Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage an EuGH: externes gemeinschaftliches Versandverfahren; Entstehen der Tabaksteuer durch Entziehen der Sendung aus der zollamtlichen Überwachung; Erstattung aus Rechtsgründen oder weil es sich um einen „besonderen Fall“ handelt
Leitsatz (amtlich)
1. Wird eine zum gemeinschaftlichen Versandverfahren abgefertigte Ware dadurch der zollamtlichen Überwachung entzogen, dass der Versandschein T1 zeitweilig von der Sendung entfernt wird?
2. Für den Fall, dass der Gerichtshof die unter Nr. 1 gestellte Frage verneint:
Ist eine zum gemeinschaftlichen Versandverfahren abgefertigte Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen worden, indem der zu ihrer Nämlichkeitssicherung angebrachte Zollverschluss geöffnet und die Ware teilweise entladen wurde, ohne dass die Sendung zuvor ordnungsgemäß wieder gestellt wurde, obwohl der Vorgang von unerkannt tätig gewordenen Zollfahndungsbeamten mit den betreffenden Personen verabredet und in allen Einzelheiten beobachtet worden ist?
3. Für den Fall, dass der Gerichtshof eine der unter Nrn. 1 und 2 gestellten Fragen bejaht:
Liegen besondere Umstände i.S. des Art. 13 VO Nr. 1430/79 vor, wenn ein als verdeckter Ermittler tätig gewordener Zollfahndungsbeamter Zuwiderhandlungen im gemeinschaftlichen Versandverfahren provoziert hat? Schließt die betrügerische Absicht oder das offensichtlich fahrlässige Verhalten von Personen, derer sich der Hauptverpflichtete bei der Erfüllung seiner im gemeinschaftlichen Versandverfahren übernommenen Pflichten bedient, eine Erstattung der durch die Entziehung der zum gemeinschaftlichen Versandverfahren abgefertigten Waren aus der zollamtlichen Überwachung entstandenen Abgaben an den Hauptverpflichteten aus?
Normenkette
EWGV 222/77 Art. 11 Buchst. a, Art. 19; EWGV 1430/79 Art. 2 Abs. 1, Art. 13; EWGV 2144/87 Art. 2 Abs. 1 Buchst. c; EWGV 1031/88 Art. 4 Abs. 2, Art. 8; TabStG 1980 § 10; ZG § 57
Verfahrensgang
Nachgehend
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) begehrt den Erlass/die Erstattung von Tabaksteuer, die der Beklagte und Revisionsbeklagte (Hauptzollamt ―HZA―) gegen sie als Hauptverpflichtete wegen angeblicher Zuwiderhandlungen im gemeinschaftlichen Versandverfahren festgesetzt hat.
Einem als verdeckter Ermittler auftretenden Zollfahndungsbeamten wurde im Juni 1992 über einen Mittelsmann namentlich unbekannter osteuropäischer Verkäufer ein Vierzig-Fuß-Container mit Zigaretten der Marke "Golden American", die zur Ausfuhr nach Polen bestimmt sein sollten, zum Kauf angeboten. Die Zigarettenpackungen sollten keine Steuerbanderole tragen. Bei den näheren Kontakten des verdeckten Ermittlers mit den Verkäufern, die am 14. Juli 1992 stattfanden, wurden die Zahlungs- und Übergabemodalitäten für den 16. Juli 1992 vereinbart. Danach sollten die Zigaretten auf dem Gelände einer bestimmten Spedition in Deutschland übergeben werden. Anschließend wurde dem verdeckten Ermittler auf dessen Verlangen auf einem Parkplatz in der Nähe von Berlin aus einiger Entfernung ein polnischer Auflieger gezeigt, in dem sich wohl die Zigaretten befinden sollten. Die Zollverschlüsse konnte er nicht sehen. Die Zollplomben öffneten die Anbieter nicht. Der verdeckte Ermittler wurde nicht näher an den Auflieger herangelassen.
