Entscheidungsstichwort (Thema)
Im PKH-Verfahren: gerichtliche Überprüfung einer Ermessensentscheidung bei überlanger Prozeßdauer
Leitsatz (NV)
1. Begehrt der Kläger einen Erlaß von Steuern aus Billigkeitsgründen, sind für die gerichtliche Überprüfung der Ermessensentscheidung die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung maßgebend.
2. Die nachträgliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse kann die Grundlage für einen erneuten Erlaßantrag sein. Auf der Grundlage eines neuen Antrags kann die Verwaltung neue Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen, die dem auf die Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkten Gericht verwehrt sind.
3. Steht nach überlanger Verfahrensdauer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung fest, daß sich die tatsächlichen Grundlagen für die Überprüfung des Verwaltungsermessens in zumindest einem maßgeblichen Punkt geändert haben, kann die Aufrechterhaltung des ablehnenden Verwaltungsaktes jedenfalls dann rechtswidrig sein, wenn der Steuerpflichtige einen Rechtsanspruch auf erneute Bescheidung hat.
4. Bei der Prüfung, ob der Steuerpflichtige erlaßwürdig ist, fällt sein Verhalten - hier: Buchführungsmängel - weniger ins Gewicht, wenn die beanstandeten Vorgänge sehr lange Zeit zurückliegen.
Normenkette
AO 1977 § 227; FGO § 102
Tatbestand
Der Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) begehrt Prozeßkostenhilfe (PKH) für seine Klage auf Erlaß von Umsatzsteuer 1974 bis 1981, Verspätungszuschlägen und Hinterziehungszinsen in Höhe von insgesamt 196930,58 DM.
Der Kläger war von 1963 bis Ende 1981 Inhaber einer Baunternehmung. Seit dem Jahre 1984 ist er nichtselbständig tätig.
Da der Kläger keine Steuererklärungen abgegeben hatte, wurden die Besteuerungsgrundlagen für die Einkommen- und Umsatzsteuer 1971 bis 1974, 1977 und 1978 geschätzt. Der Beklagte (das Finanzamt - FA -) führte im Jahre 1978 eine Außenprüfung für die Veranlagungszeiträume 1971 bis 1975 durch, zu deren Beginn die Steuererklärungen für die Jahre ab 1971 vorgelegt wurden; im Jahre 1980 folgte eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung für den Zeitraum 1978 bis Juni 1980. Die Buchführung des Klägers für die Jahre 1971 bis 1975 wies schwerwiegende Mängel auf (u.a. Kassenfehlbeträge zwischen 982 DM und 5369 DM, Unvollständigkeit der Belegsammlung und der Inventuren). Der Prüfer und ihm folgend das FA schätzte die Besteuerungsgrundlagen. Bei der Schätzung der Umsätze für das Jahr 1974 erfaßte das FA Leistungen des Klägers in Höhe von ... DM aus der Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit 22 Wohneinheiten an die aus ihm und seiner Ehefrau bestehenden Grundstücksgemeinschaft als steuerbare Umsätze. Die Umsatzsteuer-Sonderprüfung führte zur Festsetzung von erheblich höheren Steuern, da der Kläger seine Umsätze nicht vollständig vorangemeldet hatte.
Der Kläger ist durch Urteil des Amtsgerichts vom 19. September 1983 wegen fortgesetzter Hinterziehung von Umsatzsteuer in Höhe von 30000 DM im Zeitraum zwischen Anfang 1979 und Mitte 1980 zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 30 DM verurteilt worden. Ausweislich des Schreibens des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof (BGH) vom 15. Januar 1990 sollte die Tilgungsreife am 19. September 1993 eintreten. Der Kläger hat dargelegt, er sei seither straffrei geblieben.
Mit Schreiben vom 17. Juli 1984 beantragte der Kläger, die gesamten Steuerrückstände aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Sie stünden im Zusammenhang mit dem Bau und Verkauf eines Mehrfamilienhauses. Er habe nicht damit gerechnet, daß seine Bauleistungen an die Ehegatten-Grundstücksgemeinschaft umsatzsteuerbar seien; sein Steuerberater habe ihn diesbezüglich nicht belehrt. Sein Unternehmen habe er wegen großer Verluste einstellen müssen.
