Entscheidungsstichwort (Thema)
Schutz vor Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung ist gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2, § 76 Abs. 2
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches FG (Urteil vom 16.04.2003; Aktenzeichen 3 K 155/00) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) war unter ihrer Firma an mehreren liechtensteinischen Aktiengesellschaften beteiligt, die Eigentümer von Grundbesitz in der Bundesrepublik Deutschland waren, u.a. an der Firma … AG. Der AG gehörte Grundbesitz im Zuständigkeitsbereich verschiedener Finanzbehörden, unter anderem des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--). Im Januar 1991 wurden alle Aktien der AG auf die Klägerin übertragen. Dies wurde bei einer Betriebsprüfung der Klägerin von Februar 1993 bis November 1994 bekannt; das FA stellte für diesen Erwerbsvorgang mit Bescheid vom 29. Dezember 1999 die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 17 des Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) gesondert fest. Mit Bescheiden vom gleichen Tag setzte das FA Grunderwerbsteuer in Höhe von 128 318 DM und einen Verspätungszuschlag in Höhe von 10 000 DM fest.
Den gegen die Festsetzung der Grunderwerbsteuer gerichteten Einspruch hat die Klägerin zurückgenommen; Einspruch und Klage gegen die Bescheide im Übrigen blieben erfolglos.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin im Verfahren wegen gesonderter Feststellung der Besteuerungsgrundlagen Verfahrensfehler und macht im Verfahren wegen Festsetzung des Verspätungszuschlags die Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative und Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde im Verfahren wegen gesonderter Feststellung der Besteuerungsgrundlagen ist, soweit sie nicht unzulässig (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) ist, im Übrigen jedenfalls unbegründet. Insoweit war die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beschwerde im Verfahren wegen Festsetzung des Verspätungszuschlags ist unzulässig, da die Klägerin die Voraussetzungen einer Zulassung wegen Divergenz nicht in der gesetzlich vorgesehenen Weise dargelegt hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative i.V.m. § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Insoweit war die Beschwerde zu verwerfen.
1. a) Soweit die Klägerin im Verfahren wegen gesonderter Feststellung der Besteuerungsgrundlagen rügt, das Finanzgericht (FG) habe § 76 Abs. 1 Satz 1 und 2 und § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 FGO und den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes --GG--) dadurch verletzt, dass es Auskünfte beim Verwaltungsrat der AG einholen wollte, ohne die Klägerin hiervon und von der Erfolglosigkeit des Auskunftsersuchens zu unterrichten, ist die Beschwerde unzulässig, da die Klägerin nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO erforderlichen Weise die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dargelegt hat.
aa) Nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO stellt ein Verfahrensmangel nur dann einen Zulassungsgrund dar, wenn die Vorentscheidung auf ihm beruhen kann. Daher ist ein Verfahrensmangel nur dann schlüssig gerügt, wenn dargelegt wird, dass die angefochtene Entscheidung vom materiell-rechtlichen Standpunkt des FG aus auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann (vgl. BFH-Beschluss vom 22. Juli 1996 XI B 207/95, BFH/NV 1997, 50). Daran fehlt es im Streitfall. Die Klägerin bezeichnet keine Tatsachen und Beweismittel, die ohne Verfahrensfehler vorgetragen worden wären und auf Grund derer die Entscheidung des FG möglicherweise anders ausgefallen wäre. Die Klägerin beschränkt sich demgegenüber lediglich auf den Vortrag, sie hätte den Verwaltungsrat der AG durch Rückleitung der einschlägigen Vorgänge in die Lage versetzt, dem Auskunftsersuchen zu entsprechen, ohne diese Vorgänge im Einzelnen zu bezeichnen.
bb) Eine schlüssige Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs, die auf einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte des vorinstanzlichen Urteils bezogen wird, erfordert unverändert, dass im Einzelnen dargelegt wird, wozu der Beschwerdeführer sich nicht hat äußern können und was er bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte (vgl. BFH-Beschluss vom 3. September 2002 I B 107/01, BFH/NV 2003, 68, m.w.N.). Daran fehlt es --wie ausgeführt-- im Streitfall.
b) Soweit die Klägerin im Verfahren wegen gesonderter Feststellung der Besteuerungsgrundlagen rügt, das FG sei verfahrensfehlerhaft zu dem Ergebnis gekommen, die Voraussetzungen einer leichtfertigen Steuerverkürzung durch Nichtanzeige der Anteilsvereinigung lägen im Streitfall vor, ist die Beschwerde ebenfalls unzulässig. Das Urteil kann auf den geltend gemachten Verfahrensfehlern nicht beruhen (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 1997, 50), da das FG unter Berufung auf das BFH-Urteil vom 25. März 1992 II R 46/89 (BFHE 167, 448, BStBl II 1992, 680) eine Anzeigepflicht unabhängig davon angenommen hat, ob und inwieweit die Klägerin die Grunderwerbsteuerpflicht des Vorgangs erkannt hatte bzw. wusste, dass insoweit eine Anzeigepflicht bestehe.
2. Ob die Klägerin im Verfahren wegen gesonderter Feststellung der Besteuerungsgrundlagen in der gesetzlich erforderlichen Weise dargelegt hat (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO), das FG habe verfahrensfehlerhaft die Akten der Entscheidung des FG Köln vom … nicht beigezogen, kann offen bleiben. Die Beschwerde ist insoweit jedenfalls unbegründet.
a) Das FG ist seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich der Frage einer Beiziehung der Akten der Entscheidung des FG Köln nachgekommen. Nach § 76 Abs. 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass die Tatsacheninstanz gehalten ist, erforderlichenfalls unter Ausnutzung aller verfügbarer Beweismittel den Sachverhalt so vollständig wie möglich aufzuklären (vgl. BFH-Urteil vom 22. Juli 1999 VII B 19/99, BFH/NV 1999, 1635, m.w.N.). Bei der Erforschung des Sachverhalts darf das FG solche Tatsachen oder Beweismittel nicht außer Acht lassen, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlung aufdrängen mussten (vgl. BFH-Beschluss vom 13. Dezember 2001 II B 46/00, BFH/NV 2002, 654).