Die Rechtsvorgängerin der Klägerin stellte selbst Zigaretten her und ließ auf Weisung einer schweizerischen Gesellschaft des Konzerns, zu dem auch sie gehört, am 9. Juli 1992 beim niederländischen Zollamt … eine Sendung mit … Zigaretten der Marke "Golden American" zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren abfertigen. Die Frist zur Wiedergestellung wurde auf den 16. Juli 1992 bestimmt. Der Versandschein enthielt keine Angaben zur Nationalität und Identität des Beförderungsmittels. Als Empfänger war im Versandschein eine Firma in St. Petersburg eingetragen, die nicht mit den entsprechenden Angaben in Lieferschein und Rechnung übereinstimmte.
Während des Transports der Sendung auf dem LKW sind die Zoll- und Transportpapiere nach Angaben des Fahrers ihm dreimal von den Osteuropäern abgenommen und nach einiger Zeit wieder zurückgegeben worden. Einen Austausch oder eine Veränderung an diesen Papieren konnte der Fahrer weder bestätigen noch verneinen.
Verabredungsgemäß wurde der LKW am 16. Juli 1992 mit dem Auflieger auf den Hof der Spedition gebracht, wo er geöffnet und teilweise entladen wurde. Nach den Angaben der Zollfahndungsbeamten, die zunächst noch unerkannt blieben und diesen Vorgang beobachteten, habe der Beifahrer des LKW, nachdem der LKW auf dem Speditionshof erschienen sei, zu einem der Zollfahndungsbeamten wegen Übergabe der Zigaretten Kontakt aufgenommen. Dann sei der LKW rückwärts an die Lagerhalle der Spedition gesetzt worden. Der Beifahrer sei mit einem weiteren Mitglied der Schmugglerbande kurz im Gebäude der Spedition gewesen, bevor die Ware abgeladen wurde. Der Fahrer habe das Schloss, mit dem der Laderaum verschlossen war, mit einem Bolzenschneider aufgebrochen, den er sich von einem Arbeiter der Spedition geliehen habe. Nach dem Öffnen der Ladetüre sei festgestellt worden, dass das Fahrzeug voll beladen war. Anschließend sei etwa 1/5 der Ladung abgeladen und stichprobenweise auf ihren Inhalt hin überprüft worden. In sämtlichen Kartons hätten sich Zigaretten ohne Steuerzeichen befunden. Danach seien der Fahrer und sein Beifahrer festgenommen worden. Bei der körperlichen Durchsuchung des Fahrers sei in seiner Hosentasche eine abgerissene niederländische Zollplombe gefunden worden.
Bei der Vernehmung durch Beamte der Zollfahndung sagte der Fahrer aus, er habe die an der Ladetür angebrachte Zollschnur mit der Plombe entfernt, nachdem das Schloss aufgebrochen worden sei. Er wisse, dass man die Plombe nicht ohne Weiteres entfernen dürfe. Er habe aber gedacht, dass es sich bei dem Gebäude um ein Zollamt oder ähnliches handele.
Anschließend wurde der LKW nebst Ladung von den Beamten des Zollfahndungsamtes zum Zwecke ihrer späteren Einziehung beschlagnahmt. Die Zigaretten wurden später vernichtet.
Das HZA sah in der Verletzung des Zollverschlusses und der anschließenden Entladung der Zigaretten eine Entziehung der Ware aus der zollamtlichen Überwachung und nahm deshalb die Klägerin als Abgabenschuldnerin durch Steuerbescheid vom … wegen Tabaksteuer in Höhe von … DM in Anspruch.