Die Steuerrückstände, deren Erlaß begehrt wird, beruhen auf den Ergebnissen der beiden Außenprüfungen. Die jeweiligen Änderungsbescheide sind bestandskräftig.
Das FA lehnte den Erlaßantrag ab. Es sah den Kläger nicht als erlaßbedürftig und - wegen Nichtabgabe von Steuererklärungen, schwerwiegender Buchführungsmängel und der Verurteilung wegen Steuerhinterziehung - nicht als erlaßwürdig an. Mit der Beschwerde trug der Kläger u.a. vor, unter Berücksichtigung von Tilgungsleistungen an die Bank habe er zur Bestreitung des Lebensunterhalts 843,82 DM zur Verfügung.
Die Oberfinanzdirektion (OFD) hat die Beschwerde mit Entscheidung vom 17. April 1986 als unbegründet zurückgewiesen. Der Besteuerung sei die vom Steuerpflichtigen gewählte Gestaltung zugrunde zu legen. Diesbezügliche Fehlentscheidungen gehörten ebenso zum unternehmerischen Risiko wie durch Nachfragemangel oder Zinssteigerungen verursachte Schwierigkeiten des Unternehmens; sie rechtfertigen keinen Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen. Der Kläger sei auch nicht erlaßwürdig. Auch die in den Jahren 1978 bis 1980 hinterzogenen Umsatzsteuern seien noch in voller Höhe rückständig. Die Erlaßbedürftigkeit sei deswegen zu verneinen, weil der Kläger mehr als die Hälfte seines Einkommens zur Tilgung privater Schuldverbindlichkeiten verwende. Es könne nicht hingenommen werden, daß er seine Steuerschulden zugunsten privater Gläubiger vernachlässige.
Mit der beim Finanzgericht (FG) seit Mai 1986 anhängigen Klage verfolgt der Kläger seinen Erlaßantrag weiter. Er weist ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen u.a. darauf hin, daß der in seinem Arbeitsleben noch erzielbare Verdienst nicht ausreichen werde, seine Steuerschulden zu tilgen. Die Umsätze für die Jahre 1978 bis 1980 habe er nicht ordnungsgemäß erklärt, weil er einen Konkurs habe vermeiden wollen.
Das FG hat den zeitgleich mit der Klageerhebung gestellten Antrag auf PKH durch Beschluß vom 12. Oktober 1992 abgelehnt. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung biete keine Aussicht auf Erfolg. Nach den insoweit maßgeblichen Verhältnissen im Zeitpunkt der letztinstanzlichen Verwaltungsentscheidung sei die behördliche Ermessensentscheidung rechtsfehlerfrei. Soweit die umsatzsteuerbaren Leistungen an die Ehegatten-Grundstücksgmeinschaft zu beurteilen seien, werde eine sachliche Unbilligkeit nicht durch eine mißglückte, zu einer Steuerbelastung führende zivilrechtliche Gestaltung begründet. Zutreffend habe das FA festgestellt, daß der Kläger in erheblichem Umfang seine Erklärungspflichten verletzt habe. In diesem Zusammenhang berufe er sich im Ergebnis ohne Erfolg auf eigene Unkenntnis und auf ein Mitverschulden der Verwaltung und seines Steuerberaters. Auch hätten die Finanzbehörden die Erlaßwürdigkeit ermessensfehlerfrei verneint. Die Erlaßbedürftigkeit sei mit der zutreffenden Begründung verneint worden, daß ein Steuererlaß nicht dem Kläger persönlich zugute käme. Auch habe die Bank keine Bereitschaft gezeigt, auf eigene Ansprüche zu verzichten. Da der Kläger nunmehr in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehe, werde durch die Verweigerung des Erlasses weder sein notwendiger Lebensunterhalt noch seine Erwerbstätigkeit gefährdet; die gesetzlichen Pfändungsfreigrenzen böten ihm ausreichend Schutz für seinen notwendigen Lebensunterhalt.