Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung von Akteneinsicht
Leitsatz (NV)
1. Die Entscheidung darüber, ob einem Prozeßbevollmächtigten die Akten zur Einsicht in seinen Geschäftsräumen überlassen werden, liegt im Ermessen des Gerichts. Bei der Ausübung des Ermessens sind die für und gegen eine Aktenübersendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen.
2. § 78 FGO enthält ein Regel-Ausnahme-Prinzip. Die Einsichtnahme der Akten in der Geschäftsstelle des Gerichts ist die Regel. Ausnahmen müssen durch besondere Gründe geboten sein.
3. Bei größerer Entfernung zwischen Gericht und Geschäftssitz des Prozeßbevollmächtigten ist es im Regelfall ermessensgerecht, die Akten an ein nahegelegenes Gericht oder an eine nahegelegene Dienststelle zu versenden. Vom Prozeßbevollmächtigten geltend gemachte Zeitersparnis und Bequemlichkeit sind keine Gründe, die ausnahmsweise die Überlassung der Akten zur Einsichtnahme in den Geschäftsräumen rechtfertigen.
Normenkette
FGO § 78
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) wendet sich mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Finanzgerichts (FG), mit der ihre Klage auf Aufhebung eines nach erfolglosem Klage- und Revisionsverfahren unanfechtbar gewordenen Mineralölsteuerbescheids abgewiesen wurde.
Im Rahmen des Verfahrens über die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin - ein Steuerberater - um Überlassung der Verfahrensakten in seine Kanzleiräume gebeten. Die Geschäftsstelle des beschließenden Senats bot dem Prozeßbevollmächtigten an, die Akten an ein von ihm zu benennendes Gericht oder an eine zu benennende Dienststelle der Finanzverwaltung zu seiner Akteneinsicht zu übersenden. Der Prozeßbevollmächtigte begehrt jedoch weiterhin die Übersendung der Akten in seine Kanzleiräume. Er macht geltend, es sei ihm weder zeitlich möglich noch zumutbar, eine Akteneinsicht ,,in örtlich mehr oder weniger entfernten, gewöhnlich beengten und unzulänglichen Verhältnissen bei Gerichten oder Behördendienststellen durchzuführen (räumliche Enge, schlechte oder gar keine Kopiermöglichkeit, Zeit- und Fahrtaufwand)".
Während des Klageverfahrens war dem Prozeßbevollmächtigten beim FG Akteneinsicht in die Akten des FG und des Beklagten und Beschwerdegegners (Hauptzollamt - HZA -) gewährt worden.
Entscheidungsgründe
Der Antrag ist nicht begründet.
Nach § 78 der Finanzgerichtsordnung (FGO) können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge oder Abschriften erteilen lassen. Ein Rechtsanspruch auf Übersendung der Akten in die Geschäftsräume eines Prozeßbevollmächtigten besteht jedoch nicht (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. August 1978 IV B 20/77, BFHE 126, 1, BStBl II 1978, 677).
1. Die Entscheidung darüber, ob die Akten einem Prozeßbevollmächtigten zur Akteneinsicht in dessen Geschäftsräumen überlassen werden können, ist im finanzgerichtlichen Verfahren eine Ermessensentscheidung (ständige Rechtsprechung, vgl. Senats-Beschluß vom 21. November 1991 VII B 55/91, BFH/NV 1992, 403 mit zahlreichen Nachweisen). Zwar ist das nicht ausdrücklich in § 78 FGO bestimmt, läßt sich aber der Vorschrift unter Berücksichtigung der sonstigen Prozeßordnung entnehmen.