Am … 1992 beantragte die Rechtsvorgängerin der Klägerin beim HZA den Erlass der Tabaksteuer aus allen Gründen, in erster Linie aber auf Grund von Art. 13 der Verordnung (EWG) Nr. 1430/79 (VO Nr. 1430/79) des Rates vom 2. Juli 1979 über die Erstattung oder den Erlass von Eingangs- oder Ausfuhrabgaben (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― Nr. L 175/1). Das HZA lehnte den Antrag mit der angefochtenen Verfügung in der Fassung der Beschwerdeentscheidung ab. Mit der erfolglosen Klage begehrte die Klägerin das HZA zu verpflichten, ihr die angeforderte Tabaksteuer in Höhe von … DM zu erstatten. Das Finanzgericht (FG) führte im Einzelnen aus, dass kein Erstattungsanspruch der Klägerin nach der VO Nr. 1430/79, auf die § 10 Abs. 1 des Tabaksteuergesetzes 1980 vom 13. Dezember 1979 (BGBl I, 2118) in der bis zum 31. Dezember 1992 gültigen Fassung (TabStG) verweise, bestehe.
Ein Erstattungsanspruch nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 1430/79 sei nicht gegeben, weil das HZA die Klägerin als Hauptverpflichtete des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens zu Recht als Abgabenschuldnerin in Anspruch genommen habe. Die Abgabenschuld sei durch Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung bereits dadurch entstanden, dass der Versandschein, wenn auch nur vorübergehend, von der Ware entfernt worden sei. Mit diesem Vorgang habe der verdeckte Ermittler nichts zu tun gehabt. Es könne daher offen bleiben, ob die Tätigkeit des verdeckten Ermittlers zur Zollschuldentstehung auf Grund des Bruchs des Zollverschlusses geführt habe. Der Entstehung der Abgabenschuld stehe nicht entgegen, dass der verdeckte Ermittler das Scheitern des Versandverfahrens ohne Rücksicht auf die Interessen der Klägerin herbeigeführt habe. Für ihn und die hinter ihm stehende Zollverwaltung habe keine Möglichkeit bestanden, die Klägerin in Bezug auf die Eröffnung bestimmter Versandverfahren auf die geplante Entnahme der Zigaretten in den freien Verkehr hinzuweisen. Die Abgabenschuld sei durch die Einziehung der Waren nicht erloschen, weil § 10 Abs. 1 TabStG insoweit nicht auf die entsprechende gemeinschaftsrechtliche Vorschrift verweise.
Die Klägerin habe auch aus Art. 13 VO Nr. 1430/79 keinen Erstattungsanspruch, weil sie sich nicht auf ein Fehlen der betrügerischen Absicht berufen könne. Insoweit müsse sie sich das Verhalten der von ihr mit der Durchführung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens Beauftragten entgegenhalten lassen. Selbst wenn aber ein Fehlen der betrügerischen Absicht angenommen werden sollte, seien die Voraussetzungen des Art. 13 VO Nr. 1430/79 nicht erfüllt, weil das Tätigwerden des verdeckten Ermittlers kein besonderer Umstand i.S. der Vorschrift sei. Die Zollverwaltung habe die Klägerin nicht vorwarnen können. Zwischen der Entstehung der Tabaksteuerschuld durch das Entfernen der Versandpapiere und der Tätigkeit des verdeckten Ermittlers bestehe kein Zusammenhang. Einen besonderen Umstand stellten auch die Schwächen des Versandverfahrens nicht dar. Besondere Umstände ließen sich auch nicht aus einer entsprechenden Anwendung der in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung (EWG) Nr. 3799/86 (VO Nr. 3799/86) der Kommission vom 12. Dezember 1986 zur Durchführung der Artikel 4a, 6a, 11a und 13 der Verordnung (EWG) Nr. 1430/79 … (ABlEG Nr. L 352/19) genannten Fallgruppen entnehmen. Aus der entsprechenden Anwendung des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1697/79 des Rates vom 24. Juli 1979 betreffend die Nacherhebung … (ABlEG Nr. L 197/1) ergebe sich ebenfalls kein besonderer Umstand, weil gegenüber der Klägerin kein Vertrauensschutz begründendes Verhalten der Zollverwaltung vorliege. Selbst in der fehlenden Möglichkeit zur Abwälzung der Tabaksteuer auf die Abnehmer liege kein besonderer Umstand.