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde. Er habe das Strafurteil des Amtsgerichts hingenommen, weil er sich damals in einer ausweglosen Situation befunden habe. Die Strafe werde nicht mehr in ein Führungszeugnis aufgenommen (§ 41 des Bundeszentralregistergesetzes). Durch die Nichtabgabe der Steuererklärungen habe er keinesfalls Steuern hinerziehen wollen; die vom FA geschätzten Steuerbeträge hätten im wesentlichen mit den tatsächlich geschuldeten Beträgen übereingestimmt. Er habe sich damals auf seinen Steuerberater verlassen, den, wie auch das Amtsgericht festgestellt habe, eine Mitschuld an der Entwicklung der Dinge treffe. Der Steuerberater habe ihm dies und die Verantwortlichkeit für den umsatzsteuerrechtlichen Irrtum mit Schreiben vom 23. Oktober 1991 bestätigt. Er habe seine Unterlagen dem Büro des Beraters stets pünktlich zugeleitet. Mit seinem Bauunternehmen sei er völlig unverschuldet Opfer einer Rezession und einer ungünstigen Zinsentwicklung geworden. Sein Arbeitsplatz sei nur noch bis März 1994 sicher, sofern er überhaupt noch arbeitsfähig bleibe. Er habe keine erheblichen Anwartschaften auf eine Altersversorgung.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet.
1. Nach § 142 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 der Zivilprozeßordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozeßführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtige Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Eine beabsichtigte Rechtsverfolgung verspricht Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers nach dessen Sachdarstellung und den vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält, in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist und bei summarischer Prüfung eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß das angestrebte Verfahren erfolgreich sein wird (Senatsbeschluß vom 15. Oktober 1992 X B 152/92, BFH/NV 1993, 80, m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor.
2. Da der Kläger einen Erlaß nach § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) und damit eine Ermessensentscheidung begehrt, hat das FG gemäß § 102 FGO lediglich zu prüfen, ob mit der Ablehnung der beantragten Billigkeitsmaßnahme die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder von dem Ermessen in zweckwidriger Weise Gebrauch gemacht worden ist. Nach ständiger Rechtsprechung sind für diese Prüfung die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung maßgebend. Dieser Grundsatz wird begründet mit dem Wesen einer Ermessensermächtigung, einen Spielraum dafür zu geben, unter einer Mehrzahl von rechtlich zulässigen Verhaltensweisen zu wählen; hieraus folge, daß die nach näherer Maßgabe des § 102 FGO gebotene gerichtliche Rechtskontrolle nur auf den Zeitpunkt der Wahl durch die Verwaltungsbehörde selbst bezogen sein könne (BFH-Urteile vom 26. Juli 1972 I R 158/71, BFHE 106, 489, BStBl II 1972, 919; vom 26. März 1991 VII R66/90, BFHE 164, 7, BStBl II 1991, 545, jeweils m.w.N.). Indes kann eine nachträgliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse die Grundlage für einen erneuten Erlaßantrag sein (BFH-Urteil vom 19. Dezember 1962 IV 433/60, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1963, 223; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 227 AO 1977 Tz. 78). Auf der Grundlage eines neuen Antrags kann die Verwaltung neue Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen, die dem Gericht, das auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist, verwehrt sind. Trägt der Steuerpflichtige schlüssig - jedenfalls nachträglich eingetretene - Umstände vor, welche die Grundlagen der ersten Ermessensentscheidung berühren, kann die Verwaltung verpflichtet sein, den aufrechterhaltenen oder einen erneut gestellten Erlaßantrag erneut zu bescheiden.