Für den Zivilprozeß hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, daß es keinen Anspruch auf Herausgabe der Akten gibt (Urteil vom 12. Dezember 1960 III ZR 191/59, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1961, 559; vgl. auch Zöller/Stephan, Zivilprozeßordnung, 17. Aufl., § 299 Rn.3; Baumbach/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 51. Aufl., § 299 Rn.14). Vielmehr steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, die Akten einem Anwalt mitzugeben oder zuzusenden (Baumbach/Hartmann, a.a.O., § 299 Rn.14). Dabei ist es ermessensgerecht, im Falle der Versendung der Akten diese an das örtlich zuständige Amtsgericht zur Gewährung der Einsicht auf der dortigen Geschäftsstelle zu übersenden (Zöller/Stephan, a.a.O., § 299 Rn.3; Baumbach/Hartmann, a.a.O., § 299 Rn.17).
Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist das Ermessen ausdrücklich im Gesetz festgeschrieben. § 100 Abs. 2 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) lautet: ,,Nach dem Ermessen des Vorsitzenden können die Akten dem bevollmächtigten Rechtsanwalt zur Mitnahme in seine Wohnung oder in seine Geschäftsräume übergeben werden." Für die Ermessensausübung folgert daraus Kopp (Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Aufl., § 100 Rn.7), daß die Verweigerung der Mitgabe in die Kanzlei in der Regel ermessensfehlerhaft sei, wenn der Anwalt zuverlässig sei und die Akten unschwer kurzfristig entbehrt werden könnten. Eyermann/Fröhler (Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Aufl., § 100 Rn.5) hingegen äußern sich zurückhaltender, insbesondere was die Übersendung beigezogener Verwaltungsakten angeht, da diese bei Verlust im Regelfall nicht wieder rekonstruiert werden könnten.
Für die Sozialgerichtsbarkeit wird das Akteneinsichtsrecht in § 120 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geregelt, in dem eine Formulierung wie die in Satz 3 des § 100 Abs. 2 VwGO fehlt. Das Bundessozialgericht (BSG) gewährt weder den Beteiligten noch den Prozeßbevollmächtigten einen Anspruch auf Überlassung der Akten in ihr Büro, vielmehr beschränkt es das Recht auf Einsichtnahme bei der Geschäftsstelle des Gerichts (Beschluß vom 28. Juli 1977 5 BJ 124/77, Monatsschrift des Deutschen Rechts - MDR - 1977, 1051). Es liegt darüber hinaus nach dieser Entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, die Akten an einen Prozeßbevollmächtigten zu übersenden. Für die Ablehnung der Aktenüberlassung reicht jeder sachliche Grund, wie z.B. der geringe Umfang der Akten, aus (BSG, a.a.O., ähnlich Mayer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 4. Aufl., § 120 Anm.4, unter Hinweis auf § 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
Für den Strafprozeß bestimmt § 147 Abs. 4 der Strafprozeßordnung (StPO), daß einem Verteidiger auf Antrag die Akten zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume mitgegeben werden sollen. Daraus wird vom BGH jedoch kein Rechtsanspruch des Verteidigers auf Aktenaushändigung zur Mitnahme in sein Büro oder Übersendung in seine Kanzlei gefolgert (BGH-Beschluß vom 3. Juli 1990 4 StR 263/90, Deutsche Richterzeitung - DRiZ - 1990, 455; a.A. Lüderssen in: Löwe-Rosenberg, Strafprozeßordnung, 24. Aufl., § 147 Rn.142). Die Akteneinsicht wird grundsätzlich in den Diensträumen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts gewährt (vgl. Nr.189 Abs. 3 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren - RiStBV -; kritisch dazu Eisenberg, NJW 1991, 1257, 1259), wenngleich nach Kleinknecht/Meyer (Strafprozeßordnung, 40. Aufl., § 147 Rn.28) einem Antrag auf Überlassung der Akten im Regelfall entsprochen werden sollte, sofern keine wichtigen Gründe entgegenstehen.