Wegen des fehlenden Verweises in § 10 Abs. 1 TabStG auf die zollrechtlichen Erlöschensvorschriften liege auch keine Regelungslücke vor, die entsprechend den Bestimmungen der seinerzeit geltenden anderen Verbrauchsteuergesetze zu lösen sei. Die Vorschrift verstoße außerdem nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―), indem darin anders als in anderen Verbrauchsteuervorschriften die Verweisung auf zollschuldrechtliche Erlöschensvorschriften unterblieben sei.
Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter und macht die Verletzung materiellen Rechts geltend.
Nach ihrer Auffassung stellt die vorübergehende Trennung der Versandpapiere kein Entziehen der Ware aus der zollamtlichen Überwachung dar. Der Bruch des Zollverschlusses auf Veranlassung des verdeckten Ermittlers und das Abladen der Ware sei, anders als das FG meine, kein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung, weil Zollbeamte den Vorgang von Beginn an ununterbrochen beobachtet hätten. Zu berücksichtigen sei ferner, dass § 10 Abs. 1 TabStG auf die zollrechtlichen Vorschriften über den Erlass und die Erstattung verweise. Art. 2 Abs. 1, Anstrich 1, Alternative 2 VO Nr. 1430/79 bestimme, dass die Eingangsabgaben zu erstatten seien, wenn die Zollschuld anders als durch Zahlung oder Verjährung erloschen sei. Da nach den zollrechtlichen Vorschriften die Zollschuld als Folge der Einziehung erlösche, müsse auch im Streitfall die Einziehung der Zigaretten zur Erstattung führen.
Anders als das FG meine sei eine Erstattung bei Vorliegen besonderer Umstände nur ausgeschlossen, wenn die Klägerin selbst in betrügerischer Absicht gehandelt habe. Eine Verantwortung für fremdes Verschulden sei im Gemeinschaftsrecht nicht vorgesehen und könne nicht aus nationalem Recht hergeleitet werden. Das Verhalten der Zollbeamten im Streitfall sei ein besonderer Umstand i.S. des Art. 13 VO Nr. 1430/79. Die Einziehung der Zigaretten durch die Zollverwaltung und die fehlende Möglichkeit zur Abwälzung der Steuer stelle ebenfalls einen besonderen Umstand i.S. der Vorschrift dar.
Das HZA teilt mit seinen Ausführungen die Auffassung des FG.
Entscheidungsgründe
II. Die Entscheidung über die Revision hängt von der Beantwortung der im Tenor dieses Beschlusses gestellten Fragen ab.
1. Zwar handelt es sich bei der Tabaksteuer um eine innerstaatliche Abgabe. Der im Streitfall anwendbare § 10 Abs. 1 TabStG verweist aber für die Steuerregelung bei der Einfuhr auf die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften. Er lautet wie folgt:
"Werden Tabakwaren oder Zigarettenhüllen in das Erhebungsgebiet eingeführt, gelten für die Entstehung der Steuer und den Zeitpunkt, der für ihre Bemessung maßgebend ist, für die Person des Steuerschuldners, die persönliche Haftung, den Steuerzuschlag bei Nichtbeachtung von Steuervorschriften, das Steuerverfahren und, wenn die Steuer nicht durch Verwendung von Steuerzeichen entrichtet wird, für die Fälligkeit, den Zahlungsaufschub, den Erlass und die Erstattung die Vorschriften für Zölle sinngemäß. Das gilt auch dann, wenn Zoll nicht zu erheben ist."
