Entscheidungsstichwort (Thema)
Verbandsklage; Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80% oder 100 %; Geltung der Wartefrist?
Leitsatz (amtlich)
§ 12 Nr. 1 Abs. 1 des einheitlichen Manteltarifvertrages für die Brauereien im Lande Nordrhein-Westfalen vom 29. August 1995 stellte keine statische Verweisung auf das Entgeltfortzahlungsgesetz dar und hinderte die Anwendbarkeit späterer Gesetzesänderungen auf die Arbeitsverhältnisse der tarifgebundenen Arbeitnehmer nicht.
Normenkette
ZPO § 256 Abs. 1; TVG § 9; ArbGG § 2 Abs. 1 Nr. 1; EFZG § 4 Abs. 1 S. 1 in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung, § 3 Abs. 3; einheitlicher MTV für die Brauereien im Lande Nordrhein-Westfalen vom 29. August 1995 § 12 Nr. 1; einheitlicher MTV für die Brauereien im Lande Nordrhein-Westfalen vom 29. August 1995 § 12 Nr. 2
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 9. Januar 1998 – 9 Sa 1257/97 – wird zurückgewiesen, soweit das Landesarbeitsgericht die Anwendbarkeit des § 3 Abs. 1 und 3, des § 4 Abs. 1 und 4, des § 9 iVm. § 4 Abs. 1 und 4 und des § 13 iVm. § 4 Abs. 1 und 4 des Entgeltfortzahlungsgesetzes in der Fassung des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25. September 1996 auf die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse festgestellt hat.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision im vorliegenden Verfahren zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Prozeßparteien sind Tarifvertragsparteien und Parteien des „Einheitlichen Manteltarifvertrags für die Brauereien im Lande Nordrhein-Westfalen vom 29. August 1995” (MTV). Sie streiten darüber, ob für ihre Mitglieder § 3 und § 4 des Entgeltfortzahlungsgesetzes in der Fassung des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25. September 1996 (BGBl. I S 1476) für die Zeit bis zum 31. Oktober 1997 Anwendung fanden oder ob die gesetzlichen Vorschriften zugunsten der Arbeitnehmer durch tarifliche Regelungen verdrängt wurden.
Die einschlägige tarifliche Vorschrift des § 12 MTV („Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfällen”) lautet auszugsweise wie folgt:
„1. In Fällen von Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit finden die gesetzlichen Vorschriften Anwendung.
Das Krankenentgelt bemißt sich nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst, den der Arbeitnehmer in den letzten drei abgerechneten Kalendermonaten vor dem Beginn der Krankheit erhalten hat. Bei Verdiensterhöhungen nicht nur vorübergehender Natur, die während des Berechnungszeitraumes oder der Krankheit eintreten, ist von dem erhöhten Verdienst auszugehen.
2. Darüber hinaus erhält jeder Arbeitnehmer bei einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen unverschuldeten Erkrankung einen Zuschuß in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen den Leistungen der Sozialversicherungsträger und 100 % des Nettoentgeltes nach einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit von
5 |
Jahren bis zu einer Woche |
10 |
Jahren bis zu zwei Wochen |
15 |
Jahren bis zu drei Wochen |
20 |
Jahren bis zu vier Wochen |
25 |
Jahren bis zu fünf Wochen. |
Der Zuschuß wird in jedem Kalenderjahr auch bei mehreren Krankheitsfällen insgesamt nur bis zu dieser Höchstdauer und nicht über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus gewährt.
…
6. Wird von einem Träger der Sozialversicherung, einer Verwaltungsbehörde der Kriegsopferversorgung oder einem sonstigen Sozialleistungsträger eine Vorbeugungs-, Heil- oder Genesungskur bewilligt, ohne daß Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts besteht, so erhält der Arbeitnehmer, wenn er eine mindestens einjährige ununterbrochene Betriebszugehörigkeit nachweisen kann, soweit keine gesetzlichen Bestimmungen entgegenstehen, für den Zeitraum, für den der Träger oder die Verwaltungsbehörde die vollen Kosten einer solchen Kur übernimmt, den Unterschiedsbetrag zwischen den Leistungen der Sozialversicherungsträger und 100 % des Netto-Arbeitsentgeltes bis zu höchstens 6 Wochen, jedoch nicht über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus.
