Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld für Ehepartner eines Grenzgängers in die Schweiz
Leitsatz (NV)
1. Die in der Schweiz in Ergänzung zur Invalidenrente gezahlte Kinderrente stellt eine Leistung dar, die einem Kinderzuschuss aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar ist. Für den Zeitraum bis Mai 2002 besteht daher nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V. mit Nr. 1 EStG kein Anspruch auf Kindergeld.
2. Für den Zeitraum ab Juni 2002 gelten im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz die VO (EWG) Nr. 1408/71 und die VO (EWG) Nr. 574/72. Der Anspruch des einen Ehepartners auf Kindergeld ruht nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO (EWG) Nr. 574/72 bis zur Höhe der dem anderen Ehepartner nach Schweizer Recht gezahlten Kinderrente. Ein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld nach § 66 EStG besteht daher nicht, wenn die ausbezahlte Kinderrente das in Deutschland gewährte Kindergeld übersteigt.
Normenkette
EStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1-2, § 66; EWGV 574/72 Art. 10 Abs. 1 Buchst. a; EWGV 1408/71 Art. 77
Verfahrensgang
FG Baden-Württemberg (Urteil vom 21.12.2005; Aktenzeichen 2 K 419/04) |
Tatbestand
I. Die verheiratete, nicht erwerbstätige Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) erhielt zunächst für ihre am 2. März 1994 und am 21. Oktober 1996 geborenen Söhne M und L Kindergeld.
Durch Datenaustausch mit der zuständigen Oberfinanzdirektion erfuhr die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) im April 2003, dass der Ehemann der Klägerin in den Jahren 1999 und 2000 als Grenzgänger in der Schweiz beschäftigt gewesen sei. Auf Nachfrage der Familienkasse teilte die Klägerin mit, ihr Ehemann sei infolge eines schweren Verkehrsunfalls auf dem Weg zur Arbeit in die Schweiz im Juni 1999 erwerbsunfähig geworden.
Aus den von der Klägerin überreichten Unterlagen ergab sich, dass ihr Ehemann ab dem 1. Juli 2001 eine Invalidenrente, eine Zusatzrente für die Klägerin sowie Kinderrenten für M und L in Höhe von monatlich jeweils 457 Sfr. (seit dem 1. Januar 2003 in Höhe von jeweils 468 Sfr.) von der eidgenössischen Invalidenversicherung erhält. Ferner bezieht der Ehemann der Klägerin aus der obligatorischen Unfallversicherung ab dem 1. August 2003 eine sog. Komplementärrente in Höhe von monatlich 782 Sfr., bei deren Berechnung auch die Zusatz- und Kinderrenten voll angerechnet wurden.
Die Familienkasse hob daraufhin mit Bescheid vom 18. März 2004 die Festsetzung des Kindergeldes für M und L ab Juli 2001 nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf und forderte das für die Zeit von Juli 2001 bis Mai 2002 überzahlte Kindergeld in Höhe von 3 196 € gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zurück. Durch weiteren Bescheid vom 18. März 2004 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes für M und L ab Juni 2002 auf und forderte das für die Zeit von Juni 2002 bis Dezember 2003 überzahlte Kindergeld in Höhe von 5 852 € ebenfalls zurück. Der Einspruch war erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte im Wesentlichen aus:
Für den Zeitraum Juli 2001 bis Mai 2002 bestehe nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Nr. 1 EStG kein Anspruch auf Kindergeld, weil es sich bei den in der Schweiz gezahlten Kinderrenten um Leistungen handle, die einem Kinderzuschuss aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar seien.
Für den Zeitraum Juni 2002 bis Dezember 2003 stehe der Klägerin ebenfalls kein Kindergeld zu, weil nach dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union die Kindergeldansprüche der Klägerin und ihres Ehemanns ruhten, da die schweizerischen Kinderrenten das deutsche Kindergeld überstiegen.
Nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (BGBl II 2001, 810 ff.), das am 2. September 2001 als Gesetz beschlossen worden sei (BGBl II 2001, 810), gelte seit dem Inkrafttreten am 1. Juni 2002 (BGBl II 2002, 1692) im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern --VO Nr. 1408/71-- (aktualisierte Gesamtfassung in der Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 --VO Nr. 118/97--, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. L 28 vom 30. Januar 1997, S. 1, 13) und die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 --VO Nr. 574/72-- (aktualisierte Gesamtfassung in der VO Nr. 118/97, ABlEG Nr. L 28 vom 30. Januar 1997, S. 1, 102).
Da der Ehemann der Klägerin nur Rente nach den Rechtsvorschriften der Schweiz beziehe, stünden ihm nach Art. 77 Abs. 2 Buchst. a VO Nr. 1408/71 keine Familienbeihilfen für Renten nach den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaates zu. Der Anspruch des Ehemannes auf Kindergeld nach dem EStG werde durch diese Vorschrift zwar nicht ausgeschlossen, jedoch ruhe der Anspruch nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 bis zur Höhe der in der Schweiz gezahlten Kinderrente. Gleiches gelte für den Anspruch der Klägerin auf deutsches Kindergeld.