§ 78 FGO räumt den Beteiligten Akteneinsicht ein, ohne eine Bestimmung über die Versendung oder Mitgabe der Akten zu enthalten. Wie der Entstehungsgeschichte des Gesetzes zu entnehmen ist (vgl. BTDrucks IV/1446 S. 53), wurde eine Formulierung wie in § 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO bewußt nicht aufgenommen, weil die vorübergehende Überlassung der Akten an einen bevollmächtigten Rechtsanwalt eine Bevorzugung der Rechtsanwälte gegenüber den anderen als Bevollmächtigte in Betracht kommenden Berufsgruppen bedeuten würde (vgl. Senats-Beschluß vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475). Daraus ist jedoch nicht zu folgern, daß der Gesetzgeber für den Finanzprozeß grundsätzlich untersagen wollte, Prozeßbevollmächtigten Akteneinsicht in ihren Geschäftsräumen zu gewähren. Es bestätigt aber, daß ein entsprechender Anspruch im Gesetz nicht verankert worden ist. Daraus folgt, daß der Gesetzgeber die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts gestellt hat (BFHE 133, 8).
2. Die im Streitfall geltend gemachten Gründe für eine Überlassung der Akten zur Einsichtnahme in den Geschäftsräumen des Prozeßbevollmächtigten geben zu einer solchen Ermessensausübung keinen Anlaß. Für die Art und Weise der Anwendung des im Finanzprozeß eingeräumten Ermessens ist der vom Gesetzgeber gesteckte Ermessensrahmen maßgebend.
Bei der Ausübung des Ermessens sind die für und gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen, also das dienstliche Interesse an einem geordneten Geschäftsgang (Vermeidung von Aktenverlusten, jederzeitige Verfügbarkeit der Akten und Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten) einerseits mit dem Interesse an der Ersparnis von Zeit und Kosten bei Gewährung der Akteneinsicht beim Prozeßbevollmächtigten andererseits (BFH/NV 1992, 403).
Die Abwägung hat jedoch vor dem Hintergrund der gesetzlichen Grundentscheidung zu erfolgen. § 78 FGO ist nämlich zu entnehmen, daß die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel sein soll. Schon der Begriff ,,Einsehen" und die Regelung über die Erteilung von Abschriften durch die Geschäftsstelle des Gerichts belegen das (BFHE 133, 8, 12). Das bedeutet, daß nach der Entscheidung des Gesetzgebers den Beteiligten und ihren Prozeßbevollmächtigten grundsätzlich zugemutet wird, sich zur Ausübung ihres Rechts auf Akteneinsicht zum Gericht zu begeben. Der Grund dafür liegt zum einen in der Vermeidung von Verlustrisiken und im Interesse der ständigen Verfügbarkeit der Akten bei Gericht, zum anderen aber auch in der Wahrung des Steuergeheimnisses.
Dieser Grundsatz schließt zwar begründete Ausnahmen nicht aus. § 78 FGO geht aber erkennbar von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis aus. Insofern entspricht die Aktenübersendung im Finanzprozeß der Rechtslage nach den anderen Prozeßordnungen, wenn sie auch restriktiver gehandhabt wird als etwa im Verwaltungsprozeß. Dies ist aber bereits durch den Wortlaut des Gesetzes vorgegeben. Auch zum Strafprozeß gibt es aufgrund der dort anderen Stellung des Verteidigers Gründe für eine unterschiedliche Praxis der Aktenübersendung.
