Entscheidungsstichwort (Thema)
Behandlung als Organgesellschaft im Billigkeitswege. Übergangsregelung bei Verschärfung der Rechtsprechung. Bindungswirkung ermessenslenkender Verwaltungsanweisungen im Gerichtsverfahren
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein gewissenhafter Steuerpflichtiger durfte bei Bestehen einer unmittelbaren und mit 50 % nicht unwesentlichen Beteiligung der Organträgerkapitalgesellschaft an der Organgesellschaft davon ausgehen, dass die finanzielle Eingliederung als Voraussetzung einer umsatzsteuerliche Organschaft vorliegt. Die Organschaft ist daher nach der Übergangsregelung des BMF-Schreibens vom 5. Juli 2011 (IV D 2-S 7105/10/10001, BStBl I 2011, 703) noch bis einschließlich 31. Dezember 2011 anzuerkennen.
2. Für den Fall einer rückwirkenden verschärfenden Änderung der Rechtsprechung ist es Sache der obersten Verwaltungsbehörden, auf der Grundlage der §§ 163, 227 AO unbillige Auswirkungen unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes durch Übergangsregelungen zu vermeiden, die auch von den Steuergerichten grundsätzlich zu beachten sind.
3. Hat die Verwaltung in Ausfüllung des ihr zustehenden Ermessensspielraums Richtlinien erlassen, so haben die Gerichte grundsätzlich nur zu prüfen, ob sich die Behörden an die Richtlinien gehalten haben und ob die Richtlinien selbst einer sachgerechten Ermessensausübung entsprechen.
Normenkette
AO §§ 5, 163 Abs. 1 S. 1, § 227; UStG § 2 Abs. 2 Nr. 2; FGO § 102
Nachgehend
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 29. Oktober 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. April 2016 verpflichtet, gegenüber der Klägerin für die Jahre 2008 bis 2010 keine Umsatzsteuer festzusetzen.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
4. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner kann der Vollstreckung widersprechen, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung in Höhe des durch Kostenfestsetzungsbeschluss festgesetzten Erstattungsbetrags Sicherheit leistet. Ist durch Kostenfestsetzungsbeschluss ein Erstattungsbetrag von insgesamt mehr als 1.500 Euro festgesetzt, hat der Gläubiger in Höhe des durch Kostenfestsetzungsbeschluss insgesamt festgesetzten Erstattungsbetrags Sicherheit zu leisten.
5. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob eine GmbH im Billigkeitswege –für die Kalenderjahre 2008 bis 2010– so zu behandeln ist, als wäre sie im Rahmen einer Organschaft i. S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in das Unternehmen einer anderen GmbH eingegliedert.
Die Klägerin wurde als Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) im Jahr 1991 von den –zwischenzeitlich geschiedenen– Eheleuten A und B C (nachfolgend: Eheleute oder Ehemann bzw. Ehefrau) errichtet. Gegenstand des Unternehmens ist die Belieferung von Alten- und Pflegeheimen mit Lebensmitteln, Hausverbrauchs- und Heimbedarfsgütern sowie aller damit verbundenen Dienstleistungen. Die Klägerin führte ihre Umsätze ausschließlich an ein Alten- und Pflegeheim aus, das der Ehemann zunächst als Einzelunternehmer betrieb. Der Betrieb des Alten- und Pflegeheims wird seit dem Jahr 2005 von der H GmbH (im folgenden H-GmbH) geführt. An dieser waren die Eheleute bis Ende 2010 je hälftig beteiligt (vgl. Gründungsvertrag vom 5. August 2005). Ebenfalls im Jahr 2005 veräußerten die Eheleute der H-GmbH je 25 % ihrer Geschäftsanteile an der Klägerin. Damit waren an der Klägerin die Eheleuten mit je 25 % und die H-GmbH zu 50 % beteiligt. Die Klägerin und die H-GmbH schlossen am 9. Dezember 2005 einen Bewirtschaftungsvertrag ab. Seither erbringt die Klägerin ihre Leistungen – wiederum ausschließlich– gegenüber der H-GmbH. Alleiniger Geschäftsführer der Klägerin und der H-GmbH ist der Ehemann.
Das beklagte Finanzamt (FA) behandelte die Klägerin umsatzsteuerlich erst als Organ des Einzelunternehmens des Ehemannes (bis 2005), dann der H-GmbH (ab 2006). Zwar hatte eine Außenprüfung bei der Klägerin für die Jahre 2006 bis 2007 beanstandet, dass zwischen der Klägerin (Organgesellschaft) und der H-GmbH (Organträger) keine umsatzsteuerliche Organschaft mehr bestehe, weil die H-GmbH nur zu 50 % an der Klägerin beteiligt sei und es daher an einer finanziellen Eingliederung fehle (vgl. Bericht über die Außenprüfung vom 20. Dezember 2010 für die Jahre 2005 bis 2007). Den Einsprüchen der Klägerin gegen die entsprechend geänderten Umsatzsteuerbescheide 2006 und 2007 half das FA aber ab, weil nach der Übergangsregelung des Bundesfinanzministeriums (BMF) im Schreiben vom 5. Juli 2011 (IV D 2-S 7105/10/10001, BStBl I 2011, 703) die Organschaft noch bis einschließlich 31. Dezember 2011 anzuerkennen sei (Bl. 40 d. Rechtsbehelfsakte).
Für die Streitjahre 2008 bis 2010 kam das FA auf der Grundlage desselben BMF-Schreibens zu dem Ergebnis, dass die darin getroffene Übergangsregelung i...