Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
1.§ 107 Abs. 1 AO gilt auch für Wissenserklärungen. Er ist auch auf die Unterzeichnung von Steuererklärungen anzuwenden.
2.Zur Frage, wann ein Steuerpflichtiger im Sinne von § 107 Abs. 1 AO "sonst verhindert" ist, Pflichten zu erfüllen, die ihm im Interesse der Besteuerung obliegen.
AO §§ 107 Abs. 1, 166; EStDV 1958 § 60 Abs. 1 Satz 2.
Normenkette
AO § 107 Abs. 1, § 166; EStDV § 60 Abs. 1
Gründe
Es trifft zu, daß die Steuererklärung in der Hauptsache eine Wissenserklärung ist (Becker, Reichsabgabenordnung, 7. Auflage, § 168, Anm. 2). Deswegen ist jedoch die Anwendbarkeit des § 107 Abs. 1 AO auf den Fall der Abgabe einer Steuererklärung nicht ausgeschlossen. Es mag dahingestellt bleiben, ob sich die Verweisung des § 102 Abs. 2 AO auf die Vorschriften des bürgerlichen Rechts über Vertretung und Vollmacht (§§ 164 ff. BGB) nur auf rechtsgeschäftliche Willenserklärungen bezieht. Der in dieser Verweisung enthaltenen Einschränkung "soweit in den §§ 103 bis 111 nichts anderes vorgeschrieben ist" kann jedenfalls nicht entnommen werden, daß sich auch die Anwendung des § 107 Abs. 1 AO auf die Fälle der Vertretung im Willen beschränkt. Sinn und Wortlaut dieser Vorschrift stehen einer solchen Auslegung entgegen. Sie läßt eine Bevollmächtigung ohne Einschränkung in allen Fällen zu, in denen eine Person durch Abwesenheit oder sonst verhindert ist, Pflichten zu erfüllen, die ihr im Interesse der Besteuerung obliegen, oder Rechte wahrzunehmen, die ihr nach den Steuergesetzen zustehen. Da die Pflichten, die im Interesse der Besteuerung zu erfüllen sind, in den weitaus überwiegenden Fällen gerade darin bestehen, den Steuerbehörden das Wissen um die Grundlagen der Besteuerung mitzuteilen, umfaßt der Anwendungsbereich des § 107 Abs. 1 AO in besonderem Maße die Fälle, in denen Wissenserklärungen abgegeben werden (siehe auch Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 107, Anm. 2; Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 6. Auflage, § 107, Anm. 1; Berger, Die Reichsabgabenordnung nach ihren Schwerpunkten für die Praxis, § 107, Anm. Abs. 1).
Die Vorschrift des § 107 Abs. 1 AO gilt auch für den Fall der Abgabe einer Steuererklärung. Dem steht nicht entgegen, daß § 60 Abs. 1 Satz 2 EStDV 1958 übereinstimmend mit § 65 Abs. 2 letzter Satz und § 66 Abs. 3 Satz 2 UStDB eigenhändige Unterzeichnung der Erklärungen verlangt. Zwar bedeutet § 60 Abs. 1 Satz 2 in seiner Fassung seit der EStDV 1953 (damals § 42 Abs. 1 Satz 2 EStDV) insofern eine Abweichung gegenüber § 42 Abs. 1 Satz 2 EStDV 1951, als diese Vorschrift die Unterzeichnung durch einen Bevollmächtigten noch ausdrücklich vorgesehen hat. Die Änderung des Wortlauts bedeutet jedoch keine Änderung der Rechtslage. Weder wollte § 42 EStDV 1951 die Möglichkeit der Bevollmächtigung uneingeschränkt und ohne Rücksicht auf die Voraussetzungen des § 107 Abs. 1 AO zulassen (vgl. dazu Terstegen, Steuer und Wirtschaft, 1951, Sp. 131/135), noch sollte die Bevollmächtigung durch § 60 Abs. 1 in der Fassung seit der EStDV 1953 (damals § 42 Abs. 1 Satz 2 EStDV) schlechthin ausgeschlossen werden. Trotz des Erfordernisses der eigenhändigen Unterzeichnung kann im Falle der Abwesenheit eines Steuerpflichtigen, z. B. bei Aufenthalt im Ausland, oder der Verhinderung durch Krankheit die Steuererklärung durch einen Bevollmächtigten abgegeben werden. Auch kann die Rechtslage etwa für die Gewerbesteuererklärung nicht lediglich deshalb eine andere sein als für die Einkommensteuererklärung oder die Erklärung zur einheitlichen Gewinnfeststellung, weil § 25 GewStDV eigenhändige Unterzeichnungen nicht ausdrücklich vorschreibt (für Anwendung des § 107 Abs. 1 AO vgl. auch Herrmann- Heuer, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, § 25, Anm. 18; Hartmann-Böttcher, Großkommentar zur Einkommensteuer, § 25, Anm. 9 a; Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O., § 168, Anm. 5).
