Entscheidungsstichwort (Thema)
NZB: Austausch einer Rechtsgrundlage im gerichtlichen Verfahren, Willkürentscheidung
Leitsatz (NV)
- Auch im gerichtlichen Verfahren kann die Rechtsgrundlage ausgetauscht werden, soweit der festgestellte Sachverhalt den Tatbestand einer anderen Norm erfüllt und diese das materielle Ergebnis trägt. Verlangt die neu herangezogene Rechtsgrundlage dem Finanzamt auf der Rechtsfolgenseite eine Ermessensentscheidung ab, kann die Rechtsgrundlage indes nur ausgetauscht werden, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt.
- Von dem Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Halbsatz 2 FGO ist jedenfalls der Fall der sog. Willkürentscheidung erfasst. Willkür ist anzunehmen, wenn der Richterspruch unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, er beruhe auf sachfremden Erwägungen.
Normenkette
AO 1977 §§ 129, 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; FGO §§ 102, 115 Abs. 2 Nr. 2
Verfahrensgang
Nachgehend
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Die von der Beschwerde behauptete Abweichung des Finanzgerichts (FG) von den vom Bundesfinanzhof (BFH) aufgestellten Rechtssätzen zu § 129 der Abgabenordnung (AO 1977) liegt nicht vor. Tatsächlich ist das FG in seiner Entscheidung von den Rechtsgrundsätzen der BFH-Rechtsprechung ausgegangen. Zu Unrecht rügt die Beschwerde in diesem Zusammenhang insbesondere, das FG sei insoweit von der ständigen Rechtsprechung des BFH abgewichen, als es nicht berücksichtigt habe, dass eine Berichtigung nach § 129 AO 1977 ausgeschlossen sei, wenn die nicht nur theoretische Möglichkeit eines Fehlers in der Tatsachenwürdigung oder bei der Anwendung der Rechtsnorm bestünde. Tatsächlich hat das FG diesen Rechtssatz weder übersehen noch ignoriert. So führt es im Rahmen der Subsumtion aus, rechtliche oder tatsächliche Überlegungen des Zeugen K seien mit der Nichtstreichung des in der Erklärung eingetragenen Betrages offensichtlich nicht verbunden gewesen und (an anderer Stelle) eine Würdigung der Tatsachen durch den Sachbearbeiter in der Weise, dass er ……. einem sonst die Anwendung des § 129 AO 1977 ausschließenden Irrtum unterlegen wäre, lasse sich im Streitfall nicht erkennen. Das FG hat mithin ersichtlich schon die theoretische Möglichkeit eines Rechts- bzw. Tatsachenirrtums ausgeschlossen.
2. Ebenso wenig hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung. Die von der Beschwerde jedenfalls sinngemäß aufgeworfene Rechtsfrage, ob der Berichtigung gemäß § 129 AO 1977 entgegensteht, dass der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) kein Ermessen ausgeübt habe, ist nicht klärungsbedürftig. Zum einen ist bereits der rechtliche Ansatzpunkt der Beschwerde verfehlt. Es ist keinesfalls so, dass das FG eine Ermessensentscheidung an Stelle des FA getroffen hat. Vielmehr stellt sich die Frage, ob im gerichtlichen Verfahren die rechtliche Begründung ausgetauscht werden kann; d.h. auf den Streitfall bezogen, ob die Änderung des Bescheides statt auf die vom FA herangezogene Änderungsnorm (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977) vom FG im Urteil auf die Berichtigungsvorschrift des § 129 AO 1977 gestützt werden kann. Grundsätzlich bestehen keine Bedenken, die Rechtsgrundlage auch im gerichtlichen Verfahren auszutauschen, soweit der festgestellte Sachverhalt den Tatbestand einer anderen Norm erfüllt und diese das materielle Ergebnis trägt. Ein Austausch der Rechtsgrundlage scheidet aber dann aus, wenn die neu herangezogene Rechtsgrundlage dem FA auf der Rechtsfolgenseite eine Ermessensentscheidung abverlangt. Das Ermessen kann von dem FG nicht selbst ausgeübt werden (vgl. auch § 102 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―), sondern ist allein dem FA vorbehalten. Lediglich wenn das Ermessen im konkreten Streitfall auf Null reduziert ist und das FA insoweit auch auf der Rechtsfolgenseite in seiner Entscheidung gebunden ist, kann das FG die Entscheidung des FA unter Heranziehung der anderen Rechtsgrundlage bestätigen. Von einer Ermessensreduzierung auf Null ist das FG aber unter Hinweis auf das Urteil des BFH vom 28. Oktober 1992 II R 111/89 (BFH/NV 1993, 637) ausgegangen. Diese rechtliche Würdigung ist, soweit der Tatbestand des § 129 AO 1977 bejaht wird, zutreffend. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit durch das bisherige Verhalten des FA im Vorverfahren bzw. im gerichtlichen Verfahren eine Selbstbindung eingetreten ist, die es rechtfertigen könnte, von einer Berichtigung gemäß § 129 AO 1977 Abstand zu nehmen. Soweit die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) geltend machen, dass angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalls ein Ermessensspielraum des FA bestanden habe, handelt es sich um rein materiell-rechtliche Erwägungen, mit denen die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht hinreichend dargelegt wird.