…”
In § 11 MTV („Entschädigungspflichtige Arbeitsversäumnisse”) haben die Parteien ua. folgende Regelungen getroffen:
„4. Arbeitsausfall und Arbeitsverhinderung im Sinne des § 616 BGB werden nur in den nachfolgend abschließend aufgezählten Fällen unter Fortzahlung des Arbeitsentgeltes anerkannt:
…
b) Bei Arztbesuch anläßlich einer während der Arbeitszeit auftretenden akuten Erkrankung … für die unvermeidliche Ausfallzeit am Erkrankungstage.
c) Bei Arztbesuch anläßlich einer notwendigen Spezialuntersuchung … für die unvermeidliche Ausfallzeit am Untersuchungstage.
…
m) Für den Fall, daß ein Anspruch auf Krankengeld aufgrund von § 185 c RVO nicht besteht: Bei plötzlich eintretender nachzuweisender Erkrankung des Ehegatten oder eines Kindes, die die Anwesenheit des Arbeitnehmers unbedingt erforderlich macht, … bis zu 3 Arbeitstagen …”
Mit Wirkung vom 1. November 1997 wurde die bisherige Regelung des § 12 MTV durch folgende Fassung ersetzt:
„1. Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, so hat er Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung entsteht nach vierwöchiger, ununterbrochener Dauer des Arbeitsverhältnisses.
Das fortzuzahlende Arbeitsentgelt errechnet sich ab 1. November 1997 wie folgt:
Das laufende Monatsentgelt einschließlich tariflicher und außertariflicher Zulagen wird weitergezahlt. …”
Zugleich verständigten sich die Parteien auf folgende Protokollnotiz:
„Die Tarifvertragsparteien sind sich darin einig, daß für die Zeit zwischen Inkrafttreten der Änderungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes (1. Oktober 1996) und Inkrafttreten des neu gefaßten § 12 Ziff. 1 EMTV (1. November 1997) unbeschadet der jeweiligen Rechtsauffassung der Tarifvertragsparteien zum Charakter der bisherigen tariflichen Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall folgendes gilt:
- Arbeitgeber können die tarifliche Neuregelung des § 12 Ziff. 1 rückwirkend ab 1. Oktober 1996 anwenden.
- Dem Arbeitgeber bleibt es unbenommen, die bis zum 30. September 1996 geltenden Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis zum 31. Oktober 1997 anzuwenden, ohne daß hieraus eine Rechtsverpflichtung entsteht, dies auch über diesen Zeitpunkt hinaus zu tun.
- Durch vorstehende Regelungen wird der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten für Ansprüche aus dem Zeitraum 1. Oktober 1996 bis 31. Oktober 1997 nicht versperrt.”
Mit seiner Klage vom 18. November 1996 hat der klagende Arbeitgeberverband geltend gemacht, wegen § 12 Nr. 1 MTV richteten sich die Ansprüche der Arbeitnehmer auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder bei Maßnahmen der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation auch für die Zeit ab dem 1. Oktober 1996 für die ersten sechs Krankheitswochen allein nach dem Gesetz. Den Arbeitnehmern stünden als Entgeltfortzahlung nur 80 % ihrer regelmäßigen Vergütung zu und auch dies erst nach Ablauf einer vierwöchigen Wartefrist. Der Kläger hat, soweit im vorliegenden Verfahren noch von Interesse, beantragt
festzustellen, daß § 12 Ziff. 1 Abs. 1 des Einheitlichen Manteltarifvertrages für die Brauereien im Lande Nordrhein-Westfalen vom 29. August 1995 für gewerbliche Arbeitnehmer, Angestellte und Auszubildende, die Mitglied der Gewerkschaft NGG im DGB sind, so auszulegen ist, daß die durch das Arbeitsrechtliche Gesetz zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung(Arbeitsrechtliches Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996, BGBl. I Nr. 48 vom 27. September 1996 S 1476 ff.) in Art. 3 geänderten Vorschriften des § 3 Abs. 1 und 3, § 4 Abs. 1 und 4, § 9 und § 13 des Entgeltfortzahlungsgesetzes (nF) ab 1. Oktober 1996 bis zum 31. Oktober 1997 auf tarifgebundene Arbeitsverhältnisse Anwendung gefunden haben.
Die beklagte Gewerkschaft hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV stelle eine statische Verweisung auf die bei Tarifabschluß im Jahr 1995 geltenden gesetzlichen Vorschriften dar. Zudem handele es sich bei § 12 Nr. 1 Abs. 2 MTV um eine konstitutive Regelung, die die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts abschließend mit dem ungekürzten Durchschnittsverdienst der vergangenen drei Monate festlege.
