Entscheidungsstichwort (Thema)
Entscheidung des Gerichts bei zu Unrecht als unzulässig verworfenem Einspruch
Leitsatz (NV)
- Die FGO verlangt für eine zulässige Klage nur, dass das Vorverfahren über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf erfolglos geblieben ist, nicht dass das FA zur Sache entschieden hat.
- Hat sich der Adressat eines Verwaltungsaktes nicht auf die isolierte Anfechtung der Entscheidung beschränkt, mit der sein Einspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen worden ist, hat das Gericht die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts zu prüfen; es kann die Sache nicht unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung an die Finanzbehörde zur erneuten Prüfung "zurückverweisen".
- Ein Kläger, der den gegen ihn ergangenen Bescheid für rechtswidrig hält, kann nicht gezwungen werden, sich mit einer isolierten Anfechtungsklage gegen die Einspruchsentscheidung zufrieden zu geben. Eine von ihm erhobene Anfechtungsklage darf selbst bei Rechtsmängeln des angefochtenen Verwaltungsaktes, die sich im Einspruchverfahren noch beheben lassen, nicht teilweise abgewiesen werden, um der Behörde zu einer Nachbesserung ihres Bescheides in einem erneuten Einspruchsverfahren Gelegenheit zu verschaffen.
Normenkette
AO 1977 §§ 5, 191 Abs. 1; FGO § 44 Abs. 1, § 100 Abs. 1, 2 S. 2, Abs. 3, § 102
Tatbestand
Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt ―FA―) nimmt den Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) auf Haftung in Anspruch. Den vom Kläger gegen den Haftungsbescheid erhobenen Einspruch hat das FA wegen Versäumnis der Einspruchsfrist als unzulässig verworfen.
Hiergegen hat der Kläger mit dem Antrag Klage erhoben, den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) urteilte, der Einspruch sei rechtzeitig erhoben worden. Der Haftungsbescheid sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten; denn jedenfalls habe das FA sein Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des FG richtet sich die Beschwerde des FA, mit der Divergenz und ein Verfahrensmangel gerügt werden.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der angebliche Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―) liegt nicht vor. Die Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) ist schon nicht ausreichend bezeichnet.
1. Als Verfahrensmangel rügt das FA, dass das FG nicht nur die Einspruchsentscheidung, sondern auch den Haftungsbescheid aufgehoben hat, obwohl die Einspruchsentscheidung nur über die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs des Klägers entschieden habe. Das FG habe deshalb nur die Einspruchsentscheidung überprüfen dürfen und die Sache ggf. zur weiteren Entscheidung über die Begründetheit des Einspruchs an das FA zurückverweisen müssen.
Diese Rechtsauffassung des FA ist unzutreffend. Dabei mag zugunsten der Beschwerde unterstellt werden, dass das Unterlassen einer Zurückverweisung der Sache in das Einspruchsverfahren keinen materiell-rechtlichen Mangel der angefochtenen Entscheidung, sondern einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO darstellen würde. Denn es ist jedenfalls nicht richtig, dass das FG den Haftungsbescheid nicht zugleich mit der Einspruchsentscheidung aufheben durfte.
Das FG hatte über den vom Kläger gestellten Antrag zu entscheiden. Der Kläger hat beantragt, den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben, er hat also eine Anfechtungsklage erhoben. Soweit der mit einer solchen Klage angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hat das Gericht nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufzuheben. So hat das FG entschieden. Es hat sich dabei auch nicht etwa, wie das FA annimmt, die Ausübung von allein dem FA zustehenden Ermessen (§ 5 der Abgabenordnung ―AO 1977―) angemaßt; es hat vielmehr den Haftungsbescheid rechtlich geprüft und ist dabei zu dem Schluss gekommen, die dem Haftungsbescheid zugrunde liegende Ermessensausübung des FA genüge den Anforderungen des § 5 AO 1977 i.V.m. § 191 Abs. 1 AO 1977 nicht, so dass der Haftungsbescheid rechtswidrig sei.
Dass das FA über einen gegen den angefochtenen Verwaltungsakt erhobenen Einspruch zur Sache entschieden hat (also den Einspruch nicht lediglich als unzulässig verworfen hat), ist nicht Voraussetzung für einen Ausspruch nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. § 44 Abs. 1 FGO verlangt für eine zulässige Klage zwar, dass ―sofern ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist― das Vorverfahren über diesen Rechtsbehelf "erfolglos" geblieben ist. Das war hier aber der Fall. Denn das FA hat den Einspruch des Klägers als unzulässig verworfen, ihm also den Erfolg versagt. Dass der Einspruch aus sachlich-rechtlichen Gründen erfolglos geblieben ist und nicht als unzulässig verworfen wurde, verlangt § 44 Abs. 1 FGO nicht (vgl. u.a. das Urteil des beschließenden Senats vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791).
