Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Übersendung von Prozessakten an Bevollmächtigten
Leitsatz (NV)
- Entscheidungen der FG über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht sind keine prozessleitenden Verfügungen und daher mit der Beschwerde anfechtbar.
- Die Entscheidung über die Versendung der Akten zum Zwecke einer Einsichtnahme außerhalb des Gerichts ist eine Ermessensentscheidung. Maßgebend für die Ausübung des Ermessens ist das in § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO enthaltene Regel-Ausnahme-Verhältnis.
- Die Überlassung der Akten an einen prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt in seine Geschäftsräume ist auf eng begrenzte Sonderfälle begrenzt (ständige Rechtsprechung).
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1 S. 1, § 128
Tatbestand
I. Im Verfahren vor dem Finanzgericht (FG) beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), ihm die Akten des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ―FA―) zur Einsichtnahme in seine Kanzlei zu übersenden.
Unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) teilte der Berichterstatter dem Prozessbevollmächtigten mit, dass von einer Übersendung der Akten in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten wegen der Gefahr des Verlustes von Akten oder Aktenteilen und zur Wahrung des Steuergeheimnisses regelmäßig abzusehen sei. Es bestehe allerdings die Möglichkeit, die Akten zur Einsicht einem Finanzamt, Hauptzollamt, Amtsgericht oder Finanzgericht in der Nähe des Prozessbevollmächtigten zu übersenden.
In seiner Stellungnahme führte der Prozessbevollmächtigte daraufhin aus, das FG sei einer weit verbreiteten urbanen Legendenbildung aufgesessen. Es sei bislang kein Fall bekannt geworden, in welchem Akten oder Aktenteile anlässlich einer Akteneinsicht in den Kanzleiräumen verschwunden seien. Insofern sei wohl eher von einer rein abstrakten Gefahr auszugehen. Wegen der gegenüber Behörden oder Gerichten professionelleren Sekretariatsführung, der größeren Sachnähe und Überschaubarkeit sei die Verlustgefahr bei Übersendung in seine Kanzleiräume geringer. Die Argumentation, das Steuergeheimnis würde gefährdet, liege rechtlich neben der Sache. Es sei nicht ersichtlich, inwieweit es der Wahrung des Steuergeheimnisses dienlich sei, wenn eine Akte statt in seinen Kanzleiräumen in einer Behörde oder einem Gericht eingesehen werde. Auch würden ihm in zahlreichen Steuerstrafverfahren die Strafakten, in denen sich mindestens ebenso wichtige Dokumente befänden, zur Einsichtnahme in die Kanzleiräume überlassen.
Das FG wies durch den angefochtenen Beschluss den Antrag auf Übersendung der Akten in die Geschäftsräume des Prozessbevollmächtigten ab.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Beschwerde. Unter Wiederholung des bisherigen Vorbringens führt sie ergänzend aus, nach dem Wortlaut des § 78 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sei nicht zwingend, dass die Akteneinsicht nur bei dem Gericht zu erfolgen habe. Dem theoretischen Verlust von Akten oder Aktenteilen, der auch bei einer Übersendung an die Behörde oder ein anderes Gericht eintreten könne, könne durch die Anfertigung von Duplikaten begegnet werden. Da dem Prozessbevollmächtigten ständig wichtige Straf- und Zivilakten übersandt würden, sei die Ablehnung der Übersendung der Akten in die Kanzleiräume unverständlich und schikanös. Letztlich laufe dies auf eine vorsätzliche Beschneidung des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) hinaus. Das Steuergeheimnis würde durch eine Übersendung der Akten an die Kanzlei besser gewahrt, als bei einer Übersendung an eine große Behörde mit über 200 Bediensteten. Die Akteneinsicht könne bei Übersendung in die Kanzlei zudem deutlich zügiger und für sie, die Klägerin, kostengünstiger abgewickelt werden.
Entscheidungsgründe
II. 1. Die Beschwerde ist zulässig.
Entscheidungen der Finanzgerichte über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht sind keine prozessleitenden Verfügungen i.S. des § 128 Abs. 2 FGO, die nicht mit der Beschwerde angefochten werden können. Die Entscheidung des FG über den Antrag eines Prozessbevollmächtigten auf Überlassung der Akten in seine Kanzlei nach § 78 FGO unterliegt deshalb der Beschwerde (§ 128 Abs. 1 FGO; vgl. Senatsbeschluss vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475).
Soweit der Prozessbevollmächtigte der Klägerin entsprechend dem Antrag der Beschwerde, die Übersendung der Steuerakten, Beiakten, Nebenakten, Fallhefte und sonstigen Entwürfe in seine Kanzlei begehrt, dürfte kein Rechtsschutzbedürfnis mehr bestehen, da der Prozessbevollmächtigte die Steuerakten offensichtlich bereits beim FA X eingesehen hat, worauf das der Beschwerde als Anlage beigefügte finanzgerichtliche Schreiben an den Prozessbevollmächtigten und dessen Schriftsatz an das FA X ebenso hindeuten, wie der am Ende der Beschwerdeschrift formulierte Fortsetzungsfeststellungsantrag (vgl. zum Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses nach gewährter Akteneinsicht: BFH-Beschluss vom 24. Oktober 1991 V B 146/91, BFH/NV 1992, 402). Der Senat legt das Begehren jedoch dahin aus, dass der Antrag auf Akteneinsicht entsprechend dem Antrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Verfahren 5 K 1924/00 jedenfalls auch die Vollstreckungsakten umfasste, die dem erkennenden Senat übersandt und daher von dem Prozessbevollmächtigten noch nicht eingesehen worden sind.