Das Arbeitsgericht hat der Klage bezüglich der Geltung des § 3 Abs. 3 und des § 13 EFZG stattgegeben und sie im übrigen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Berufung des Klägers der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Mit ihrer Revision möchte die Beklagte die Aufhebung des zweitinstanzlichen Urteils und die vollständige Abweisung der Klage erreichen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der beklagten Gewerkschaft ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und bei Maßnahmen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation galten für die Mitglieder der Parteien im streitbefangenen Zeitraum die Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes in seiner vom 1. Oktober 1996 bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung.
I. Die Klage ist zulässig. Ein Feststellungsinteresse des Klägers iSd. § 256 Abs. 1 ZPO ist gegeben. Der Streit der Parteien stellt eine Verbandsklage iSd. § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG, § 9 TVG dar. Streitgegenstand einer solchen Klage muß nicht das Bestehen oder Nichtbestehen eines Tarifvertrags im ganzen sein. Es genügt, wenn die Klage die Gültigkeit und die Auslegung einer einzelnen Tarifnorm betrifft. Ein solcher Auslegungsstreit ist in aller Regel nur als Feststellungsklage möglich(BAG 26. September 1977 – 4 AZR 446/76 – BAGE 29, 321; Germelmann/Matthes/Prütting ArbGG 3. Aufl. § 2 Rn. 16, 17). Das erforderliche Interesse an der begehrten Feststellung folgt regelmäßig aus § 9 TVG und der dort vorgesehenen Bindungswirkung. Durch sie werden im Interesse der Prozeßökonomie Leistungsklagen zwischen den Arbeitsvertragsparteien vermieden(BAG 30. Mai 1984 – 4 AZR 512/81 – BAGE 46, 61; Germelmann/Matthes/Prütting aaO Rn. 17).
Das Feststellungsinteresse ist auch nicht deshalb entfallen, weil die Tarifvertragsparteien § 12 MTV mit Wirkung vom 1. November 1997 durch eine Regelung ersetzt haben, die den Streit der Parteien beigelegt hat, und weil der Klageantrag darum nur die Zeit vom 1. Oktober 1996 bis 31. Oktober 1997 betrifft. Der Kläger hat unwidersprochen vorgetragen, daß rechtshängige Individualklagen mit Blick auf das vorliegende Verfahren ruhend gestellt, Zahlungen von Arbeitgebern unter dem Vorbehalt eines bestimmten Ausgangs dieses Verfahrens geleistet und vom Verfahrensausgang abhängige Stillhalteregelungen getroffen worden sind. Die mit der Entscheidung des Rechtsstreits einhergehende Bindungswirkung nach § 9 TVG geht darum trotz der Neufassung von § 12 MTV nicht ins Leere.
II. Die Klage ist begründet. Die Auslegung von § 12 Nr. 1 MTV ergibt, daß auf die Arbeitsverhältnisse der tarifgebundenen Arbeitnehmer im streitbefangenen Zeitraum die Vorschriften des § 3 Abs. 1 und 3, § 4 Abs. 1 und 4, § 9 und § 13 des Entgeltfortzahlungsgesetzes in seiner vom 1. Oktober 1996 bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung Anwendung fanden.
1. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und bei Maßnahmen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation auf „80 vom Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts” herabgesetzt. Zugleich wurde für das erstmalige Entstehen des Entgeltfortzahlungsanspruchs eine vierwöchige Wartefrist eingeführt(§ 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 3 EFZG 1996).
Bestehende tarifliche Regelungen sind durch das Gesetz vom 25. September 1996 nicht aufgehoben wurden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen(vgl. BT-Drucks. 13/4612 S 2; Buchner NZA 1996, 1177, 1179 f.).
2. Nach § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV „finden in Fällen von Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit die gesetzlichen Vorschriften Anwendung”. Diese Vorschrift stellt keine statische Verweisung auf die im Zeitpunkt des Tarifabschlusses geltenden einschlägigen Gesetze und darum keine inhaltlich eigenständige tarifliche Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar. Es handelt sich entweder um einen bloßen Hinweis auf das geltende Gesetzesrecht, bei dem schon jeglicher Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlt, oder es handelt sich zwar um eine Tarifnorm, die jedoch als dynamische Verweisung auch für die Tarifunterworfenen nur die jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften für anwendbar erklärt. Als Tarifnorm im Sinne einer statischen Verweisung auf die gesetzlichen Vorschriften zur Entgeltfortzahlung in ihrer bei Tarifabschluß geltenden Fassung kann § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV dagegen nicht verstanden werden.