3. Ebenso wenig ist die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Halbsatz 2 FGO zur Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Von dem neuen Zulassungsgrund ist nach wohl überwiegender Meinung der Senate des BFH jedenfalls der Fall der sog. Willkürentscheidung erfasst. Willkür ist anzunehmen, wenn der Richterspruch unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, er beruhe auf sachfremden Erwägungen (vgl. aus jüngerer Zeit: Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Februar 2001 2 BvR 460/93, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2001, 496). Eine solche Willkürentscheidung vermag der Senat im vorliegenden Fall indes nicht zu erkennen. Die von dem FG auf Grund der Aussage des Zeugen K vorgenommene Würdigung, K habe bei der Eingabe der Beteiligungseinkünfte rechtliche und tatsächliche Überlegungen nicht angestellt, die Eintragung unter der Kennziffer 12 habe vielmehr auf einer Unachtsamkeit beruht, bewegt sich im Rahmen der dem Tatgericht obliegenden Beweiswürdigung. Wenngleich die rechtliche Würdigung des FG nicht zwingend erscheint, so ist sie jedenfalls möglich und vertretbar. Auf Grund der protokollierten Aussage des K, die nach der unanfechtbaren Ablehnung des Protokollberichtigungsantrags in dem Beschwerdeverfahren zu Grunde zu legen ist, ist die Annahme des FG, K habe lediglich die Notwendigkeit der Einstellung des Cursors auf die Kennziffer 16 übersehen, obwohl ihm bei der Eintragung bewusst gewesen sei, dass er den bereits vorhandenen Betrag überschreiben würde, jedenfalls mit den Denkgesetzen vereinbar. Insoweit hat das FG im Rahmen seiner Beweiswürdigung ersichtlich maßgeblich berücksichtigt, dass K den bisher unter der Kennziffer 12 eingetragen Betrag nicht durchgestrichen hatte. Daraus hat es entsprechend der protokollierten Einlassung des K gefolgert, dass dieser einen weiteren Betrag habe eingeben wollen und dessen Eintragung nur infolge eines Flüchtigkeitsfehlers unterblieben sei. Für diese Wertung spricht auch der Umstand, dass K im Rahmen der Auswertung einer weiteren Mitteilung betreffend Beteiligungseinkünfte des Klägers aus einer gewerblichen Mitunternehmerschaft den bisher unter der Kennziffer 14 Sachbereich 21 eingetragenen Betrag durchgestrichen und mit dem in der Mitteilung aufgeführten Betrag handschriftlich überschrieben hat. Dass das Urteil des FG auf sachfremden Erwägungen beruht, vermag der Senat daher nicht zu erkennen. Dies folgt, anders als die Kläger meinen, ebenso wenig daraus, dass das FA und das FG im ersten Rechtsgang eine andere Rechtsauffassung vertreten haben. Insoweit verkennen die Kläger, dass der Sachverhalt im zweiten Rechtsgang erstmals durch Befragung des K aufgeklärt worden ist, während im ersten Rechtsgang sowohl das FG als auch das FA ihren rechtlichen Ausführungen einen fiktiven Sachverhalt zu Grunde gelegt hatten.
4. Von einer weiteren Begründung, insbesondere von der Darstellung des Tatbestandes, sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 2. Halbsatz FGO ab.
Fundstellen
Haufe-Index 1084524 |
BFH/NV 2004, 343 |