2. Die Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen. Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich aus dem Begriff einsehen und der Regelung über die Erteilung von Abschriften durch die Geschäftsstelle des Gerichts, dass die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel sein soll und eine vorübergehende Überlassung der Akten an den Prozessbevollmächtigten nur ausnahmsweise in Betracht kommt. Die Entscheidung darüber, ob die Akten einem Prozessbevollmächtigten zur Akteneinsicht in dessen Geschäftsräumen überlassen werden können, ist im finanzgerichtlichen Verfahren eine Ermessensentscheidung (vgl. Senatsbeschluss vom 21. November 1991 VII B 55/91, BFH/NV 1992, 403, m.w.N.). Dabei sind die gegen eine Aktenübersendung sprechenden Interessen (insbesondere Vermeidung von Aktenverlusten, Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten, jederzeitige Verfügbarkeit der Akten) gegenüber den Interessen des Prozessbevollmächtigten an der Übersendung abzuwägen (vgl. Senatsbeschlüsse in BFH/NV 1992, 403, und vom 9. März 1993 VII B 214/92, BFH/NV 1993, 742, m.w.N.). Für die Art und Weise der Ausübung des Ermessens ist das in § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO enthaltene Regel-Ausnahme-Verhältnis maßgebend. Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH, an der der erkennende Senat weiterhin festhält, sind die Ausnahmen auf eng begrenzte Sonderfälle beschränkt (vgl. zuletzt Senatsbeschluss vom 2. Juni 1999 VII R 2/99, BFH/NV 1999, 1375). Räumliche Enge bei Gericht und das Fehlen von Kopiermöglichkeiten sind keine Gründe für die Aktenübersendung in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten (BFH-Beschluss vom 23. Juli 1990 IV B 87/90, BFH/NV 1991, 325). Das gleiche gilt für starke Arbeitsüberlastung und Zeitaufwand für die Fahrt zum Gericht (BFH-Beschlüsse vom 17. Januar 1989 X B 180/88, BFH/NV 1989, 645; vom 13. Juli 1992 XI B 62/91, XI B 63/91, BFH/NV 1992, 832). Eine größere Entfernung zwischen Gericht und Kanzlei begründet ebenfalls keinen Sonderfall, wenn es möglich ist, die Akten an ein Gericht oder eine Behörde am Sitz des Bevollmächtigten zu übersenden, damit sie dort eingesehen werden können (BFH-Beschlüsse vom 10. Oktober 1990 II B 73/90, BFH/NV 1991, 332; und in BFH/NV 1992, 403).
Nach den vorstehenden Grundsätzen vermögen die vorgetragenen Gründe die Übersendung der Akten in das Büro des Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht zu rechtfertigen. Dieser kann die Akten beim FA X (wie von ihm beim FG hilfsweise beantragt) oder einer anderen Behörde oder einem anderen Gericht in der Nähe seiner Kanzlei einsehen. Zwar birgt jede Versendung die Gefahr in sich, dass unbefugte Dritte Kenntnis vom Akteninhalt erlangen und ihn weitergeben. Dieser Gefahr kann aber, wenn schon eine Übersendung der Akten wegen der Entfernung des Prozessbevollmächtigten vom Ort des Gerichts notwendig ist, wirksamer durch Übersendung an eine andere Behörde oder ein Gericht begegnet werden. Denn die dortigen Bediensteten unterliegen als Amtsträger bzw. für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete dem Steuergeheimnis (§ 30 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 der Abgabenordnung ―AO 1977―; BFH-Beschluss vom 31. August 1993 XI B 31/93, BFH/NV 1994, 187).
Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Auslegung des § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO teilt der Senat nicht. Dass die Ablehnung der Übersendung von Akten in das Büro des Prozessbevollmächtigten den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht verletzt, ist vom Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. Beschluss vom 26. August 1981 2 BvR 637/81, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1982, 77, und vom 11. Juli 1984 1 BvR 1523/83, Die Information über Steuer und Wirtschaft 1984, 478). Fehlende Kopiermöglichkeiten und sonstige Unbequemlichkeiten, die regelmäßig mit der Akteneinsicht außerhalb der Kanzleiräume verbunden sind, sowie ein damit zusammenhängender größerer Kostenaufwand sind ebenfalls nicht geeignet, die Ausnahme von der Regel zu begründen, dass Akteneinsicht grundsätzlich bei dem FG bzw. einem anderen Gericht oder einer anderen Behörde zu nehmen ist.
Fundstellen