Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör
Orientierungssatz
1. Das verfassungsrechtliche Gebot rechtlichen Gehörs gebietet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, dass das Gericht über die Richtigkeit bestrittener Tatsachenbehauptungen nicht ohne hinreichende Prüfung entscheidet.
2. Damit wäre es nicht vereinbar, würde man es einer Partei unmöglich machen, unter zumutbaren Voraussetzungen einen Sachverhalt, für den sie nicht die Beweislast trägt, zum Gegenstand einer Beweisaufnahme zu machen.
3. Auch aus verfassungsrechtlichen Gründen ist es deshalb erforderlich, bei der Beurteilung, ob ein Bestreiten mit Nichtwissen im Zivilprozess zulässig ist, auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem sich eine Partei im Prozess erklärt, und ihr nur aufzuerlegen, sich darüber zu erklären, was sie zu diesem Zeitpunkt noch weiß oder unter zumutbaren Voraussetzungen durch Erkundigungen feststellen kann.
Normenkette
GG Art. 103; ZPO § 138 Abs. 2, 4
Verfahrensgang
LAG Hamm (Urteil vom 08.02.2007; Aktenzeichen 17 Sa 1453/06) |
ArbG Bielefeld (Urteil vom 21.06.2006; Aktenzeichen 4 (2) Ca 3970/05) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 8. Februar 2007 – 17 Sa 1453/06 – aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert wird auf 8.400,00 Euro festgesetzt.
Tatbestand
I. Der Kläger ist seit dem 1. Juli 1994 als Arbeiter bei der Beklagten, für die in der Regel mehr als 10 Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten tätig sind, beschäftigt und verrichtete zuletzt Tätigkeiten im Bereich der Wartung und Säuberung von alten Kanälen. Er war in erheblichem Umfange, nach seinem Vorbringen an vielen Tagen wegen eines Rückenleidens, arbeitsunfähig krank. Die Beklagte wies den Kläger deshalb auf Veranlassung des Betriebsarztes und des Sicherheitsingenieurs an, ein von ihr beschafftes Kanaldeckelhebegerät mit einem zweiten Hebearm zu benutzen, statt eines Kanaldeckelhakens. Im Rahmen der schriftlichen Anordnung drohte sie dem Kläger für den Fall, dass er ihrer Forderung nicht nachkomme, arbeitsrechtliche Schritte bis zum Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung an.
Mit Schreiben vom 14. April 2005 erteilte die Beklagte dem Kläger eine Abmahnung ua. mit der Begründung, er habe entgegen ihrer schriftlichen Anordnung nicht das Kanaldeckelhebegerät, sondern den Kanaldeckelhaken benutzt. Gegen diese Abmahnung hat der Kläger ebenfalls Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Der Gütetermin in der Sache fand am 13. Oktober 2005 statt.
Am 31. Oktober 2005 hatte der Kläger Sinkkästen zu reinigen. Statt des Kanaldeckelhebegerätes setzte er den Kanaldeckelhebehaken ein. Daraufhin kündigte die Beklagte dem Kläger nach Anhörung des Personalrats ordentlich aus verhaltensbedingten Gründen.
Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Kündigungsschutzklage. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht nach mündlicher Verhandlung am 8. Februar 2007 dieses Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die auf grundsätzliche Bedeutung, Divergenz und den Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör gestützte Nichtzulassungsbeschwerde.
Entscheidungsgründe
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde vermag nicht zur Zulassung der Revision zu führen, jedoch zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht.
1. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 72a Abs. 1, § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG) hat die Beschwerde nicht in ausreichender Weise dargelegt.
Die Beschwerde sieht als grundsätzlich die Rechtsfrage an, ob ein Arbeitgeber eine verhaltensbedingte Kündigung allein darauf stützen kann, dass der Arbeitnehmer nur Nebenpflichten aus dem Arbeitsverhältnis verletzt hat, um der Hauptleistung ordnungsgemäß nachzukommen. Sie rügt insoweit, das Gericht sei mit keinem Satz auf diese Problematik eingegangen. Dies wäre indes Voraussetzung für die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung gewesen (vgl. BAG 13. Juni 2006 – 9 AZN 226/06 – AP ArbGG 1979 § 72a Grundsatz Nr. 65 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 109).