Nach der durch das Urteil des Senats vom 11. Oktober 1977 VII R 73/74 (BFHE 124, 1, BStBl II 1978, 154) eingeleiteten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) kann allerdings eine Einspruchsentscheidung, mit der ein Einspruch zu Unrecht als verspätet und daher unzulässig verworfen worden ist, isoliert Gegenstand einer Anfechtungsklage sein; die Einspruchsentscheidung ist dann ggf. aufzuheben, so dass die Behörde Gelegenheit erhält, in einem erneuten Einspruchsverfahren über die Rechtmäßigkeit ihres Verwaltungsaktes sachlich-rechtlich zu entscheiden. Das vorgenannte Urteil und die spätere Rechtsprechung des BFH bieten jedoch keinen Anhalt für die Annahme, das FG dürfe, wenn sich der Adressat eines Verwaltungsaktes nicht auf die isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung beschränkt, den angefochtenen Verwaltungsakt nicht aufheben, solange die Behörde seine Rechtmäßigkeit nicht im Einspruchsverfahren überprüft hat. Das Verlangen des FA, in einem solchen Fall die Sache unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung an die Finanzbehörde zur erneuten Prüfung und zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts "zurückzuverweisen", hat in der FGO keine Stütze. Eine solche "Zurückverweisung" ist der FGO fremd. § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO und § 100 Abs. 3 FGO enthalten zwar in gewissem (geringen) Umfang einer solchen Zurückverweisung rechtsähnliche Regelungen; sie sind jedoch hier offensichtlich nicht einschlägig. § 102 FGO, den das FA anführt, sieht keine Zurückverweisung vor, sondern stellt den gerichtlichen Prüfungsmaßstab bei Ermessensentscheidungen heraus.
Es gibt auch keine Rechtsgrundlage dafür, einen Kläger, der den gegen ihn ergangenen Bescheid für rechtswidrig hält, zu zwingen, sich mit einer isolierten Anfechtungsklage gegen die Einspruchsentscheidung zufrieden zu geben; erst recht nicht kann eine von ihm erhobene umfassende Anfechtungsklage teilweise ―nämlich was den angefochtenen Bescheid selbst angeht― abgewiesen werden, obwohl der angefochtene Bescheid nach Auffassung des Gerichts rechtswidrig ist. Das gilt selbst bei Rechtsmängeln dieses Bescheides, die sich im Einspruchsverfahren noch beheben lassen, wie insbesondere einer fehlerhaften Ermessensausübung; denn es steht in solchen Fällen nicht fest und kann vom Gericht auch nicht festgestellt werden, ob es der Behörde tatsächlich gelingen wird, solche Rechtsmängel in einem erneuten Einspruchsverfahren zu beseitigen. Es besteht auch kein Anlass, der Behörde zu einer Nachbesserung ihres Bescheides in einem erneuten Einspruchsverfahren Gelegenheit zu verschaffen, zumal sie nicht gehindert ist, von sich aus unbeschadet der Verwerfung eines ihrer Ansicht nach unzulässigen Einspruchs von ihr erkannte Rechtsmängel ihres Bescheides durch Änderung desselben zu beseitigen und dadurch ggf. einer Aufhebung des Bescheides durch das von dem Betroffenen angerufene Gericht zuvorzukommen. Allenfalls mag es unter Umständen zweckmäßig sein, zunächst ein Teilurteil über die Rechtmäßigkeit der Rechtsbehelfsentscheidung zu erlassen, solange die Behörde noch nicht in einem ohne Rechtsfehler durchgeführten Vorverfahren "das letzte Wort in der Sache gesprochen hat" (vgl. Kopp/ Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 12. Aufl. 2000, § 79 Rdnr. 5, m.w.N.). Der Kläger, der sich mit einer Aufhebung nur der Rechtsbehelfsentscheidung nicht begnügen will, hat indes grundsätzlich ein Anrecht darauf, dass über die von ihm geltend gemachte Rechtswidrigkeit auch des angefochtenen Bescheides entschieden wird, was zu tun das Gericht allemal nicht durch das Prozessrecht gehindert ist.
2. Die angebliche Abweichung des Urteils des FG von dem in der Beschwerdeschrift angegebenen BFH-Urteil vom 5. Mai 1977 IV R 116/75 (BFHE 122, 283, BStBl II 1977, 639) und dem Urteil vom 3. August 1983 II R 144/80 (BFHE 139, 128, BStBl II 1984, 321) ist nicht einmal nach den Anforderungen des § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO bezeichnet. Denn es fehlt schon an der Angabe des Rechtssatzes, den das FG in seiner Entscheidung (ausdrücklich oder sinngemäß) aufgestellt haben und der zu dem vom FA offenbar aus den vorgenannten Entscheidungen abgeleiteten Rechtssatz in Widerspruch stehen soll, dass das FG sein Ermessen nicht an die Stelle des Ermessens des FA setzen dürfe. Dass es überdies nicht zutrifft, dass das FG anstelle des FA Ermessen ausgeübt hat, ist bereits ausgeführt worden.
Fundstellen
Haufe-Index 515042 |
BFH/NV 2001, 459 |