Hinsichtlich des Entstehens der Abgabenschuld, des Zollschuldners und der Erstattung der Steuer sind daher die zollrechtlichen Vorschriften maßgebend, für deren Auslegung bei Zweifelsfragen gemäß Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrages von Amsterdam (EG) vom 2. Oktober 1997 (ABlEG 1997 Nr. C 340/1; 1999 Nr. L 114/56) der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zuständig ist (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Juli 1997 Rs. C-130/95, EuGHE 1997, I-4291).
2. Ist im Streitfall eine Zollschuld dadurch entstanden, dass die Zigaretten der zollamtlichen Überwachung entzogen wurden (Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EWG) Nr. 2144/87 ―VO Nr. 2144/87― des Rates vom 13. Juli 1987 über die Zollschuld, ABlEG Nr. L 201/15), so ist nach Art. 4 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1031/88 des Rates vom 18. April 1988 über die zur Erfüllung einer Zollschuld verpflichteten Personen (ABlEG Nr. L 102/5) auch die Klägerin als Hauptverpflichtete im gemeinschaftlichen Versandverfahren Abgabenschuldnerin geworden. Denn sie hatte als Hauptverpflichtete gemäß Art. 11 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 222/77 (VO Nr. 222/77) des Rates vom 13. Dezember 1976 über das gemeinschaftliche Versandverfahren (ABlEG 1977 Nr. L 38/1) gegenüber den zuständigen Behörden für die ordnungsgemäße Durchführung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens einzustehen.
Anders als die Klägerin meint, erübrigen sich die mit diesem Beschluss dem EuGH vorgelegten Fragen nicht deshalb, weil die Tabaksteuer durch die Einziehung der Zigaretten durch die Zollverwaltung erloschen und damit die Erstattung bereits nach Art. 2 Abs. 1 Anstrich 1 Alternative 2 VO Nr. 1430/79 gerechtfertigt wäre. Zwar erlischt eine Zollschuld gemäß Art. 8 Abs. 1 Buchst. b VO Nr. 2144/87 durch Einziehung der Ware. Diese Vorschrift ist aber im Falle der Tabaksteuer nicht sinngemäß anzuwenden, weil § 10 Abs. 1 TabStG nicht auf die Vorschriften über das Erlöschen der Zollschuld verweist.
3. Die Entscheidung der Streitsache hängt somit davon ab, ob eine Abgabenschuld nach den zollrechtlichen Vorschriften entstanden ist (a) und bejahendenfalls, ob die Voraussetzungen des Art. 13 VO Nr. 1430/79 erfüllt sind, die es rechtfertigen, die Abgaben dennoch zu erstatten (b).
a) Nach dem im Streitfall sinngemäß anzuwendenden Art. 2 Abs. 1 Anstrich 1 Alternative 1 VO Nr. 1430/79 werden Eingangsabgaben insoweit erstattet, als den zuständigen Behörden nachgewiesen wird, dass für die betreffenden Waren keine Abgaben entstanden sind. Zweifelhaft ist, ob im Streitfall die Tabaksteuer gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 2144/87 durch eine Entziehung der Waren aus der zollamtlichen Überwachung entstanden ist. Als eine solche Entziehungshandlung sind sowohl die zeitweise Entfernung des Versandscheins von der Ware als auch die Abnahme des Zollverschlusses und die teilweise Entladung der Ware auf dem Hof der Spedition in Betracht gezogen worden.
aa) Ebenso wie das zur Zeit geltende hat auch das im Streitfall anzuwendende Gemeinschaftsrecht den Begriff der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung nicht definiert. Für das jetzt geltende Gemeinschaftsrecht ―Art. 203 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABlEG Nr. L 302/1)― versteht der EuGH unter diesem Begriff jede Handlung oder Unterlassung, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der vorgesehenen Prüfungen gehindert ist (EuGH, Urteil vom 1. Februar 2001 Rs. C-66/99, Randnr. 47).