a) Die Regelung richtet sich nicht an die Tarifvertragsparteien selbst, sondern an die Tarifunterworfenen. Ihre Auslegung betrifft deshalb den normativen Bereich des Tarifvertrags. Dessen Auslegung richtet sich nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung(vgl. zu diesen im einzelnen BAG 1. Juli 1998 – 5 AZR 545/97 – BAGE 89, 210).
b) Im Rahmen ihrer Rechtsprechung zur tariflichen Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen haben der Zweite und Siebte Senat des Bundesarbeitsgerichts für tarifliche Verweisungen auf gesetzliche Vorschriften die Auslegungsregel entwickelt, im Zweifel seien diese Verweisungen – ebenso wie die wort- oder inhaltsgleiche Übernahme des Gesetzestextes – deklaratorisch(BAGE 40, 102 = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 133; BAG 28. Januar 1988 – 2 AZR 296/87 – AP BGB § 622 Nr. 24; BAG 4. März 1993 – 2 AZR 355/92 – AP BGB § 622 Nr. 40). Die Literatur hat sich dem Bundesarbeitsgericht für die Auslegung von Verweisungen – nicht so für die Auslegung von wörtlichen oder inhaltsgleichen Übernahmen des Gesetzestextes – im Ergebnis weitgehend angeschlossen(Buchner NZA 1996, 1177, 1182; Kamanabrou RdA 1997, 22, 27; Rieble RdA 1997, 134, 140; Giesen RdA 1997, 193, 201 Fn. 93; K. Gamillscheg Anm. zu BAG 5. Oktober 1995, SAE 1996, 274, 277; Bengelsdorf Anm. zu BAG AP BGB § 622 Nr. 48; Wiedemann Anm. zu BAG AP TVG § 1 Auslegung Nr. 133).
Auch der erkennende Senat ist der Rechtsprechung des Zweiten und Siebten Senats hinsichtlich der Auslegung tariflicher Verweisungen gefolgt(BAG 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – BAGE 89, 95). Mit einer Verweisung auf geltende – ohnehin anwendbare – gesetzliche Vorschriften bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß nur das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Ob sich die Verweisung als bloßer Hinweis oder als Tarifnorm in Sinne einer dynamischen Verweisung darstellt, kann dabei im Einzelfall unterschiedlich zu beurteilen sein. Individualrechlich sind die Rechtsfolgen die gleichen.
c) Nach Maßgabe dieser Grundsätze stellt § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV keine statische Verweisung dar. Es finden sich weder in der Regelung selbst noch an anderer Stelle des Tarifvertrags hinreichende Anhaltspunkte dafür, daß sich die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Tarifunterworfenen nicht nach den jeweils geltenden, sondern ausschließlich nach den im Zeitpunkt des Tarifabschlusses geltenden gesetzlichen Vorschriften richten sollte.
aa) Der Wortlaut der tariflichen Regelung läßt keine Zweifel daran, daß in ihr auf die gesetzlichen Bestimmungen in ihrer jeweils geltenden Fassung verwiesen worden ist. Selbst wenn zu Gunsten der Beklagten angenommen wird, daß § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV überhaupt eine Tarifnorm und nicht nur einen bloßen Hinweis darstellt, finden ihr zufolge „in Fällen von Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit die gesetzlichen Vorschriften Anwendung”. Von einer zeitlichen Einschränkung ist dabei keine Rede. Ohne nähere Kennzeichnung sind „die gesetzlichen Vorschriften” diejenigen, die aktuell gelten. In dem vom Klageantrag erfaßten Zeitraum vermochte ein Tarifanwender den Text des § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV nicht anders zu verstehen, als daß die gesetzlichen Bestimmungen, wie sie in eben diesem Zeitraum galten, zur Anwendung gelangen sollten. Des ausdrücklichen sprachlichen Zusatzes, es sollten die „jeweiligen” gesetzlichen Regelungen gelten, bedurfte es dafür nicht. Für die Ansicht, es sei in § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV ausschließlich auf die gesetzlichen Bestimmungen in ihrer bei Tarifabschluß geltenden Fassung verwiesen worden, gibt es keine sprachliche Begründung.
bb) Ein dem Wortlaut des § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV entgegenstehender Wille der Parteien ist nicht zu erkennen. Zwar kann sich der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Regelung auch bei Verweisungsvorschriften nicht nur aus dem Wortlaut, sondern auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergeben. Dazu bedarf es jedoch besonders deutlicher Anhaltspunkte(BAG 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – aaO). Daran fehlt es.