Die Klägerin hat im Verfahren vor dem FG die nunmehr im Beschwerdeverfahren gerügte unterlassene Beiziehung der Akten nicht ausdrücklich beantragt, obwohl die Aufklärungsverfügung des FG vom 13. Januar 2003 die Frage, ob die Anteile an der AG von einer GbR gehalten worden seien, zum Inhalt hatte. Die Klägerin hat lediglich vorgetragen, im Steuerverfahren beim FG Köln sei die Existenz der GbR festgestellt worden. Auf die, wie sich aus den Akten ergibt, daraufhin durch das FG an das FG Köln gerichtete Bitte um Übersendung der von der Klägerin bezeichneten Entscheidung hat das FG Köln mitgeteilt, dass ein Urteil in dieser Sache nicht ergangen, sondern die Sache für erledigt erklärt worden sei. Da somit der Vortrag der Klägerin, durch Entscheidung des FG Köln sei die Existenz der GbR festgestellt worden, rechtlich nicht zutreffen konnte, brauchte das FG den Sachverhalt insoweit nicht weiter aufklären.
Wenn die Klägerin nunmehr in der Beschwerdeschrift vorträgt, bei den Akten des FG Köln befände sich der Gesellschaftsvertrag der GbR, so ergibt sich hieraus ebenfalls keine Verletzung der Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung (§ 76 Abs. 1 FGO). Im Verfahren vor dem FG hat die Klägerin einen entsprechenden Beweisantrag nicht gestellt. Anhaltspunkte dafür, dass sich dem FG aufdrängen musste, dass ein solcher Vertrag sich bei den Gerichtsakten des FG und nur bei diesen befinde und deswegen nicht anderweit --etwa aus den Akten des seinerzeitigen Prozessbevollmächtigten oder von einem der weiteren Gesellschafter zur Verfügung gestellt-- vorgelegt werden könne, sind nicht erkennbar.
b) Das FG hat hinsichtlich der Frage einer Beiziehung der Akten der Entscheidung des FG Köln auch nicht das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt (§ 96 Abs. 2 i.V.m. § 76 Abs. 2 FGO).
Nach § 96 Abs. 2 FGO darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Darüber hinaus soll der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) die Beteiligten auch in rechtlicher Hinsicht vor Überraschungen schützen (vgl. BFH-Beschluss vom 15. November 2001 I B 124/00, BFH/NV 2002, 919; BFH-Urteil vom 17. Juni 1998 II R 29/97, BFH/NV 1999, 185, jeweils m.w.N.). Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung ist danach gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG und die richterliche Hinweispflicht i.S. des § 76 Abs. 2 FGO verlangen jedoch nicht, dass das Gericht die maßgeblichen Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend und in allen Einzelheiten erörtert. Das Gericht ist grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet. Auf nahe liegende rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte braucht es zumindest dann nicht ausdrücklich hinzuweisen, wenn die Beteiligten fachkundig vertreten sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2. April 2002 X B 56/01, BFH/NV 2002, 947; vom 11. Februar 2003 XI B 4/02, BFH/NV 2003, 802, jeweils m.w.N.).
Die fachkundig vertretene Klägerin musste auf Grund der Aufklärungsverfügung des FG vom 13. Januar 2003 und dem richterlichen Hinweis, für die von ihr vorgetragene Behauptung der Existenz einer GbR sei der Nachweis zu erbringen, damit rechnen, dass das FG eine Beweiswürdigung und als deren Folge ggf. auch eine Beweislastentscheidung treffen wird. Die Klägerin hat sich trotz des eigenen Vortrags und der vom FG angedeuteten Rechtsauffassung gleichwohl auf den Hinweis beschränkt, die Existenz der GbR sei durch eine Entscheidung des FG Köln anerkannt worden. Ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter kann bei dieser Ausgangslage weder durch die Tatsache, dass das Verfahren vor dem FG Köln für erledigt erklärt worden ist, noch die daraus folgende Entscheidung des FG, die Akten nicht beizuziehen, überrascht sein.
3. Die Klägerin hat im Verfahren wegen Festsetzung des Verspätungszuschlags den Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (Divergenz) i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO nicht in der gesetzlich erforderlichen Weise dargelegt (vgl. BFH-Beschluss vom 23. Juni 2003 III B 152/02, BFH/NV 2003, 1290, 1291). Eine Divergenz i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO liegt nicht vor, wenn das FG --ohne ausdrücklich oder konkludent einen von der BFH-Rechtsprechung abweichenden allgemeinen Rechtssatz aufzustellen-- bei der Anwendung der Rechtssätze auf den konkreten Fall Fehler begeht (BFH-Beschluss vom 18. April 1995 VIII B 38/94, BFH/NV 1995, 1000). Da die Klägerin nicht vorträgt, das FG habe --entgegen der von ihr in diesem Sinne gewürdigten Rechtsprechung des BFH-- den allgemeinen Rechtssatz aufgestellt, auf die Begründung der für die Bemessung des Verspätungszuschlags maßgebenden Erwägungen könne verzichtet werden, sondern in der Sache fehlerhafte Rechtsanwendung rügt, legt sie keine Abweichung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO dar. Deswegen kann offen bleiben, ob das, was die Klägerin formuliert, als Rechtssatz der Rechtsprechung des BFH entnommen werden könnte.
Fundstellen
Haufe-Index 1244317 |
BFH/NV 2004, 1666 |