Krabbe (in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 4. Aufl. 1993, § 227 Rdnr. 75) vertritt die Auffassung, daß dann, wenn dem Gericht Gesichtspunkte vorgetragen werden, die einen Erlaß rechtfertigen können, dieses die Verwaltung aufzufordern habe, aufgrund der neuen Sachlage über den Erlaßantrag erneut zu entscheiden. Es kann dahingestellt bleiben, ob dem allgemein zu folgen ist. Jedenfalls kann das FG nicht gehalten sein, die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts zu bestätigen, obwohl nach überlanger Verfahrensdauer bereits im Zeitpunkt seiner Entscheidung feststeht, daß sich die tatsächlichen Grundlagen für die Betätigung des Verwaltungsermessens aufgrund Zeitablaufs in einem für die damalige Ermessensentscheidung maßgeblichen Punkt verändert haben. Unter dieser Voraussetzung ist die Auffassung vertretbar, daß die Aufrechterhaltung des ablehnenden Verwaltungsaktes jedenfalls dann rechtswidrig ist, wenn der Steuerpflichtige einen Rechtsanspruch auf erneute Bescheidung hat. Eine Sachentscheidung des FG über die bislang angefochtene Ermessensentscheidung würde den Zweck der Gewährung von Rechtsschutz verfehlen, weil sie das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten nicht mehr auf Dauer gestalten könnte.
3. Es besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, daß es sich im Streitfall so verhält.
Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen bewerten steuerliches Fehlverhalten des Klägers bei seiner Buchführung und der Abgabe der Steuererklärungen ebenso wie den Umstand, daß dieser bei der Tilgung seiner Schulden einen privaten Gläubiger bevorzugt hat. FA und OFD haben insoweit eine Gesamtwürdigung vorgenommen, sie haben nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß eines der Begründungselemente für sich allein die Ablehnung eines Steuererlasses aus Billigkeitsgründen rechtfertigen würde. Mithin kann ein Anspruch auf erneute Bescheidung bereits dann gegeben sein, wenn ein einzelner für die Gesamtwürdigung wesentlicher Umstand entfallen ist.
In dem seit Mai 1986 anhängigen Gerichtsverfahren könnte das FG im Zeitpunkt seiner Entscheidung zu dem vertretbaren Ergebnis kommen, daß sich hier die Sach- und Rechtslage bereits aufgrund des Zeitablaufs in einer die Beurteilung der Ermessensausübung wesentlichen Weise verändert hat. Die Zeiträume, für welche Buchführungsmängel festgestellt worden sind, liegen nunmehr zum Teil mehr als 20 Jahre zurück. Die Vorschriften des Bundeszentralregistergesetzes geben einen für die Ausübung von Ermessen bedeutsamen Anhaltspunkt dafür, daß auch Straftaten mit der Zeit nicht mehr geeignet sind, Grundlage für ein die Person des Steuerpflichtigen betreffendes Unwerturteil zu sein. Dies hat notwendigerweise Auswirkungen für die Prüfung der Erlaßwürdigkeit. Fallen diese Umstände für die Ausübung des Ermessens heute weniger ins Gewicht als im Jahre 1986, ist auch zu berücksichtigen, daß die Verletzung von steuerlichen Erklärungspflichten für sich allein noch nicht zwingend die Erlaßwürdigkeit entfallen läßt; vielmehr muß das Allgemeininteresse gegen die Pflichtverletzungen abgewogen werden. Das Ergebnis der Ermessensentscheidung hängt auch insoweit von einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Falles ab (BFH in BFH/NV 1993, 80, 91, m.w.N.). Schließlich ist denkbar, daß sich zwischenzeitlich die wirtschaftliche und berufliche Situation des Klägers ebenso geändert hat wie seine Fähigkeit und Bereitschaft, zumindest die hinterzogenen Umsatzsteuern zu entrichten.
4. Da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, war seine Entscheidung aufzuheben. Der Senat hält es für zweckmäßig, die Sache an das FG zurückzuverweisen. Die zu den Akten des FG eingereichte Erklärung des Klägers über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse datiert vom 15. Juli 1988; sie gibt damit keine verläßliche Auskunft über die derzeitigen Verhältnisse des Klägers. Das FG wird gegebenenfalls weiterhin prüfen, mit welcher Maßgabe (§ 120 ZPO) die PKH bewilligt werden kann.
Fundstellen
Haufe-Index 419520 |
BFH/NV 1994, 562 |