Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Zulässigkeit der Ersatzzustellung bei vergeblicher Zustellung in Praxisräume eines Freiberuflers; Anforderungen an eine Divergenzrüge
Leitsatz (NV)
- Wurde vor dem 1. Juli 2002 bei vergeblicher Zustellung in die Praxis eines Freiberuflers eine Ersatzzustellung vorgenommen, ist die Zustellung unwirksam.
- Der Zustellungsmangel wird geheilt, wenn der Adressat das Schriftstück nachweislich erhalten hat. Die in § 9 Abs. 2 VwZG genannten Fristen werden nicht in Lauf gesetzt.
- Zu den Anforderungen an eine Divergenzrüge.
Normenkette
VwZG § 9; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) wegen Erlass von Säumniszuschlägen zur Umsatzsteuer und Einkommensteuer als unbegründet abgewiesen. Das FG ordnete die Zustellung des Urteils mit Postzustellungsurkunde an den Klägervertreter an. Auf dieser Postzustellungsurkunde ist vermerkt, dass der Postbedienstete versucht hat, die für Herrn Steuerberater X, Y-Straße 4, Z, bestimmte Sendung "in der Wohnung des in der Anschrift bezeichneten Empfängers (Einzelperson, Einzelfirma, Rechtsanwalt usw.) zuzustellen, jedoch niemanden angetroffen habe. Der Postbote habe ―wie bei gewöhnlichen Briefen üblich― die schriftliche Benachrichtigung über die vorgenommene Niederlegung in den Hausbriefkasten eingelegt. Als Datum der Niederlegung ist der 29. November 2001 angegeben. Auf den Hinweis, dass bis zum 29. Januar 2002 die mit der Beschwerdeschrift angekündigte Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesfinanzhof (BFH) nicht eingegangen sei, legte der Klägervertreter am 11. Februar 2002 die Begründungsschrift vor und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Begründungsfrist mit der Begründung, er sei bis zum 18. Dezember 2001 in Urlaub gewesen und habe das Schriftstück erst am 19. Dezember 2001 bei der Post abholen können.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision ist unzulässig und deshalb durch Beschluss zu verwerfen.
Der Senat lässt offen, ob die Beschwerdebegründung rechtzeitig eingereicht worden ist, weil möglicherweise bei Nichtantreffen des Klägervertreters in den Räumen Y-Straße 4 in Z eine wirksame Ersatzzustellung durch Niederlegung des zuzustellenden Schriftstücks bei der Post und entsprechender Benachrichtigung durch Einlegung in den Hausbriefkasten nicht erfolgt ist. Erst seit dem 1. Juli 2002 ist eine Ersatzzustellung auch dann zulässig, wenn der Postbedienstete die Zustellung vergeblich im Geschäftslokal bzw. in der Praxis eines Freiberuflers (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 der Zivilprozessordnung ―ZPO―) versucht hat (vgl. Art. 4 des Gesetzes zur Reform des Verfahrens bei Zustellungen im gerichtlichen Verfahren vom 25. Juni 2001, BGBl I 2001, 1206, BStBl I 2001, 491). Nach dem bis zum 30. Juni 2002 geltenden § 183 ZPO a.F. war für diesen Fall eine Ersatzzustellung durch Niederlegung gesetzlich nicht vorgesehen (z.B. BFH-Beschluss vom 31. Mai 2001 V B 40/01, BFH/NV 2001, 1573, m.w.N.). War die im Adressenfeld der Postzustellungsurkunde angegebene Zustelladresse des Klägervertreters nicht zugleich dessen Wohnanschrift, wäre die Zustellung unwirksam, der Mangel zwar dadurch geheilt, dass der Prozessbevollmächtigte das Schriftstück tatsächlich erhalten hat (§ 9 des Verwaltungszustellungsgesetzes ―VwZG― a.F.); jedoch wären die in § 9 Abs. 2 VwZG in der bis zum 30. Juni 2002 geltenden Fassung benannten Fristen, zu denen auch die Frist für die Einlegung und Begründung des Rechtsmittels gehört, nicht in Lauf gesetzt worden (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2001, 1573, m.w.N.), so dass die Rechtsmittelbegründungsschrift rechtzeitig eingegangen wäre.
