belegene Betriebsstätte dieser Gesellschaft überführt werden, zunächst auf der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs beruhte.
Rz. 4
Mit Urteil vom 16. Juli 1969 hatte der Bundesfinanzhof die „Theorie der finalen Entnahme“ begründet. Aus der Vorlageentscheidung geht im Wesentlichen hervor, dass Ausgangspunkt dieser Theorie der Grundsatz war, dass die Bundesrepublik Deutschland als Sitzstaat einer Gesellschaft das Recht zur Besteuerung der innerhalb Deutschlands aufgebauten stillen Reserven im Zusammenhang mit einem Wirtschaftsgut dieser Gesellschaft nach dessen Überführung in eine in einem anderen Staat belegene Betriebsstätte verliert, wenn die Bundesrepublik Deutschland nach dem Doppelbesteuerungsabkommen mit dem Staat, in dem die Betriebsstätte belegen ist, die Gewinne dieser Betriebsstätte freistellen muss. Die Überführung von Wirtschaftsgütern einer Gesellschaft mit Sitz in Deutschland in eine Betriebsstätte, die in einem anderen Staat belegen ist, wurde daher als eine mit dem sogenannten „Teilwert“ zu bewertende Entnahme im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (im Folgenden: EStG) angesehen.
Rz. 5
Diese Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs führte dazu, dass für das Wirtschaftsgut, das als aus dem Betriebsvermögen der Gesellschaft mit Sitz in Deutschland entnommen betrachtet wurde, eine besondere Wertermittlung für den Zeitpunkt dieser Entnahme durc...