Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch eines polnischen Staatsbürgers – Unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG – Anrechnung des polnischen Kindergelds
Leitsatz (redaktionell)
- Eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG kann nur für die Monatszeiträume eine Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 b EStG begründen, in denen der Steuerpflichtige die für die fiktive Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG erforderlichen inländischen Einkünfte im Sinne des § 49 EStG erzielt.
- Ein unbeschränkt steuerpflichtiger polnischer Arbeiternehmer mit Familienwohnsitz in Polen hat für die Zeiten, in denen er eine sozialversicherungspflichtige nichtselbständigen Tätigkeit im Inland ausgeübt und tatsächlich Sozialversicherungsbeiträge gezahlt hat, Anspruch auf deutsches Kindergeld.
- Nach der VO (EWG) 1408/71 unterliegt der Arbeitnehmer für diese Zeiten ungeachtet der gleichzeitigen Mitgliedschaft in der polnischen Sozialversicherung ausschließlich den Rechtsvorschriften des Staates der nichtselbständigen Beschäftigung.
- Der Kindergeldanspruch wird in diesem Fall aufgrund des Vorrangs der Regelungen der VO (EWG) 1408/71 nicht gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG durch die Gewährung von Familienleistungen in Polen ausgeschlossen.
- Der deutsche Kindergeldanspruch ist nicht um die in Polen vorgesehenen Familienleistungen zu kürzen, wenn der Anspruch im Wohnland nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängt.
- Der Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG verstößt weder gegen gemeinschaftsrechtliche noch gegen verfassungsrechtliche Vorschriften.
Normenkette
EStG § 1 Abs. 3, §§ 31, 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, § 63 Abs. 1 S. 3, § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2; VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 1 Buchst. a, Art. 2, 4 Abs. 1 Buchst. h, Art. 13 Abs. 1, 2 Buchst. a, Art. 73, 76 Abs. 1, Nr. 1408/71 Anhang I Teil I D Buchst. a, Nr. 1408/71 Anhang I Teil I E Buchst. a, Nr. 574/72 Art. 10 Abs. 1 Buchst. a, b; EG Art. 39; GG Art. 3 Abs. 1
Streitjahr(e)
2005
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Polen. In der Zeit vom 7. März bis 2. Juli 2005 und in der Zeit vom 13. März bis 12. Juli 2006 arbeitete sie in Deutschland als Saisonkraft in einer Gärtnerei. Während ihres ersten Aufenthalts leistete sie in Deutschland Beiträge zur Sozialversicherung; dagegen war sie während des zweiten Deutschlandaufenthalts in Polen sozialversichert. In der Zeit zwischen Mai 2004 bis August 2006 erhielt die Klägerin für ihre drei Kinder („K”, geb. am 26. August 1991, „L”, geb. am 24. Juli 1995, und „J”, geb. am 3. September 2003) in Polen Familienleistungen. In den Jahren 2005 und 2006 wurde sie in Deutschland zur Einkommensteuer veranlagt.
Mit Bescheid vom 7. Januar 2008 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld für ihre drei Kinder während des Zeitraums der inländischen Tätigkeit ab. Zur Begründung führte sie an, dass der Klägerin Leistungen in Polen zuständen, die dem Kindergeld vergleichbar seien, und verwies auf die Konkurrenzregelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes – EStG –. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 19. März 2008 als unbegründet zurück.
Mit der Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Nach den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen bestehe ihr inländischer Kindergeldanspruch in voller Höhe; ein etwaiger Anspruch auf polnische Leistungen ruhe insoweit. Wenn § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG hier im Hinblick auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts überhaupt zur Anwendung gelange, sei jedenfalls zu berücksichtigen, dass diese Regelung nicht gemeinschaftsrechtskonform sei. Der Bundesfinanzhof – BFH – habe die Frage erneut dem Europäischen Gerichtshof – EuGH – vorgelegt, so dass die vom BFH erwogene analoge Anwendung von § 65 Abs. 2 EStG ggf. möglich werde. Zudem habe der BFH die allein national zu klärende Rechtsfrage zu beantworten, welche Wirkungen eine antragsgemäße Veranlagung gemäß § 1 Abs. 3 EStG in zeitlicher Hinsicht betreffend § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) i.V.m. § 66 Abs. 2 EStG habe.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 7. Januar 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. März 2008 zu verpflichten, Kindergeld für die Kinder „K”, „L” und „J” in Höhe von 4.620 EUR zu gewähren (März bis Juli 2005 und März bis Juli 2006).
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte wendet ein, die Klägerin habe nicht nachgewiesen, in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig gewesen zu sein. Ungeachtet dessen sei der Kindergeldanspruch jedenfalls nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Die Klägerin habe im gesamten streitigen Zeitraum polnische Familienleistungen erhalten bzw. zumindest einen entsprechenden Anspruch gehabt.
Hinsichtlich der Einzelheiten zum Sac...