Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Einstellung der Vollstreckung durch einstweilige Anordnung
Leitsatz (NV)
1. Der Anordnungsanspruch bei einer einstweiligen Anordnung ist nur glaubhaft gemacht, wenn er rechtlich schlüssig dargelegt ist.
2. Zur Befugnis des Gerichts, eine einstweilige Anordnung in Ausübung eigenen Ermessens (,,Interimsermessen") zu erlassen.
3. Vollstreckungsmaßnahmen vor bestandskräftiger Entscheidung über einen beantragten Billigkeitserweis sind nur unbillig i.S. des § 258 AO 1977, wenn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit einem solchen Erweis zu rechnen ist. Zur Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzung gegeben ist, braucht das Gericht die Erfolgsaussichten des Billigkeitsverfahrens nur summarisch abzuschätzen.
Normenkette
FGO § 114; ZPO § 920 Abs. 2; AO 1977 § 258
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Antragstellerin erstrebt eine einstweilige Anordnung, mit der dem FA untersagt werden soll, ESt 1979 bis 1982, KiSt 1979 bis 1981, zu Unrecht bezahlte Arbeitnehmer-Sparzulage 1980 und Verspätungszuschlag 1979 bis zur Entscheidung in der Hauptsache einzuziehen. In der Hauptsache geht es um die Frage, ob das FA verpflichtet ist, im Hinblick auf diese Beträge eine Billigkeitsmaßnahme nach § 227 AO 1977 zu gewähren. Das FA lehnte den begehrten Billigkeitserweis mit Bescheid vom 18. April 1984 mit der Begründung ab, die Antragstellerin habe ihre mangelnde Leistungsfähigkeit wegen schuldhafter Verletzung ihrer steuerlichen Pflichten selbst zu vertreten. Außerdem müsse sie die Vermögenssubstanz zur Tilgung der Steuerschulden in Raten einsetzen. Über die nach erfolgloser Beschwerde erhobene Klage ist noch nicht entschieden. Den Antrag auf Erlaß einer eintsweiligen Anordnung wies das FG zurück mit der Begründung, es fehle an der Darlegung und Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Nach § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen. Voraussetzung für den Erlaß ist, daß der im Hauptverfahren geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) bezeichnet und glaubhaft gemacht werden (§ 114 Abs. 3 FGO i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Bezeichnung und Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruches bedeutet, daß die Antragstellerin den Anspruch rechtlich schlüssig darlegt und dessen tatsächliche Voraussetzungen (§ 294 ZPO) glaubhaft machen muß. Anordnungsanspruch kann auch der Anspruch auf einstweilige Einstellung oder Beschränkung für Vollstreckung sein. Im vorliegenden Fall fehlt es bereits an der schlüssigen Darlegung eines solchen Anspruches der Antragstellerin.
Als Rechtsgrundlage für den Anordnungsanspruch kommt allein § 258 AO 1977 in Betracht. Wird im Verwaltungsvollstreckungsverfahren als vorläufiger Rechtsschutz durch ein Gericht die Verpflichtung der Behörde zur einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung im Wege der einstweiligen Anordnung verlangt, so kann Streitgegenstand nur die nach § 258 AO 1977 in das Ermessen der Behörde gestellte Befugnis zur Gewährung einer vorläufigen Vollstreckungsaussetzung sein. Unter welchen Voraussetzungen dieser vorläufige Rechtsschutz durch ein Gericht erlangt werden kann, ist, da der Anordnungsanspruch eine behördliche Ermessensentscheidung betrifft, umstritten (vgl. Beschluß des erkennenden Senats vom 5. und 13. Mai 1977 VII B 9/77, BFHE 122, 28, BStBl II 1977, 587). Im Streitfall braucht nicht entschieden zu werden, welcher der vertretenen Auffassungen zu folgen ist. Auch wenn der Entscheidung über die einstweilige Anordnung die für den Antragsteller günstigste Auffassung zugrunde gelegt wird, nämlich die, daß das Gericht befugt ist, die einstweilige Anordnung in Ausübung eigenen Ermessens (,,Interimsermessen") zu treffen, ist die einstweilige Anordnung im Streitfall zu versagen; denn in Anwendung dieses Ermessens gelangt der erkennende Senat zu dem Ergebnis, daß die beantragte Anordnung nicht gerechtfertigt ist, weil ihre Voraussetzungen nicht glaubhaft gemacht sind.
