Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, ob die Rechtsmittelfrist gewahrt ist, wenn eine Rechtsmittelschrift am letzten Tag der Frist nach Dienstschluß in einen nicht als Nachtbriefkasten eingerichteten Hausbriefkasten des FG eingeworfen wird.
Normenkette
FGO § 54 Abs. 2, § 56 Abs. 1; ZPO § 222 Abs. 1; BGB § 188 Abs. 2
Tatbestand
Im Laufe der Klageverfahren änderte das FA mit Einverständnis des Klägers die Steuerbescheide für 1969 und 1970 gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO.
Der Kläger und das FA erklärten die Hauptsache für erledigt. Mit Beschlüssen vom 3. Juli 1974 erließ das FG Kostenentscheidungen.
Gegen die Kostenbeschlüsse, die dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers laut Postzustellungsurkunde am 17. Juli 1974 zugestellt wurden, legte der Kläger Beschwerde ein. Die Beschwerdeschreiben tragen das Datum vom 31. Juli 1974. Sie wurden mit dem Eingangsstempel des FG "1. August 1974" sowie mit dem Stempelaufdruck "Frühleerung" versehen.
Mit Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 12. September 1974 wurde der Kläger darauf hingewiesen, daß nicht erkennbar sei, ob die bis zum 31. Juli 1974 laufende Beschwerdefrist eingehalten worden sei. Der Kläger erklärte hierauf, die Beschwerdeschriftsätze vom 31. Juli 1974 seien von seinem Prozeßbevollmächtigten am 31. Juli 1974 gegen 18 Uhr in Gegenwart einer Zeugin in den Hausbriefkasten des FG eingeworfen worden. Vor dem Einwurf in den Briefkasten habe sein Prozeßbevollmächtigter von der Ehefrau des Hausmeisters die Auskunft erhalten, daß die in den Briefkasten eingeworfene Post am nächsten Tage den Stempel des Vortages erhalte.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerden sind zulässig.
Nach § 129 Abs. 1 FGO sind Beschwerden innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen. Für den Fristenablauf gelten die Vorschriften der §§ 222, 224 Abs. 2 und 3 sowie der §§ 225 und 226 ZPO (§ 54 Abs. 2 FGO). Hiernach endet eine Frist, die nach Wochen bestimmt ist, mit Ablauf desjenigen Tages der letzten Woche, der durch seine Benennung dem Tage entspricht, an dem die Entscheidung bekanntgegeben wurde (§ 222 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 188 Abs. 2 BGB). Im Streitfall wurden die Kostenbeschlüsse des FG dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am Mittwoch, dem 17. Juli 1974, zugestellt; die Frist für die Einlegung der Beschwerde endete sonach am Mittwoch, dem 31. Juli 1974.
Die Frage, ob eine Rechtsbehelfsfrist gewahrt ist, wenn der Rechtsbehelf erst am letzten Tage der Frist nach Dienstschluß bei Gericht eingeht, wird in der Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt. Das BVerwG vertritt die Auffassung, daß der Rechtsuchende das Recht hat, die im Gesetz eingeräumten Fristen voll auszunutzen (BVerwG-Urteil vom 18. September 1973 II WD 39/72, NJW 1974, 73, HFR 1974, 215). Nach dieser Auffassung läuft die Frist jeweils erst zum Tagesende, also um 24 Uhr, ab (BVerwG-Urteile vom 12. Februar 1964 IV C 95.63, BVerwGE 18, 51; II WD 39/72). Demgemäß braucht das einzureichende Schriftstück erst bis zum Ablauf des letzten Tages der Frist bei Gericht eingegangen zu sein.
Dagegen muß nach Ansicht des Bundesgerichtshofs (BGH), des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) die eingereichte Rechtsbehelfsschrift am Tage des Fristablaufs an einen zur Entgegennahme des Schriftstücks zuständigen Beamten gelangen. Das bedeutet in der Regel, daß die Rechtsbehelfsschrift bis zum Dienstschluß des letzten Tages der Frist von einem zur Entgegennahme befugten Beamten in Empfang genommen sein muß (BGH-Beschlüsse vom 25. April 1951 II ZB 6/51, BGHZ 2, 31; vom 26. Oktober 1972 VII ZB 8/72, Versicherungsrecht 1973 S. 87; BAG-Urteil vom 6. Mai 1960 5 AZR 586/59, NJW 1960, 1543; Beschluß des BayObLG vom 26. September 1968 RReg. 1a St 255/68, BayObLGStE 1968, 85). Nur wenn ein Nachtbriefkasten angebracht ist, sollen Schriftstücke, die vor Mitternacht in diesen Briefkasten geworfen werden, noch an diesem Tage als in den Gewahrsam der zuständigen Stelle gelangt angesehen werden (BGH-Beschluß VII ZB 8/72). Das Fehlen solcher Nachtbriefkästen darf indessen auch nach Auffassung des BGH (Beschluß II ZB 6/51), des BAG (Urteile 5 AZR 586/59; vom 21. Oktober 1963 5 AZR 1/63, NJW 1964, 369) und des BayObLG nicht zu Lasten der Rechtssuchenden gehen. Die rechtssuchende Bevölkerung soll damit rechnen können, daß angesichts der weittragenden Bedeutung der gesetzlich festgelegten Fristen das Recht jeder Partei auf Ausschöpfung dieser Fristen durch Anbringung von Nachtbriefkästen entsprechend berücksichtigt wird. Das Fehlen eines Nachtbriefkastens stellt deshalb nach Auffassung des BGH, des BAG und des BayObLG einen "unabwendbaren Zufall" dar, der im Rahmen der Vorschriften der ZPO (§ 233) und der Strafprozeßordnung (§ 44) zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. für das finanzgerichtliche Verfahren § 56 FGO) berechtigt.
Der Senat braucht im Streitfall nicht zu entscheiden, welche Auffassung er teilt. Denn nach beiden Auffassungen ergibt sich, daß die Beschwerden des Klägers zulässig sind. Legt man die Ansicht des BVerwG zugrunde, so sind die Beschwerden fristgerecht erhoben worden, weil nach dem unbestrittenen und durch eidesstattliche Erklärung des Prozeßbevollmächtigten erhärteten Vorbringen des Klägers feststeht, daß die Beschwerdeschriftsätze am letzten Tage der Frist, nämlich am 31. Juli 1974, vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers in den Briefkasten des FG eingeworfen wurden. Nach Auffassung des BGH, des BAG und des BayObLG wäre zwar die zur Fristwahrung erforderliche Voraussetzung, daß die Beschwerdeschriftsätze noch am letzten Tage der Frist bei einem zur Entgegennahme der Schriftsätze befugten Beamten eingegangen sind, nicht erfüllt. Es müßte dann aber im Streitfall Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, da beim FG die Möglichkeit eines Briefeinwurfs in einen Nachtbriefkasten nicht bestand und der Kläger deshalb im Sinne des § 56 FGO "ohne Verschulden" verhindert war, die Beschwerdefrist einzuhalten.
Fundstellen
Haufe-Index 71089 |
BStBl II 1975, 300 |
BFHE 1975, 321 |