Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendung des § 68 FGO bei Änderung des angefochtenen Haftungsbescheids während des Klageverfahrens. Gewährung rechtlichen Gehörs vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts. Nachholung im Klageverfahren nicht durch das Gericht, sondern allenfalls durch die Behörde
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Voraussetzungen des § 68 FGO sind gegeben, wenn der mit der Klage angefochtene Verwaltungsakt partiell oder seinem ganzen Inhalt nach durch Erlass eines anderen Verwaltungsakts geändert oder aus formellen Gründen aufgehoben und durch einen anderen Verwaltungsakt ersetzt wird. Ausreichend hierfür ist, wenn beide Bescheide „dieselbe Steuersache”, d. h. dieselben Beteiligten und denselben Besteuerungsgegenstand betreffen, so dass die beiden Verwaltungsakte lediglich einen (zumindest teilweise) identischen Regelungsbereich haben müssen, damit es zu einem Austausch des Verfahrensgegenstands kommen kann.
2. § 68 S. 1 FGO ist bei Ermessensverwaltungsakten ohne Einschränkungen anzuwenden.
3. Ist der Gegenstand eines Haftungsbescheids, mit dem der Haftungsschuldner für eine Jahressteuerschuld des Steuerschuldners in Anspruch genommen werden soll, stets der gesamte zum 31.12. des Kalenderjahrs entstandene Steueranspruch und nicht ein Teilanspruch, so kann der zumindest teilidentische Regelungsbereich zwischen ursprünglicher und geänderter Haftungsfestsetzung nicht damit in Abrede gestellt werden, dass der für den gleichen Besteuerungszeitraum erlassene weitere Haftungsbescheid durch einen weiteren gesonderten Haftungstatbestand begründet wird.
4. Die Sollvorschrift des § 91 Abs. 1 S. 1 AO verpflichtet zur Anhörung vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts im Regelfall, so dass hiervon nur in atypischen Fallkonstellationen abgewichen werden kann. Solche müssen den in § 91 Abs. 2 AO aufgezählten Sachverhaltsgestaltungen vergleichbar sein.
5. Wenn und soweit die nachträgliche Anhörung zu einer bereits getroffenen Ermessensentscheidung auch noch während des gerichtlichen Verfahrens zulässig sein sollte, hätte diese jedenfalls nicht durch das Gericht, sondern durch die Behörde selbst zu erfolgen.
Normenkette
AO §§ 191, 91 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, §§ 5, 126 Abs. 2; FGO § 68 S. 1
Tenor
Der Haftungsbescheid vom 3. Juli 2002 (betreffend der Haftung für Umsatzsteuerforderungen) in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. Dezember 2003 und des Änderungsbescheides vom 22. September 2010 (sowie der im Termin der mündlichen Verhandlung vom 20. Januar 2011 erklärten Änderungen) wird insoweit aufgehoben, als hiermit über den vom Kläger anerkannten Betrag in Höhe von … EUR hinaus eine Haftungsschuld festgesetzt wurde.
Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen den Bescheid des Beklagten vom 3. Juli 2002 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. Dezember 2003 und des Änderungsbescheides vom 22. September 2010, mit dem er als Haftender für Umsatzsteuerschulden der … GmbH (nachfolgend: GmbH) in Anspruch genommen wird. Soweit er mit dem Ausgangsbescheid vom 3. Juli 2002 zunächst auch für Körperschaftssteuerschulden in Anspruch genommen wurde, wurde das Klageverfahren unter dem Aktenzeichen X im Jahre 2010 abgeschlossen. Durch den Beschluss des Senats vom 15. April 2010 war das vorliegende Verfahren vom Klageverfahren X abgetrennt worden, soweit sich der Kläger gegen die Haftung für Umsatzsteuerschulden wendet.
Der Kläger war seit dem … 1992 Geschäftsführer der Steuerschuldnerin, über deren Vermögen am … April 2001 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt worden war. In der Folge konnte im Insolvenzverfahren der Verbleib der Geschäftsunterlagen der Steuerschuldnerin, die nach Angaben des Klägers mit der Räumung der Büroräume der GmbH bei einer Spedition zunächst eingelagert und später vernichtet worden sein sollen, nicht geklärt werden. Mit Beschluss vom … August 2001 bestellte das Amtsgericht B Rechtsanwalt C zum vorläufigen Insolvenzverwalter. In dem unter dem … Dezember 2001 erstellten Insolvenzgutachten wird im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Die Gemeinschuldnerin verfüge über keine technische Betriebsausstattung und kein Umlaufvermögen. Der Geschäftsbetrieb der Gemeinschuldnerin sei seit längerem stillgelegt, die ihr zustehenden Forderungen hätten in Ermangelung von Geschäftsunterlagen nicht aufgeklärt werden können. Das als freie Masse auf dem Verwalterkonto zur Verfügung stehende Guthaben wurde mit … DM angegeben (im Wesentlichen Mietzahlungen durch das Amt …). Verbindlichkeiten würden in Höhe von … DM bestehen. Der Betrag wird im Einzelnen durch ein beigefügtes Gläubigerverzeichnis aufgeschlüsselt. Zu den Einzelbeträgen wird auf Blatt 115 ff der Insolvenzakte verwiesen. Mit Beschluss vom … Dezember 2...