Unerheblich sei, dass die Kinderrente sowohl eine Kürzung der Leistungen aus der Unfallversicherung in der Schweiz als auch den Wegfall des deutschen Kindergeldes zur Folge habe. In beiden Ländern würden bekanntermaßen keine gleich hohen Leistungsansprüche begründet werden. Da die Kindergeldempfänger in der Wahl ihres Arbeitsplatzes und ihres Wohnsitzes frei seien, könnten sie ihre Entscheidung unter Abwägung der Vor- und Nachteile treffen. Der Anspruch auf das sog. Differenzkindergeld im Wohnsitzland bilde einen besondern Diskriminierungsschutz. Dadurch solle verhindert werden, dass ein Mitgliedstaat die Familienleistungen davon abhängig mache, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem Land wohnen, das die Leistungen erbringt.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde beruft sich die Klägerin auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Sie trägt im Wesentlichen vor, das FG widerspreche sich, indem es einerseits auf den besonderen Diskriminierungsschutz hinsichtlich der Freizügigkeit abhebe, andererseits aber ausführe, der Wohnsitz könne unter Berücksichtigung der Vor- und Nachteile in beiden Ländern hinsichtlich Arbeitslohn, Lebenshaltungskosten und sozialrechtlicher Entlastung bestimmt werden. Gerade in ihrem, der Klägerin, Fall sei die Entscheidung über die Freizügigkeit wesentlich durch die Einkünfte ihres Ehemanns bestimmt gewesen. Wenn die Gewährung und die Höhe des Kindergeldes vom jeweiligen Wohnsitz abhingen, liege darin zumindest eine mittelbare Form der Diskriminierung. Im Übrigen sei Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 ausweislich der Unterüberschrift "Vorschriften für das Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen oder -beihilfen für Arbeitnehmer und Selbständige" nicht auf Rentner --wie ihren Ehemann-- anwendbar.
Die Rechtsfrage sei von grundsätzlicher Bedeutung. Da die Zahl der Grenzgänger gerade in die Schweiz ganz erheblich sei, gehe es nicht darum, das Recht auf einen Einzelsachverhalt anzuwenden, sondern um die Entscheidung von die Allgemeinheit berührenden Rechtsfragen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 132 FGO).
1. Die aufgeworfenen Rechtsfragen sind nicht grundsätzlich bedeutsam i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
a) Soweit die Klägerin ausführt, Art. 10 VO Nr. 574/72 sei im Streitfall schon deshalb nicht anwendbar, weil ihr Ehemann kein Arbeitnehmer bzw. Selbständiger, sondern inzwischen Rentner sei, ist die Rechtslage eindeutig und somit nicht klärungsbedürftig.
Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 regelt ausdrücklich die Konkurrenz von Ansprüchen auf Familienleistungen, die --wie das Kindergeld nach dem EStG -- nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Beschäftigung abhängig sind, und Leistungen für dasselbe Familienmitglied, die allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates oder z.B. nach Art. 77 VO Nr. 1408/71 --hier Familienbeihilfen (Kinderrenten) für Empfänger einer Invaliditätsrente nach Schweizer Recht-- geschuldet werden.
b) Die Rechtslage für den Zeitraum bis zum 30. Mai 2002 ist bereits durch den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 17. Dezember 2001 VI B 230/99 (BFH/NV 2002, 491) geklärt. Danach ist die in Ergänzung zur Invalidenrente in der Schweiz bezahlte Kinderrente eine einem Kinderzuschuss i.S. von § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG vergleichbare Leistung, so dass der Anspruch auf Kindergeld nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen ist.
c) Die Rechtslage für die Zeit ab dem 1. Juni 2002 ist ebenfalls nicht klärungsbedürftig.
Ab diesem Zeitpunkt gelten --wie das FG zutreffend ausgeführt hat-- im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz die VO Nr. 1408/71 und die VO Nr. 574/72.
Der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld ruht nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 574/72 bis zur Höhe der ihrem Ehemann nach Schweizer Recht gewährten Familienleistung (Kinderrente). Ein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld in Höhe der Differenz zwischen dem nach § 66 EStG gewährten Kindergeld und der Kinderrente in der Schweiz besteht nicht, weil die für M und L ausbezahlten Kinderrenten höher als das Kindergeld waren.
d) Soweit die Kinderrenten entsprechend dem Vorbringen der Klägerin zu einer Kürzung anderer Sozialleistungen --im Streitfall der Komplementärrente-- führen, ist dies als eine Folge der freien Arbeitsplatzwahl des Ehemanns der Klägerin hinzunehmen (Senatsurteil vom 24. März 2006 III R 41/05, BFHE 212, 551, BFH/NV 2006, 1554).
Da die Familie der Klägerin darüber hinaus wegen der nach Schweizer Recht gewährten Kinderrenten für M und L über höhere familienbezogene Geldleistungen verfügt, als es bei Ausbezahlung des niedrigeren Kindergeldes nach § 66 EStG der Fall wäre, ist entgegen der Auffassung der Klägerin insoweit gerade keine Diskriminierung zu ihren Lasten erkennbar.
2. Mit ihren Ausführungen wendet sich die Klägerin im Kern gegen die materielle Rechtmäßigkeit des Urteils, wobei sie ihre Rechtsauffassung an die Stelle derjenigen des FG setzt. Dieses Vorbringen ist nicht geeignet, die Zulassung der Revision zu rechtfertigen. Ihre Rüge gibt auch keinen Anhaltspunkt für einen Rechtsanwendungsfehler von erheblichem Gewicht im Sinne einer willkürlichen oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung, die ausnahmsweise zur Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO führt (BFH-Beschluss vom 17. März 2006 III B 135/05, BFH/NV 2006, 1285).
Fundstellen
Haufe-Index 1642114 |
BFH/NV 2007, 228 |