Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 1
Aufrechnung ist die wechselseitige Tilgung zweier sich gegenüberstehender Forderungen durch einseitige empfangsbedürftige Erklärung. An der Aufrechnung sind immer (mindestens) zwei Forderungen beteiligt, und zwar die Forderung des Aufrechnenden gegen den Aufrechnungsgegner, mit der aufgerechnet wird ("Gegenforderung"), und die Forderung des Aufrechnungsgegners gegen den Aufrechnenden, gegen die aufgerechnet wird ("Hauptforderung"). Sie ist Erfüllungsersatz und bringt die Schuldverpflichtung zum Erlöschen. Im Gegensatz zur Erfüllung durch Zahlung, wo der Gläubiger auf die Zahlungshandlung des Schuldners angewiesen ist, kann sich der Gläubiger die Erfüllung durch eine eigene Handlung, die Aufrechnungserklärung, verschaffen. Die Aufrechnung betrifft, wie sich schon aus der systematischen Stellung des § 226 AO ergibt, den Erhebungsbereich, sodass das Steuerfestsetzungsverfahren unberührt bleibt. Dementsprechend führt die Aufrechnung nicht zur Rechtswidrigkeit des Steuerbescheids. Im Anfechtungsprozess gegen den Steuerbescheid ist die Frage der Aufrechnung nicht zu prüfen, da hier nur um die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung, nicht um die Frage eines etwaigen späteren Erlöschens der Steuerschuld gestritten wird. Die Aufrechnungserklärung ist grundsätzlich durch den Gläubiger abzugeben. Eine generelle Vollmacht ermächtigt zwar nach § 80 AO nicht zur Einziehung des Steuererstattungsanspruchs, wohl aber zu allen sonstigen Verfügungen über den Anspruch, also auch zur Erklärung der Aufrechnung.
Rz. 2
Die Zulässigkeit der Aufrechnung bestimmt sich für Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nach § 226 AO grundsätzlich nach §§ 387ff. BGB. Dies gilt sowohl bei Aufrechnung durch den Stpfl. als auch bei Aufrechnung durch die Finanzbehörde. § 226 AO gilt nicht nur für die Aufrechnung von Steueransprüchen, sondern für alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis i. S. d. §§ 3, 37 AO. § 226 AO gilt aber nicht für Geldstrafen und Geldbußen und nicht für Ansprüche, die keine Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind. Von den Vorschriften des BGB über die Aufrechnung sind jedoch folgende Bestimmungen nicht anwendbar:
- § 390 S. 2 BGB, wonach die Aufrechnung im bestimmten Umfang durch Verjährung der aufrechnenden Forderung nicht ausgeschlossen ist. Diese Bestimmung beruht darauf, dass im Zivilrecht die Forderung durch die Verjährung nicht erlischt, sondern ihr nur eine Einrede entgegensteht. Da im Steuerrecht die Verjährung der Steuerforderung jedoch zu ihrem Erlöschen führt, ist jede Aufrechnung nach Eintritt der Verjährung der Haupt- und/oder Gegenforderung ausgeschlossen. Daher schließt § 226 Abs. 2 AO die Anwendung des § 390 S. 2 BGB ausdrücklich aus.
- § 395 BGB, wonach die Aufrechnung des Stpfl. von der Kassenidentität beider Forderungen abhängig ist. Diese Vorschrift ist nicht anwendbar, da § 226 Abs. 4 AO insoweit das speziellere Gesetz ist. Die Gegenseitigkeit wird aufgrund des § 226 AO durch Ertrags- oder Verwaltungshoheit begründet. Für ein Erfordernis der Kassenidentität ist dann kein Platz, dieses Erfordernis würde auch eine Aufrechnung aufgrund der Verwaltungshoheit regelmäßig unmöglich machen.
Rz. 3
§ 226 AO gilt auch für die Tilgung von Eingangs- und Ausfuhrabgaben (Zölle, Abschöpfungen und ähnliche Abgaben) nach dem Zollkodex. Art. 109 Abs. 1 ZK hält für die Aufrechnung die Anwendung des nationalen Rechts, und damit des § 226 AO, aufrecht.
Rz. 4
Die Aufrechnung mit Ansprüchen auf Erstattung von Kindergeld durch die Familienkasse ist in § 75 EStG als lex specialis geregelt. Diese Regelung verdrängt § 226 AO. Dagegen richtet sich die Aufrechnung des Kindergeldberechtigten mit seinen Ansprüchen auf Kindergeld als Gegenforderung ausschließlich nach § 226 AO.