(1) Der Regelung in § 12 Nr. 2 MTV kommt insoweit keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Danach „erhält jeder Arbeitnehmer bei einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen unverschuldeten Erkrankung einen Zuschuß in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen den Leistungen der Sozialversicherungsträger und 100 % des Nettoentgeltes”. Der Zuschuß ist an eine Betriebszugehörigkeit von mehr als fünf Jahren geknüpft und wird dann für die Dauer einer Woche gewährt, bei längerer Betriebszugehörigkeit auch länger.
Der Senat hat bereits entschieden, daß auch eine solche Zuschußregelung nicht dazu führen kann, in einer – bloßen – tariflichen Verweisung auf das Entgeltfortzahlungsgesetz eine statische Verweisung auf dessen im Zeitpunkt des Tarifabschlusses geltende Fassung zu sehen, wenn es sich dem Wortlaut nach um eine dynamische Verweisung handelt(vgl. nur BAG 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – aaO).
(2) Eine andere Auslegung ist auch nicht wegen des tariflichen Zusammenhangs mit § 11 Nr. 4 b, c, m MTV geboten. Zwar sehen diese Regelungen im Falle notwendiger Arztbesuche des Arbeitnehmers selbst und bei plötzlich eintretender Erkrankung des Ehegatten oder eines Kindes die Fortzahlung des Arbeitsentgelts für die unvermeidliche Ausfallzeit am Erkrankungstage bzw. bis zu drei Arbeitstagen vor. Mit der Beklagten ist auch davon auszugehen, daß in diesen Fällen Entgeltfortzahlung zu 100 % geschuldet wird. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Parteien in § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV nur eine statische Verweisung auf die bei Tarifabschluß geltenden Gesetze über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gewollt haben können. Es zeigt allenfalls, daß sie seinerzeit von einer Entgeltfortzahlung in voller Höhe ausgegangen sind. Es entsteht kein nicht hinzunehmender Wertungswiderspruch, wenn für die Zeit von unaufschiebbaren Arztbesuchen oder einer Erkrankung von Angehörigen das Arbeitsentgelt in voller Höhe weiter zu zahlen ist, für die Zeit eigener Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers dagegen nicht. Auch der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgeltfortzahlung nur für den Krankheitsfall herabgesetzt. Der ursprüngliche § 616 Abs. 1 BGB ist unverändert geblieben. Bei vorübergehender Dienstverhinderung, die nicht auf eigener Arbeitsunfähigkeit beruht, ist das Entgelt in voller Höhe weiterzuzahlen, soweit nicht abweichende Vereinbarungen getroffen worden sind. Die Parteien hatten die Möglichkeit, auch für die Zeit vor dem 1. November 1997 eine einheitliche Regelung für beide Fälle zu schaffen. Wenn sie dies nach Maßgabe des § 12 Nr. 1 MTV 1997 und der zu ihm ergangenen Protokollnotiz unterlassen haben, ist dadurch ein von den Gerichten aufzulösender Wertungswiderspruch zwischen den Regelungen in § 12 MTV und § 11 MTV nicht entstanden.
(3) Die Beklagte hat demgegenüber vorgebracht, in dem für sie zentralen Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall habe mit dem Verweis auf die gesetzlichen Vorschriften lediglich das Einverständnis „mit dem gefundenen gesellschaftlichen Kompromiß” ausgedrückt werden, nicht aber der Verzicht auf eine eigenständige Regelung verbunden sein sollen. Die Parteien hätten das Risiko, daß es aufgrund von gesetzlichen Änderungen zu tarifvertraglichen „Schieflagen” kommen könne, nicht in Kauf nehmen und nicht zum „Spielball des Gesetzgebers” werden wollen. Zu Gunsten der Beklagten mag den Parteien eine solche Absicht unterstellt werden. Die auslegungserhebliche Frage ist jedoch nicht, welche Motive die Parteien seinerzeit mit der getroffenen Regelung verbanden. Für die Auslegung bedeutsam ist vielmehr nur die Frage, ob sie im Zeitpunkt des Tarifabschlusses – im Text erkennbar – eine der festgestellten sprachlichen Bedeutung des § 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV widersprechende Regelungsabsicht gehabt haben und in Wirklichkeit eine statische Verweisung auf die gesetzlichen Bestimmungen ausschließlich in ihrer seinerzeit geltenden Fassung vereinbaren wollten. Für ein solches Auseinanderfallen von Regelungsinhalt und damaliger Regelungsabsicht sprechen keinerlei Umstände.
