Entscheidungsstichwort (Thema)
Verhandlung trotz Abwesenheit des geladenen Beteiligten; Büroorganisation
Leitsatz (NV)
1. Zu einer nicht ermessensfehlerhaften Entscheidung, trotz Ausbleibens des geladenen, nicht entschuldigten Klägervertreters mündlich zu verhandeln.
2. Das Verschulden der nach § 53 BRAO bestellten Vertreterin eines Rechtsanwalts ist dem Beteiligten nicht zuzurechnen, wenn diese in seiner Sache wie eine bloße Bürohilfskraft eingesetzt war.
3. Ein Rechtsanwalt darf seinem Büropersonal nicht völlig selbständig die Prüfung überlassen, ob durch ein Schriftstück eine Frist in Lauf gesetzt wird.
4. Es ist ein Organisationsverschulden, wenn der Rechtsanwalt darauf verzichtet, sich auf Anordnung eines Gerichts zugestellte Post selbst vorlegen zu lassen.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1, § 92 Abs. 1; BRAO § 53
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 FGO vorliegt.
1. Die sinngemäß erhobene Rüge, das FG habe den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO) dadurch verletzt, daß es bei der mündlichen Verhandlung nicht auf den Prozeßbevollmächtigten des Klägers gewartet habe, ist nicht schlüssig erhoben, zumindest nicht begründet.
Das FG genügt dem Gebot, den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren, in der Regel dadurch, daß es eine mündliche Verhandlung anberaumt, die Beteiligten ordnungsgemäß lädt, die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet und den erschienenen Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung gibt (Urteile des BFH vom 10. August 1988 III R 220/84, BFHE 154, 17, BStBl II 1988, 948, und vom 25. September 1990 IX R 207/87, BFH/NV 1991, 397). Ist beim Sitzungstermin ein geladener Beteiligter nicht anwesend, so liegt es im Ermessen des Vorsitzenden, ob er gleichwohl die mündliche Verhandlung eröffnet (§ 92 Abs. 1 FGO) oder noch eine gewisse Zeit abwartet (Beschluß des BVerwG vom 10. Juli 1985 2 B 43/85, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1987, 148; BVerwG-Urteil vom 11. April 1989 9 C 55/88, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1989, 857). Dabei hat er das voraussichtliche Interesse des Beteiligten an der Teilnahme gegen das Interesse des Gerichts sowie der an nachfolgenden Verfahren Beteiligten an möglichst pünktlicher Einhaltung der Tagesordnung zu berücksichtigen.
Im Streitfall ist die Entscheidung des Vorsitzenden, die mündliche Verhandlung in Abwesenheit des Klägers und dessen Prozeßbevollmächtigten durchzuführen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das FG durfte erwarten, daß es gegebenenfalls benachrichtigt würde, wenn mit einem verspäteten Erscheinen des Prozeßbevollmächtigten zu rechnen sein sollte. Denn eine solche Ankündigung ist weder unmöglich noch unzumutbar. Das FG durfte ferner in Rechnung stellen, daß der Streitstoff einfach war und klar zu Tage lag und daß der Kläger seinen Rechtsstandpunkt, was die vorrangige Frage der Wiedereinsetzung anging, bereits schriftlich dargelegt hatte. Es mußte sich ihm nicht aufdrängen, daß der Kläger auf ein Erscheinen in der mündlichen Verhandlung voraussichtlich nicht verzichten, sondern noch neue entscheidungserhebliche Gesichtspunkte werde vortragen wollen. Wenn der Vorsitzende bei dieser Sachlage die mündliche Verhandlung eröffnete und in der letzten der drei den Kläger betreffenden, gleichzeitig terminierten Sachen bereits 9 Minuten nach dem für den Beginn der Verhandlung vorgesehenen Zeitpunkt beendete und wenn das FG später, als der Prozeßbevollmächtigte des Klägers doch noch sein Erscheinen mitteilen ließ, die mündlichen Verhandlungen auch nicht wiedereröffnete (wegen dieser Möglichkeit vgl. BFH-Urteil in BFHE 154, 17, BStBl II 1988, 948), kann deshalb der Vorwurf eines Ermessensmißbrauchs nicht erhoben werden. Das würde bei einem Streitfall, wie dem vorliegenden, auch dann gelten, wenn das Vorbringen der Beschwerde zutrifft, daß beim FG ... im allgemeinen 15 Minuten gewartet wird.
2. Das Urteil des FG leidet auch nicht deshalb an einem Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, weil das FG dem Kläger keine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Bezeichnung des Gegenstandes des Klagebegehrens (§ 65 Abs. 2 Satz 2 FGO) gewährt hat.
Wiedereinsetzung ist nach § 56 Abs. 1 FGO demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden gehindert war, die vorgenannte Frist einzuhalten. Das Verschulden eines Vertreters hat der Beteiligte sich dabei wie eigenes anrechnen zu lassen. Die Fristversäumnis beruht im Streitfall auf einem solchen dem Kläger anzurechnenden Verschulden.
Die Ehefrau des Prozeßbevollmächtigten des Klägers, auf deren Handlungsweise es unmittelbar zurückzuführen ist, daß die vom FG nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO gesetzte Frist nicht beachtet worden ist, ist allerdings nicht deshalb als Vertreterin des Klägers anzusehen, weil sie nach § 53 der Bundesrechtsanwaltsordnung bestellte anwaltliche Vertreterin des vom Kläger selbst zu seinem Vertreter bestellten Prozeßbevollmächtigten war, sofern sie der Prozeßbevollmächtigte des Klägers in der Streitsache wie eine bloße Bürohilfskraft eingesetzt hat (vgl. Beschlüsse des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 11. Dezember 1978 II ZB 12/78, Versicherungsrecht 1979, 232, und vom 1. April 1992 XII ZB 21/92, NJW-Rechtsprechungs- Report Zivilrecht 1992, 1019). Selbst wenn letzteres angenommen wird, ist jedoch die Fristversäumnis nicht entschuldigt. Denn ein Rechtsanwalt darf, ohne daß ihm Organisationsverschulden zur Last fällt, nicht -- über die bloße Berechnung und Notierung von Fristen und die Überwachung so notierter Fristen hinaus -- seinem Büropersonal völlig selbständig die Prüfung überlassen, ob durch ein Schriftstück eine Frist in Lauf gesetzt wird; er darf insbesondere nicht darauf verzichten, sich die auf Anordnung eines Gerichts förmlich zugestellte Post selbst vorlegen zu lassen und durchzusehen (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluß vom 16. August 1990 BReg 2 Z 88/90, Monatsschrift für Deutsches Recht 1990, 1125; Beschlüsse des BGH vom 2. Juli 1980 IV b ZB 516/80, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1980, 2261, sowie vom 21. Februar 1974 II ZB 13/73, NJW 1974, 861, und vom 11. März 1980 X ZB 4/80, NJW 1980, 1846).
3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung sieht der Senat gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ab.
Fundstellen
BFH/NV 1997, 773 |
JurBüro 1999, 277 |