2. Auch die Voraussetzungen einer Zulassung der Revision wegen Divergenz (§ 72a Abs. 1, § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG) liegen nicht vor.
Die Beschwerde entnimmt der anzufechtenden Entscheidung folgenden Rechtssatz:
“Die Warnfunktion der Abmahnung kann auch dann erhalten bleiben, wenn diese nachträglich für unwirksam angesehen wird und der Arbeitgeber verurteilt wird, diese aus der Personalakte zu entfernen.”
Einen derartigen Rechtssatz hat die anzufechtende Entscheidung jedoch nicht aufgestellt, er ist ihr auch nicht aus dem Zusammenhang zu entnehmen. Das Landesarbeitsgericht hat zwar die Abmahnung erwähnt, auf sie jedoch nicht entscheidend abgestellt. Vielmehr hat es darauf abgestellt, dass bereits in der Arbeitsanordnung, das Hebegerät zu benutzen, hinreichend deutlich wurde, dass der Kläger im Falle der Zuwiderhandlung gegen ihre Benutzungsanordnung mit einer verhaltensbedingten Kündigung rechnen müsse.
3. Zu Recht rügt der Kläger jedoch eine entscheidungserhebliche Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 72a Abs. 1, § 72 Abs. 2 Nr. 3 ArbGG, Art. 103 GG).
a) Das gilt allerdings nicht, soweit er ausführt, das Landesarbeitsgericht habe seinen Vortrag, er habe bei dem streitbefangenen Vorfall das Kanaldeckelhebegerät nicht einsetzen können, übergangen. Dieser Punkt war nach der Rechtsauffassung des Landesarbeitsgerichts, auf die es allein ankommt, nicht entscheidungserheblich. Das Landesarbeitsgericht hat diesen Punkt nämlich letztlich dahinstehen lassen.
b) Zu Recht rügt der Kläger jedoch, das Landesarbeitsgericht habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör deshalb verletzt, weil es als unstreitig angesehen hat, dem Kläger sei im Gütetermin des Abmahnungsrechtsstreits die Anweisung gegeben worden, dann, wenn der Einsatz des Kanaldeckelhebegerätes unmöglich ist, die Tätigkeit einem Kollegen zu überlassen.
aa) Auf diese von ihm als unstreitig behandelte Annahme hat das Landesarbeitsgericht seine Entscheidung gestützt, weil es daraus die Pflichtverletzung des Klägers abgeleitet hat, auf Grund derer es die Kündigung als gerechtfertigt angesehen hat.
bb) Diesen Sachvortrag hat die Beklagte erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht am 8. Februar 2007 in das Verfahren eingeführt. Das Protokoll verhält sich dazu wie folgt:
“Die Beklagtenvertreter erklärten:
Vor dem Vorfall vom 31.10.2005 habe die Beklagte im Gütetermin vom 13.10.2005 in dem vor dem Arbeitsgericht Bielefeld geführten Abmahnungsprozess in der Diskussion um die tatsächliche Möglichkeit, das Kanaldeckelhebegerät einzusetzen, erklärt, in Fällen, in denen der Einsatz unmöglich sei, solle der Kläger die Arbeit nicht verrichten.
Beweis: Zeuge H…
Der Klägervertreter erklärte:
Eine entsprechende Anweisung aus dem Gütetermin könne er zwar nicht bestreiten, jedoch nicht anhand seiner schriftlichen Notizen ausdrücklich bestätigen.”
Das Landesarbeitsgericht hat in der anzufechtenden Entscheidung rechtlich angenommen, eine Weisung in der Güteverhandlung des Abmahnungsrechtsstreits, andere Kollegen den Kanaldeckelhebehaken nutzen zu lassen, falls er das Kanaldeckelhebegerät nicht einsetzen könne, habe der Kläger nicht, wie bei Tatsachen der eigenen Wahrnehmung erforderlich, substantiiert bestritten. Daher liege auf jeden Fall eine Verletzung von Anordnungen vor, die die Beklagte zur Kündigung berechtige.
cc) Mit dieser Behandlung der klägerischen Erklärungen hat das Landesarbeitsgericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt.
