Entscheidungsstichwort (Thema)
§ 77 EStG auch bei einem erfolgreichen Einspruch gegen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen wegen unberechtigt erhaltener Kindergeldzahlungen (analog) anwendbar
Leitsatz (redaktionell)
1. § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG, wonach die Familienkasse bei einem erfolgreichen Einspruch gegen die „Kindergeldfestsetzung” dem Einspruchsführer die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten hat, ist auch bei einem erfolgreichen Einspruch gegen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen wegen unberechtigt erhaltener Kindergeldzahlungen (analog) anwendbar.
2. § 77 EStG enthält eine Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit, soweit sie dem Wortlaut nach eine Kostenerstattung nur für Einspruchsverfahren wegen Kindergeldfestsetzungen vorsieht. Diese Regelungslücke ist durch eine analoge Anwendung des § 77 EStG zu schließen. Das ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des § 77 EStG (Anschluss an BFH, Urteil v. 26.6.2014, III R 39/12, BStBl 2015 II S. 148).
Normenkette
EStG § 77 Abs. 1 S. 1; AO § 235 Abs. 1
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Kostenentscheidung vom … und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom … verpflichtet, der Klägerin die für die Durchführung des Einspruchsverfahrens gegen den Hinterziehungszinsbescheid der Beklagten vom … entstandenen notwendigen Aufwendungen zu erstatten.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i. H. von 110 v. H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, falls nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i. H. von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung nach § 77 Einkommensteuergesetz (EStG).
Mit Bescheid vom … setzte die Beklagte gegenüber der Klägerin Hinterziehungszinsen in Höhe von … Euro fest. Diese Festsetzung begründete sie damit, dass Kindergeld in Höhe von … Euro zu Unrecht gezahlt worden sei. Dabei handele es sich rechtlich gesehen um Steuerhinterziehung.
Auf den Einspruch der Klägerin hin hob die Beklagte den Bescheid vom … mit Bescheid vom … auf. In diesem Bescheid wurde entschieden, dass die im Einspruchsverfahren entstandenen Kosten der Klägerin nicht zu erstatten seien. Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sei eine Kostenerstattung ausschließlich in Einspruchsverfahren vorgesehen, welche sich gegen die Aufhebung oder Ablehnung einer Kindergeldfestsetzung durch die Familienkasse gerichtet haben.
Den gegen die Kostenentscheidung eingelegten Einspruch vom … wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom … als unbegründet zurück.
Mit dem erfolgreich angefochtenen Bescheid vom … seien lediglich Hinterziehungszinsen gemäß § 235 Abgabenordnung (AO) festgesetzt worden. Mit dem Abhilfebescheid vom … sei diese Festsetzung geändert worden. Eine Änderung einer Kindergeldfestsetzung sei nicht erfolgt. Die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG lägen deshalb nicht vor.
Am 23.11.2020 hat die Klägerin Klage erhoben.
Sie macht geltend, die Kosten des Vorverfahrens seien zu erstatten, weil die Beklagte Hinterziehungszinsen wegen fehlerhafter Kindergeldfestsetzung geltend gemacht habe. Damit liege dem Grunde nach ein Streit über Kindergeld vor. Die Kostenerstattung komme auch für Fälle in Betracht, die in § 77 EStG nicht ausdrücklich geregelt seien. Hintergrund sei der erkennbare Wille des Gesetzgebers, dass Kosten jedenfalls in den Fällen zu erstatten seien, denen Streitigkeiten um die Kindergeldfestsetzung zugrunde lägen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung der Kostengrundentscheidung des Abhilfebescheides vom … in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom … zur Erstattung der Kosten des Vorverfahrens zu verpflichten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Dem Wortlaut des § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG nach komme eine Kostenerstattung nur in Betracht, soweit ein Einspruch gegen eine Kindergeldfestsetzung erfolgreich sei.
Zwar habe der Bundesfinanzhof (BFH) bereits für einige andere Konstellationen entschieden, dass diese Regelung analog auch auf andere Fälle im Zusammenhang mit Streitigkeiten über Kindergeld Anwendung finde. Im Streitfall habe es sich aber um ein Einspruchsverfahren wegen der Festsetzung von Hinterziehungszinsen gehandelt. Die Hinterziehungszinsen gehörten weder zum Kindergeldfestsetzungsverfahren noch zum Erhebungsverfahren.
Der dem erfolgreich angefochtenen Bescheid zugrundeliegende Hinterziehungsvorwurf habe zwar Kindergeld betroffen. Für diese Fallgestaltung gäbe es, anders als für einige andere Konstellationen, jedoch keine (höchst-)richterliche Rechtsprechung über eine analoge Anwendbarkeit von § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG.
Aussetzungs- und Hinterziehungszinsen gäbe es im Sozialrecht n...