In ähnlicher Weise hat auch der Senat den Begriff verstanden, indem er zu dem auch im früheren deutschen Zollrecht (§ 57 des Zollgesetzes) sinngemäß verwendeten Begriff des Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung Folgendes ausgeführt hat: "Der zollamtlichen Überwachung entzogen wird das Zollgut durch jede Handlung, die zu dem Erfolg führt, dass zollamtliche Überwachungen nicht mehr durchgeführt werden können. … Sobald der Zollverwaltung auch nur vorübergehend die Möglichkeit genommen wird, das Vorhandensein oder den Verbleib der Ware, die der zollamtlichen Überwachung unterliegt, zu prüfen, ist das Ziel der zollamtlichen Überwachung gefährdet, … Die zollamtliche Überwachung ist demgemäß ihrem Wesen nach eine fortdauernde Maßnahme, die nicht unterbrochen werden kann, ohne dass mit der Unterbrechung die Überwachung entfällt. Zwar erfordert die Überwachung nicht, dass die Zollverwaltung die Ware ständig bewacht. Es reicht vielmehr aus, dass die Zollverwaltung ständig die Möglichkeit zur Kontrolle hat … " (Bundesfinanzhof ―BFH―, Urteil vom 30. Juni 1970 VII R 100/68, BFHE 99, 509). "Zur Aufrechterhaltung der Kontrollmöglichkeit über das Zollversandgut ist grundsätzlich erforderlich, dass dieses nur in einer mit dem Zollgutversand vereinbarten Weise behandelt wird …" (BFH, Urteil vom 13. August 1985 VII R 93/81, BFHE 144, 311).
Wendet man diese Beschreibungen des Begriffs auf den auch in Art. 2 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 2144/87 verwendeten an, so bestehen Zweifel, ob die im Streitfall in Betracht kommenden Fallgestaltungen darunter fallen und ein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung darstellen.
bb) Soweit es um das zeitweilige Entfernen des Versandscheins, der nach Art. 19 VO Nr. 222/77 die Ware zu begleiten hat, von der Sendung geht, ergeben sich die Zweifel deswegen, weil durch die Entfernung des Versandscheins nicht auf die Ware selbst eingewirkt oder der zu ihrer Nämlichkeitssicherung angelegte zollamtliche Raumverschluss beeinträchtigt worden ist. Auch die Möglichkeiten der Zollverwaltung zur Überwachung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens erscheinen durch das bloße zeitweilige Entfernen des Versandscheins von der Sendung nicht beeinträchtigt, weil die Zollverwaltung zu keinem Zeitpunkt, während sich der Versandschein nicht bei der Ware befand, dessen Vorlage verlangt hat und nicht festgestellt worden ist, dass er ihr auf Verlangen nicht ohne nennenswerte Verzögerung hätte vorgelegt werden können.
Da es sich bei der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung um einen Realakt handelt, für den subjektive Vorstellungen desjenigen, der die Ware entzieht, grundsätzlich keine Bedeutung haben, erscheint es auch unerheblich, was die Osteuropäer, die den Versandschein zeitweilig an sich nahmen, mit der Entfernung des Versandscheins von der Sendung bezweckten (vgl. EuGH, Urteil vom 1. Februar 2001 Rs. C-66/99, Randnr. 48).
Der Senat neigt deshalb dazu, das zeitweilige (auch mehrfache) Entfernen des Versandscheins von der Sendung, anders als das FG es getan hat (Seite 12 des Urteils), nicht als ein Entziehen der Ware aus der zollamtlichen Überwachung i.S. des Art. 2 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 2144/87 anzusehen.
cc) Für den Fall, dass der EuGH diese Auffassung teilt, stellt sich die weitere Frage, ob die Zigaretten später der zollamtlichen Überwachung dadurch entzogen worden sind, dass auf dem Hof der Spedition der am Laderaum angebrachte niederländische Zollverschluss geöffnet wurde und die Zigaretten teilweise entladen wurden.