Art. 103 Abs. 1 GG sichert – iVm. Art. 2 Abs. 1 GG und dem in Art. 20 Abs. 3 GG gewährleisteten Rechtsstaatsprinzip – den Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht und das mit ihm im Zusammenhang stehende Recht auf Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes. Dies gebietet ein Ausmaß an rechtlichem Gehör, das sachangemessen ist, um den in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten – wie hier eine vorliegt – aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernissen eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden. Zu den für einen fairen Prozess und einen wirkungsvollen Rechtsschutz in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten unerlässlichen Verfahrensregeln gehört, dass das Gericht über die Richtigkeit bestrittener Tatsachenbehauptungen nicht ohne hinreichende Prüfung entscheidet. Ohne eine solche Prüfung fehlt es an einer dem Rechtsstaatsprinzip genügenden Entscheidungsgrundlage (vgl. BVerfG 21. Februar 2001 – 2 BvR 140/00 – NJW 2001, 2531, zu III 1a der Gründe).
Mit diesen Grundsätzen wäre es nicht vereinbar, würde man einen Grad des Bestreitens erfordern, der es einer Partei unmöglich machen würde, unter zumutbaren Voraussetzungen einen Sachverhalt, für den sie nicht die Beweislast trägt, zum Gegenstand einer Beweisaufnahme zu machen. Es ist deshalb zwar verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn § 138 Abs. 2 und Abs. 4 ZPO von einer Partei verlangt, sich über die vom Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären und eine Erklärung mit Nichtwissen nur über Tatsachen zulässig ist, die weder eigene Handlungen der Partei betreffen noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind. Auch aus verfassungsrechtlichen Gründen ist es aber erforderlich, dass es für die Beurteilung, ob ein Bestreiten mit Nichtwissen zulässig ist, grundsätzlich auf den Zeitpunkt ankommt, in dem sich eine Partei im Prozess zu erklären hat (so einfachrechtlich auch BGH 19. April 2001 – I ZR 238/98 – NJW-RR 2002, 612, unter II 1 der Gründe). Auch von Verfassungs wegen ist deshalb gefordert, einer Partei nur aufzuerlegen, sich darüber zu erklären, was sie zum Zeitpunkt der notwendigen Erklärung tatsächlich weiß oder – hier nicht entscheidungserheblich – unter zumutbaren Voraussetzungen durch Erkundigungen feststellen kann.
Im vorliegenden Fall hat der Klägervertreter – als Prozessvertreter zugleich für den Kläger – letztlich die Erklärung abgegeben, es sei aus der Sicht der klagenden Partei nicht mehr klärbar, ob die von der Beklagten behauptete Äußerung im Gütetermin tatsächlich gefallen sei. Dies ist nach der Lebenserfahrung auch plausibel. Zum Zeitpunkt des Termins vor dem Landesarbeitsgericht lag die Güteverhandlung im Abmahnungsrechtsstreit ca. 16 Monate zurück. Der Prozessverlauf im Kündigungsrechtsstreit hatte vor der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht auch keinerlei Anlass gegeben, diesem Punkt besondere Bedeutung beizumessen. Zudem ist es durchaus denkbar, dass Äußerungen im Rahmen eines Gerichtstermins, der sich naturgemäß auf vielfältige Aspekte eines Sachverhalts erstreckt, einfach “untergehen” und in ihrer Bedeutung nicht wahrgenommen und somit auch nicht erinnert werden.
dd) Zur Beschleunigung des Verfahrens hat der Senat den Rechtsstreit nach § 72a § 7 ArbGG an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 GKG.
Unterschriften
Reinecke, Zwanziger, Schlewing, Schmidt, Lohre
Fundstellen