Voraussetzung für die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 258 AO 1977 ist, daß im Einzelfall die Vollstreckung unbillig ist. Als Ansatzpunkt für die Annahme einer solchen Unbilligkeit kommt im vorliegenden Fall allein der Umstand in Betracht, daß über die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des FA hinsichtlich des Billigkeitsantrages der Antragstellerin noch nicht bestandskräftig entschieden worden ist. Allein der Umstand dieser mangelnden Bestandskraft belegt allerdings noch keine Unbilligkeit i.S. des § 258 AO 1977. Die Verwaltung ist grundsätzlich berechtigt, aus Steuerbescheiden, deren Vollziehung nicht ausgesetzt ist, zu vollstrecken (§ 251 Abs. 1 AO 1977). Allenfalls könnten Vollstreckungsmaßnahmen des FA vor endgültiger Entscheidung über den Erlaßantrag der Antragstellerin dann als unbillig angesehen werden, wenn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit dem beantragten Erlaß zu rechnen wäre (vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 21. Januar 1982 VIII B 94/79, BFHE 135, 23, 26, BStBl II 1982, 307, und vom 6. Oktober 1982 I R 98/81, BFHE 138, 1, 2, BStBl II 1983, 397). Denn die Vollstreckung aus vollziehbaren Steuerbescheiden kann nur als unbillig angesehen werden, wenn die Finanzbehörde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit rechnen müßte, daß sie den Betrag der Vollstreckung sogleich wieder zurückzahlen müßte (vgl. auch BFH-Beschluß vom 29. November 1984 V B 44/84, BFHE 142, 418, BStBl II 1985, 194). So liegt der Fall hier aber nicht.
Zur Prüfung der Frage, ob die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, daß mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit einem Erfolg im Hauptsacheverfahren zu rechnen ist, bedarf es im vorliegenden Verfahren keiner abschließenden Prüfung der in der Hauptsache zu entscheidenden Rechtsfragen. Es genügt vielmehr eine summarische Abschätzung der Erfolgsaussichten der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren. Nach den Gesamtumständen ist es aber nicht wahrscheinlich, daß sie dort Erfolg hat.
Der Erfolg der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren ist möglicherweise schon deswegen unwahrscheinlich, weil sie die Klagefrist versäumt hat und die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorliegen. Der Senat läßt aber diese Frage unentschieden. Denn jedenfalls bestehen erhebliche Zweifel daran, daß die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren in materieller Hinsicht Erfolg hat. Bei voller Berücksichtigung der Argumente sowohl der Antragstellerin als auch der Verwaltung in den angefochtenen Bescheiden drängt sich der Eindruck auf, daß kein Fall vorliegt, in dem der dem FA nach § 227 AO 1977 grundsätzlich zustehende Ermessensspielraum sich so eingeschränkt hat, daß nur noch die Gewährung des beantragten Billigkeitserweises Rechtens ist. Dafür spricht auch die Begründung der Vorentscheidung, in der das FG ausführlich darlegt, warum bei der erforderlichen Abwägung der Interessen der Antragstellerin gegenüber den Interessen der Allgemeinheit nicht davon ausgegangen werden kann, daß der Antragstellerin ein Anspruch auf die Gewährung eines Billigkeitserweises zusteht. Die Antragstellerin hat demgegenüber in ihrer Beschwerdebegründung nichts wesentlich Neues vorgetragen.
Fundstellen