Der Senat hat keine Zweifel daran, dass insoweit ein Entziehen der Ware aus der zollamtlichen Überwachung vorläge, wenn die Zigaretten nicht, wie das FG für das Revisionsverfahren bindend festgestellt hat, auf die Verabredung mit dem als verdeckter Ermittler tätig gewordenen Zollfahndungsbeamten hin auf den Hof der Spedition verbracht worden wären und wenn dort nicht der gesamte Vorgang ständig von Zollfahndungsbeamten beobachtet worden wäre (Seite 4 des Urteils). Da aber der gesamte Vorgang auf eine Verabredung des verdeckten Ermittlers mit den Osteuropäern hin stattfand und auf dem Hof der Spedition in allen Einzelheiten ständig von Zollfahndungsbeamten beobachtet wurde, erscheint es zumindest zweifelhaft, ob die Ware durch die genannten Handlungen der zollamtlichen Überwachung entzogen worden ist. Denn, wie bereits ausgeführt, handelt es sich bei dem Entziehen der Ware aus der zollamtlichen Überwachung um einen Realakt, für dessen Verwirklichung es nicht auf die Vorstellungen desjenigen, der die Ware entzieht, ankommt. Entscheidend dürfte deshalb sein, dass die Zollverwaltung während des gesamten Vorgangs auf dem Hof der Spedition nach den vom FG festgestellten Umständen jederzeit die Möglichkeit hatte, auf die Ware zuzugreifen, was letztlich auch durch die Beschlagnahme der Ware geschehen ist. Durch die Maßnahmen der Zollfahndung zur Steuerung und Beobachtung der Vorgänge auf dem Hof der Spedition war tatsächlich die zollamtliche Überwachung der Zigaretten jedenfalls zu diesem Zeitpunkt gewährleistet. Der Senat neigt deshalb auch insoweit zu der Auffassung, dass der Tatbestand eines Entziehens der Ware aus der zollamtlichen Überwachung nicht erfüllt ist.
dd) Würde der EuGH diese Auffassung teilen, so wäre die Tabaksteuer nach Art. 2 Abs. 1 Anstrich 1 Alternative 1 VO Nr. 1430/79 antragsgemäß zu erstatten, weil keine Zollschuld entstanden ist.
b) Würde der EuGH dagegen zu dem Ergebnis gelangen, dass in einem der beiden Fälle die Zollschuld dadurch entstanden ist, dass die Zigaretten der zollamtlichen Überwachung entzogen worden sind, und deshalb eine Erstattung der Tabaksteuer nach Art. 2 Abs. 1 Anstrich 1 Alternative 1 VO Nr. 1430/79 nicht in Betracht kommt, so wäre zu prüfen, ob die Tabaksteuer nach Art. 13 VO Nr. 1430/79, auf dessen sinngemäße Anwendung § 10 Abs. 1 TabStG ebenfalls verweist, zu erstatten ist. Anhaltspunkte dafür, dass im Streitfall einer der in Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 3799/86 beschriebenen Fälle gegeben ist, bestehen nicht.
aa) Ob andere besondere Umstände i.S. des Art. 13 VO Nr. 1430/79 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 VO Nr. 3799/86 vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Beteiligte nicht in betrügerischer Absicht oder offensichtlich fahrlässig gehandelt hat, kann im Streitfall nicht die Kommission auf Vorlage durch die nationalen Behörden entscheiden (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 VO Nr. 3799/86), weil es sich bei der Tabaksteuer um eine nationale Verbrauchsteuer handelt, über deren Erstattung nur die nationalen Behörden entscheiden können. Da gleichwohl materiell Gemeinschaftsrecht sinngemäß anzuwenden ist, muß bei Zweifeln über die Auslegung der maßgeblichen Vorschriften der EuGH um eine Vorabentscheidung ersucht werden (vgl. EuGH, Urteil in EuGHE 1997, I-4291).