Gleichwohl besteht für den Senat keine Veranlassung, dieser Frage weiter nachzugehen, denn die Beschwerde ist deshalb unzulässig, weil keiner der Zulassungsgründe i.S. des § 115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) benannt und entsprechend den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt worden ist.
Nach § 115 Abs. 2 FGO ist die Revision nur zuzulassen, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2. die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erfordert oder
3. ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Gemäß § 116 Abs. 3 FGO müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden. Hierzu genügt es nicht, wenn der Beschwerdeführer ―wie im Streitfall― lediglich erläutert, weshalb seiner Auffassung nach das FG dem ganzen Sachverhalt nicht gerecht werde.
1. Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO
Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Hierzu muss in der Beschwerdebegründung nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO, ausgehend von der Rechtsprechung des BFH, eine konkrete entscheidungserhebliche Rechtsfrage hervorgehoben werden. Es muss die über den Streitfall hinausgehende Bedeutung der Rechtsfrage für die Allgemeinheit dargelegt und ferner begründet werden, warum die Rechtsfrage zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder für eine Fortentwicklung des Rechts der höchstrichterlichen Klärung bedarf (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 11. Februar 1999 III B 91/98, BFH/NV 1999, 1122, m.w.N.). Die Beschwerdebegründung muss ergeben, dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig und im Streitfall auch klärbar ist (BFH-Beschlüsse vom 25. Juli 2000 XI B 122/99, BFH/NV 2000, 1495; vom 14. August 2001 XI B 57/01, BFH/NV 2002, 51).
Diesen Anforderungen genügen die Darlegungen in der Beschwerdeschrift des Klägers nicht, denn er hat keine klärungsbedürftige Rechtsfrage, sondern lediglich dargelegt, weshalb seiner Auffassung nach das FG hätte anders entscheiden müssen.
2. Der Zulassungsgrund der Rechtsfortbildung oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO ist ebenfalls nicht ordnungsgemäß dargelegt worden.
a) Eine Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) ist erforderlich, wenn über bisher ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden ist, insbesondere, wenn der Streitfall im allgemeinen Interesse Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen. Dass ungeklärte Rechtsfragen im allgemeinen Interesse zu entscheiden wären, hat der Kläger nicht vorgetragen.
b) Zur schlüssigen Rüge einer Divergenz (Erfordernis einer Entscheidung des BFH zur "Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung"; § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) muss der Beschwerdeführer tragende und abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen FG-Urteil einerseits und aus der behaupteten Divergenzentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) oder des BFH andererseits herausarbeiten und einander gegenüberstellen, um so eine Abweichung zu verdeutlichen (ständige Rechtsprechung des BFH, z.B. Beschlüsse vom 7. Juni 2000 III B 32/00, BFH/NV 2001, 45; vom 1. August 1990 II B 36/90, BFHE 161, 418; vom 30. März 1983 I B 9/83, BFHE 138, 152, BStBl II 1983, 479). Der Kläger zitiert zwar mehrere Urteile des BFH, die er für einschlägig hält, beschränkt sich aber auf die Erläuterung, der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) habe den entsprechenden Sachverhalt nicht zur Kenntnis genommen.
3. Die Revision ist auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Kein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegt vor, soweit sich die Einwendungen gegen das Verhalten des FA richten. Gleiches gilt für Einwendungen gegen die materielle Richtigkeit des Urteils des FG.
4. Einer weiteren Begründung bedarf die Entscheidung nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO nicht.
Fundstellen
Haufe-Index 978321 |
BFH/NV 2003, 1590 |