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sind die Ausnahmen auf eng begrenzte Sonderfälle beschränkt. Die Aktenübersendung in die Geschäftsräume eines Prozeßbevollmächtigten muß durch besondere Gründe geboten sein. Es reicht nicht aus, daß die Akteneinsicht bei Gericht räumlich beengt ist und Kopiermöglichkeiten fehlen oder Kopierkosten entstehen (Senats-Beschluß vom 7. April 1981 VII B 6/81, nicht veröffentlicht - NV -; BFH-Beschluß vom 9. Dezember 1983 VI B 26/83, NV; BFH-Beschluß vom 23. Juli 1990 IV B 87/90, BFH/NV 1991, 325). Auch ist kein Sonderfall darin zu sehen, daß ein Bevollmächtigter stark mit Arbeit belastet ist und die Fahrt zum Gericht als zu zeitaufwendig ansieht (BFH-Beschluß vom 17. Januar 1989 X B 180/88, BFH/NV 1989, 645). Eine größere Entfernung zwischen Gericht und Kanzlei begründet ebenfalls keinen Sonderfall, wenn es möglich ist, daß die Akten an ein Gericht oder eine Behörde am Sitz des Bevollmächtigten übersandt und dort eingesehen werden können (BFH-Beschluß vom 10. Oktober 1990 II B 73/90, BFH/NV 1991, 332; Senats-Beschluß vom 28. Januar 1986 VII B 161/85, BFH/NV 1986, 614). Ob ein Grund für die Abweichung von der Regel etwa dann anzunehmen sein könnte, wenn ein Prozeßbevollmächtigter aufgrund körperlicher Gebrechen nicht in der Lage wäre, die Akteneinsicht außerhalb seiner Geschäftsräume durchzuführen (vgl. BFHE 133, 8, 12), braucht nicht entschieden zu werden. Im anhängigen Verfahren begründet der Prozeßbevollmächtigte das Übersendungsbegehren damit, daß ihm die Akteneinsicht bei einem Gericht oder einer Behörde weder zeitlich möglich noch zumutbar sei. Damit macht er aber, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, keine Gründe geltend, die eine Ausnahme von dem dargestellten Grundsatz rechtfertigen.
3. Die Beschränkung der Aktenübersendung in die Kanzlei eines Prozeßbevollmächtigten auf Sonderfälle ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Die in der BFH-Rechtsprechung entwickelten Grundsätze tragen dem Anspruch auf rechtliches Gehör in ausreichender Weise Rechnung und sind mit Art.103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vereinbar. Diese Vorschrift geht davon aus, daß die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben muß (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 8. Januar 1959 1 BvR 396/55, BVerfGE 9, 89, 95; BVerfG-Beschluß vom 9. März 1965 2 BvR 176/63, BVerfGE 18, 399, 405; Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 27. Lfg., Art.103 Rn.74). Die in § 78 FGO getroffene Regelung trägt dem Recht auf Gehör ausreichend Rechnung (BVerfG-Beschluß vom 26. August 1981 2 BvR 637/81, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 78, Rechtsspruch 10). Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG verlangt das Recht auf Gehör, daß einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen Stellung zu nehmen den Beteiligten Gelegenheit gegeben war. Diese Gelegenheit haben die Beteiligten auch dann, wenn sie die Gerichtsakten und Beiakten nur auf der Geschäftsstelle des Gerichts einsehen können. Art.103 Abs. 1 GG verlangt nicht, daß die Beteiligten in der ihnen bequemsten und am wenigsten zeitaufwendigen Form von den der gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen und Beweisergebnissen Kenntnis nehmen können.
Die im Streitfall geltend gemachten Gründe für eine Aktenübersendung bieten auch vor dem Hintergrund der dargestellten bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung keinen Anlaß, einen Sonderfall anzunehmen. Der Prozeßbevollmächtigte macht Gründe der Zeitersparnis und Bequemlichkeit geltend. Gerade diese sind jedoch bereits vom BVerfG als für einen Ausnahmefall nicht ausreichend bewertet worden (BVerfG-Beschluß vom 26. August 1981, a.a.O., als Verfassungsbeschwerde über den Senats-Beschluß vom 7. April 1981 VII B 6/81, NV).
Es bleibt der Klägerin nach wie vor unbenommen, Akteneinsicht durch den Prozeßbevollmächtigten bei einem in dessen Nähe gelegenen Gericht oder einer sonstigen Dienststelle zu beantragen.
Fundstellen
Haufe-Index 419081 |
BFH/NV 1993, 742 |