Im Streitfall neigt der Senat dazu, anders als das HZA und das FG meinen, besondere Umstände anzunehmen. In Anbetracht dessen, dass ein Zollfahndungsbeamter als verdeckter Ermittler die Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften des gemeinschaftlichen Versandverfahrens provoziert hat, weil insbesondere auf Grund seiner Verabredung mit den Osteuropäern der Zollverschluss geöffnet wurde und die Zigaretten auf dem Hof der Spedition entladen wurden, dürfte sich der Hauptverpflichtete in einer besonderen Situation befinden, die gegenüber anderen Wirtschaftsteilnehmern, die die gleiche Tätigkeit ausüben, außergewöhnlich ist (vgl. EuGH, Urteile vom 25. Februar 1999 Rs. C-86/97, EuGHE 1999, I-1041, und vom 7. September 1999 Rs. C-61/98, EuGHE 1999, I-5003). Denn der Hauptverpflichtete im gemeinschaftlichen Versandverfahren muss nicht damit rechnen, dass neben den im gemeinschaftlichen Versandverfahren ohnehin schon bestehenden Risiken auch noch Zollbeamte im amtlichen Auftrag Zuwiderhandlungen provozieren. Das Ermittlungsinteresse der Zollbehörden rechtfertigt es jedenfalls nicht, dass der Hauptverpflichtete durch solche Maßnahmen der Zollbehörden auch noch mit einer Abgabenschuld belastet wird.
Dabei vermöchte der Senat, anders als das FG es getan hat (Seite 18 des Urteils), keinen Unterschied danach zu machen, ob die Waren bereits durch das zeitweilige Entfernen des Versandscheins von der Sendung der zollamtlichen Überwachung entzogen worden sind oder ob dies erst mit der Öffnung des Zollverschlusses und der anschließenden teilweisen Entladung der Fall gewesen ist. Denn der Senat geht nach den gesamten Umständen des Falles davon aus, dass das zeitweilige Entfernen des Versandscheins im Zusammenhang mit der von den Osteuropäern geplanten Zuwiderhandlung stand und daher durch das Verhalten des als potentieller Käufer aufgetretenen verdeckten Ermittlers ebenfalls provoziert worden ist.
bb) Es steht nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung) außer Frage, dass die Klägerin selbst weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt hat. Lediglich ihren Auftragnehmern, die den Transport für sie durchgeführt haben, lässt sich ein solches schuldhaftes Verhalten vorwerfen. Das FG hat das Verschulden der Personen, derer sich die Klägerin bei der Erfüllung ihrer im gemeinschaftlichen Versandverfahren übernommenen Verpflichtungen bedient hat, in Anwendung nationaler Rechtsgrundsätze der Klägerin zugerechnet (Seite 17 des Urteils). Der Senat hat Zweifel, ob diese Auffassung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH in seinem Urteil in EuGHE 1999, I-5003 steht. Dort ist der EuGH nämlich zu dem Ergebnis gelangt, dass dem in diesem Fall betroffenen Hauptverpflichteten keinerlei Fahrlässigkeit oder betrügerische Absicht zur Last gelegt werden könne (Randnr. 51), obwohl auch in diesem Fall davon auszugehen sein dürfte, dass die Erfüllungsgehilfen des Hauptverpflichteten in betrügerischer Absicht oder offensichtlich fahrlässig gehandelt haben. Da sich der EuGH jedoch nicht ausdrücklich mit der Frage auseinander gesetzt hat, inwieweit sich der Hauptverpflichtete im Rahmen des Art. 13 VO Nr. 1430/79 Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen muss, diese Frage aber andererseits für das Versandverfahren von erheblicher Bedeutung ist, scheint es dem Senat angemessen, eine entsprechende Frage ausdrücklich dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Fundstellen
Haufe-Index 588350 |
BFH/NV 2001, 1093 |
BFHE 2002, 64 |
BB 2001, 1293 |
DB 2001, 1290 |
DStRE 2001, 824 |
HFR 2001, 795 |
StE 2001, 357 |