Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld: Billigkeitserlass der Rückforderung wegen Anrechnung auf SGB II-Leistungen, Verletzung der Mitwirkungspflicht, Bestandskraft eines fehlerhaften Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids
Leitsatz (redaktionell)
- Die Familienkasse ist nicht aus sachlichen Billigkeitsgründen zum Erlass der Rückforderung von Kindergeld wegen dessen Anrechnung auf SGB-II Leistungen verpflichtet, wenn aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht des Kindergeldberechtigten (Vorlage einer Schulbescheinigung) ein materiell-rechtlich fehlerhafter Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid ergangen und mangels Anfechtung bestandskräftig geworden ist, obwohl es dem Kindergeldberechtigten möglich und zumutbar gewesen wäre, hiergegen rechtzeitig Einspruch einzulegen.
- Auch ein Erlass der Kindergeldrückforderung aus persönlichen Billigkeitsgründen kommt wegen fehlender Erlassbedürftigkeit nicht in Betracht, wenn der Kindergeldberechtigte in wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, die wegen der Pfändungsfreigrenzen des § 850 c ZPO derzeit eine Durchsetzung der in Frage stehenden Ansprüche ausschließen.
Normenkette
AO § 227 Abs. 1; FGO § 102; EStG § 68 Abs. 1; ZPO § 850 c
Tatbestand
Die Klägerin bezog Kindergeld u. a. für ihren Sohn (A), geboren am 1.08.1994. Der Sohn besuchte – ausweislich einer Schulbescheinigung vom 22.05.2012 - die Städt. Gemeinschaftshauptschule X , voraussichtlich bis Juli 2014. Daraufhin setzte die Familienkasse für A weiterhin Kindergeld fest (Bescheid vom 30.05.2012). Im Sommer 2014 bat die zuständig gewordene Beklagte (im Folgenden: Familienkasse) die Klägerin um Vorlage einer Schulbescheinigung/ Nachweis der Beendigung der Schulausbildung.
Nachdem die Klägerin trotz mehrerer Aufforderungen der Familienkasse und entgegen eigener Ankündigung keine entsprechende Schulbescheinigung vorgelegt hatte, hob die Familienkasse schließlich die Kindergeldfestsetzung gegenüber der Klägerin für A rückwirkend ab August 2012 auf und forderte für August 2012 bis einschließlich Juli 2014 gezahltes (anteiliges) Kindergeld in Höhe von 5.160 € zurück (Bescheid vom 11.11.2014).
Am 16.03.2015 und am 18.03.2015 wurden bei der Familienkasse Schulbescheinigungen eingereicht, wonach A vom 9.11.2009 bis 19.07.2013 und erneut vom 18.11.2013 bis 23.06.2014 die Städt. Gemeinschaftshauptschule X besucht und zwischenzeitlich von September bis November 2013 beim Zentrum für berufliche Qualifikation teilgenommen hatte. Mit Schreiben vom 20.04.2015 wandte sich die Klägerin gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 11.11.2014 und trug vor, der Bescheid sei aus dem Briefkasten verschwunden, man habe ihn erst nach langer Zeit zu Gesicht bekommen, und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Mit Einspruchsentscheidung vom 26.05.2015 versagte die Familienkasse die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verwarf den Einspruch wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig. Die Entscheidung ist bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 2.07.2015 beantragte die Klägerin, fachkundig vertreten, den Erlass der Kindergeld-Rückforderung aus Billigkeitsgründen. Sie trug vor, sie sei wirtschaftlich nicht in der Lage, den Betrag zu begleichen. Sie habe für den gesamten Zeitraum unter Anrechnung des erhaltenen Kindergelds Leistungen nach dem SGB II von der Sozialagentur bezogen und beziehe diese weiterhin. Darüber hinaus habe der Sohn A in dem streitigen Zeitraum tatsächlich durchgehend einen Kindergeldtatbestand verwirklicht (vgl. die vorgelegten Schulbescheinigungen).
Die zuständige Familienkasse (Inkasso-Service) lehnte den Erlassantrag ab (Bescheid vom 2.11.2015). Sie führte aus, bei der Entscheidung über einen Billigkeitserlass sei auch das Verhalten des Kindergeldberechtigten zu berücksichtigen. Nach den vorliegenden Erkenntnissen beruhe die entstandene Überzahlung auf einer Verletzung der Mitwirkungspflicht. Die weitere Einziehung der Forderung sei somit nicht unbillig, ein Erlass der Forderung komme nicht in Betracht.
Den hiergegen ohne weitere Begründung erhobenen Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 8.01.2016 als unbegründet zurück. Sie führte aus, sachliche Unbilligkeit liege vor, wenn die Einziehung der Forderung dem Zweck der anspruchsbegründenden Regelung widerspreche, mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen unvereinbar sei. Der Erlass der Forderung komme daher insbesondere in Betracht, wenn die Einziehung den Geboten der Gleichheit und des Vertrauensschutzes, den Grundsätzen von Treu und Glauben oder dem Erfordernis der Zumutbarkeit widerspreche. Nachteile, die in der Norm selbst begründet seien, rechtfertigten dagegen grundsätzlich nicht die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit. Ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen könne gerechtfertigt sein, wenn bei der Berechnung der Höhe des Arbeitslosengeldes II als Einkommen Kindergeld angesetzt worden sei, bei einer Rückforderung des Kindergeldes eine nachträgliche Korrektur der Leis...