§ 12 Nr. 1 Abs. 1 MTV steht der Anwendbarkeit von § 3 Abs. 1 und 3, § 4 Abs. 1 und 4, § 9 und § 13 EFZG 1996 auf die Arbeitsverhältnisse tarifgebundener Arbeitnehmer nicht entgegen.
d) Etwas anderes folgt auch nicht aus § 12 Nr. 1 Abs. 2 MTV. Nach dieser Regelung bemaß sich das Krankenentgelt nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst, den der Arbeitnehmer in den letzten drei abgerechneten Kalendermonaten vor dem Beginn der Krankheit erhalten hat. Bei Verdiensterhöhungen nicht nur vorübergehender Natur, die während des Berechnungszeitraumes oder der Krankheit eintreten, war von dem erhöhten Verdienst auszugehen.
Auf diese Weise haben die Parteien keine vom Entgeltfortzahlungsgesetz abweichende eigenständige Regelung über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall getroffen. Zwar wird das im Entgeltfortzahlungsgesetz vorgesehene Lohnausfallprinzip durch das Referenzprinzip ersetzt. Auch § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG 1994 ließ eine solche Abweichung zu. Eine selbständige Regelung über die Höhe der Entgeltfortzahlung haben die Parteien damit aber nicht geschaffen. Nach dem Wortlaut von § 12 Nr. 1 Abs. 2 MTV „bemißt sich” das Krankenentgelt nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst der letzten drei abgerechneten Monate. Die Formulierung macht deutlich, daß die Tarifvertragsparteien die Öffnungsklausel des § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG 1994 zwar dazu genutzt haben, die Grundlagen für die Berechnung der Entgeltfortzahlung anders als das Gesetz festzuschreiben. Ihr fehlt aber jeder Hinweis darauf, daß sie auch die Höhe des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts unabhängig von der gesetzlichen Regelung hätten bestimmen wollen. Dazu bestand zur Zeit des Tarifabschlusses auch keine Notwendigkeit, da die gesetzlichen Vorschriften ohnehin die volle Entgeltfortzahlung vorsahen. Dieser Umstand schließt es zwar nicht aus, daß die Tarifvertragsparteien schon vor Inkrafttreten des § 4 Abs. 1 EFZG idF des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25. September 1996 Bestimmungen getroffen haben, die auch die Höhe der Entgeltfortzahlung eigenständig regeln. Es bedarf für eine solche Annahme jedoch deutlicher Anhaltspunkte im Wortlaut der Regelungen. So sehen bestimmte Tarifverträge vor, daß die Arbeitnehmer für jeden Krankheitstag, für den sie Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts haben, 1/65 des vorausgehenden Vierteljahresverdienstes oder 1/22 des monatlichen Effektivverdienstes erhalten. Durch solche Regelungen ist die Höhe der Entgeltfortzahlung präzise festgelegt. Das ist hier nicht der Fall. § 12 Nr. 1 Abs. 2 MTV spricht nicht einmal davon, daß sich „das fortzuzahlende Arbeitsentgelt” auf die vorgesehene Weise errechne. Die Vorschrift trifft Bestimmungen nur über die Grundlage der Berechnung. Die eigentliche Höhe der Entgeltfortzahlung hat sie nicht eigenständig und unabhängig von der jeweiligen Gesetzeslage festgelegt. Diese richtete sich im streitbefangenen Zeitraum nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz in seiner zwischen dem 1. Oktober 1996 und 31. Dezember 1998 geltenden Fassung und betrug nur 80 % des ermittelten Entgelts.
e) Die Klage ist begründet. Das bedeutet, daß für die tarifgebundenen Arbeitnehmer im streitbefangenen Zeitraum die Wartefrist des § 3 Abs. 1, Abs. 3 EFZG galt, daß die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 4 Abs. 1 EFZG, bei Maßnahmen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation nach § 9 iVm. § 4 Abs. 1 EFZG nur 80 % des regelmäßigen Arbeitsverdienstes betrug und daß insoweit auch die Überleitungsvorschrift des § 13 EFZG galt.
Unterschriften
Griebeling, Müller-Glöge, Kreft, Hann, Mandrossa
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 12.04.2000 durch Metze, Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 537496 |
BAGE, 217 |
NZA 2001, 1028 |
AP, 0 |