Die Voraussetzungen einer Verhinderung im Sinne des § 107 Abs. 1 AO sind im Entscheidungsfalle jedoch nicht gegeben. Die Frage, wann ein Steuerpflichtiger "sonst verhindert" ist, läßt sich nicht einheitlich für alle steuerlichen Pflichten bestimmen. Die Entscheidung hängt davon ab, welches Maß an persönlicher Mitwirkung im einzelnen Fall gefordert werden muß, um die sachgerechte Erfüllung der auferlegten steuerlichen Pflicht sicherzustellen. Je mehr persönliche Mitwirkung erforderlich ist, um so strenger müssen die Anforderungen sein, die an die Zulässigkeit der Vertretung zu stellen sind (Kühn, a. a. O., § 107, Anm. 2 b).
Die Steuererklärung dient als Unterlage für die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen oder für die Festsetzung der Steuer (§ 166 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie bildet eine besonders wichtige Grundlage der Veranlagung (Becker, a. a. O., § 168, Anm. 2; Hübschmann-Hepp- Spitaler, a. a. O., § 166, Anm. 2; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, § 166, Anm. 1). Das erhöhte Gewicht, das der Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung zukommt, ist durch die in § 166 Abs. 1 Satz 1 AO vorgeschriebene Versicherung, daß die Angaben nach bestem Wissen und Gewissen gemacht sind, besonders hervorgehoben. Angesichts dieser gesteigerten Bedeutung der Steuererklärungspflicht ist es geboten, daß der Steuerpflichtige im Rahmen des ihm Möglichen und Zumutbaren nicht nur sein Wissen von den erklärungserheblichen Tatsachen zur Verfügung stellt, sondern auch eine weitgehende Überwachung derjenigen Personen ausübt, deren er sich bei der Vorbereitung der Steuererklärungen zu seiner Unterstützung bedient. Dem entspricht es, daß nach steuerstrafrechtlicher Beurteilung eine Fahrlässigkeit vorliegen kann, wenn der Steuerpflichtige ins Auge springende Unterschiede seiner Steuererklärungen nicht vor Unterzeichnung und Einreichung beim Finanzamt mit seinem steuerlichen Berater bespricht (Urteil des Bundesgerichtshofs 3 StR 675/52 vom 18. Juni 1953, Deutsche Steuer-Rundschau 1953 S. 474).
Bei der zunehmenden Kompliziertheit der Steuergesetzgebung kann der Tätigkeit des steuerlichen Beraters bei Erstellung der Steuererklärungen eine gewichtige Bedeutung zukommen. Damit ist der Steuerpflichtige jedoch nicht jeder Mitwirkungspflicht bei der Abgabe der Steuererklärung enthoben. Auf Grund seiner Kenntnis der Verhältnisse und der einzelnen Geschäftsvorfälle ist er in einem bestimmten Rahmen zur Überprüfung und verantwortlichen Zeichnung der Steuererklärungen in der Lage und verpflichtet.
Liegt somit, wie im Entscheidungsfalle, eine Verhinderung im Sinne des § 107 Abs. 1 AO nicht vor, so ist es in das Ermessen des Finanzamts gestellt, gemäß § 107 Abs. 4 Satz 1 AO dennoch einen Bevollmächtigten zuzulassen. Bei Ausübung dieses Ermessens ist es an Recht und Billigkeit gebunden (Gutachten des Bundesfinanzhofs Gr.S.D 1/51 S vom 17. April 1951, BStBl 1951 III S 107, Slg. Bd. 55 S. 277). Der Senat vermag einen Verstoß des Finanzamts gegen die Grundsätze richtiger Ermessensausübung nicht festzustellen. Er schließt sich aus den vorgenannten Gründen der Auffassung des Reichsfinanzhofs in seinem UrteilIV A 12/28 vom 15. Februar 1928 (RStBl 1928 S. 112) an, nach der es bei Abgabe der Steuererklärung wesentlich darauf ankommt, daß der Steuerpflichtige selbst die Verantwortung für den Inhalt der Erklärungen übernimmt.
Fundstellen
Haufe-Index 410556 |
BStBl III 1962, 493 |
BFHE 75, 620 |