Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiederaufnahme des Verfahrens: Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts, Wiederaufnahme eines Beschwerdeverfahrens, Änderung einer ohne Angabe von Gründen erlassenen Entscheidung gesetzlicher Richter - Überbesetzung eines Senats - Geschäftsverteilungsplan - Abweichung von der Rechtsprechung eines anderen obersten Gerichtshofs des Bundes
Leitsatz (redaktionell)
1. Mängel eines nach § 21g Abs.2 GVG aufzustellenden Geschäftsverteilungsplans führen grundsätzlich nicht zu einer vorschriftswidrigen Besetzung des Gerichts i.S. von § 579 Abs.1 Nr.1 ZPO i.V.m. § 134 FGO.
2. Wird die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Beschwerdeverfahrens mit der Begründung beantragt, das Beschwerdegericht sei bei der Beschlußfassung nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 579 Abs.1 Nr.1 ZPO), so ist der Wiederaufnahmeantrag nur zulässig, wenn die zur Begründung des Mangels vorgetragenen Tatsachen eine Verletzung des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG ergeben.
Orientierungssatz
1. Auch ein durch Beschluß rechtskräftig beendetes Verfahren kann wiederaufgenommen werden (vgl. BFH-Rechtsprechung und BVerwG-Rechtsprechung; Literatur). In diesem Fall ist anstelle einer Nichtigkeitsklage ein Antrag auf Wiederaufnahme zu stellen (vgl. BFH-Beschluß vom 18.3.1988 V K 1/88).
2. Die schlüssige Behauptung eines nach §§ 579, 580 ZPO erheblichen Wiederaufnahmegrundes gehört zur Zulässigkeit der Wiederaufnahmeklage (vgl. RG-Rechtsprechung und BFH-Rechtsprechung; Literatur).
3. Richtet sich der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen einen rechtskräftigen, das Beschwerdeverfahren abschließenden Beschluß, ist über den Wiederaufnahmeantrag ebenfalls durch Beschluß zu entscheiden (vgl. BFH-Beschluß vom 16.8.1979 I K 2/79).
4. Hat der Senat bei der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde beschlossen, von einer Begründung nach Art. 1 Nr. 6 BFHEntlG abzusehen, ist der Senat zu einer Änderung dieser Entscheidung nur dann befugt, wenn der rechtskräftige Beschluß über die Nichtzulassungsbeschwerde aufgrund eines zulässigen und begründeten Wiederaufnahmeantrags aufgehoben wird (vgl. BFH-Beschluß vom 19.6.1979 VII R 79-80/79).
5. Weicht ein oberster Gerichtshof des Bundes von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs des Bundes ab, ist eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes dann nicht erforderlich, wenn die Entscheidung des anderen obersten Gerichtshofs des Bundes vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.6.1968 ergangen ist (vgl. BVerwG-Urteil vom 8.2.1983 9 CB 698.82).
6. Gesetzlicher Richter i.S. von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht nur das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende Gericht als Spruchkörper, vor dem verhandelt und von dem die einzelne Sache entschieden wird, sondern sind auch die zur Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter (Ausführungen mit Hinweisen auf die BVerfG-Rechtsprechung zum Sinn und Zweck des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
7. Eine im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts vorgesehene Überbesetzung eines Senats verstößt dann nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn sie zur Gewährleistung einer geordneten Rechtsprechung unvermeidbar ist (vgl. BVerfG-Rechtsprechung und BFH-Rechtsprechung). Ein Spruchkörper ist aber nicht mehr in einer dem Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechenden Weise besetzt, wenn die Zahl seiner ordentlichen Mitglieder es gestattet, daß sie in zwei personell voneinander verschiedenen Sitzgruppen rechtsprechen oder daß der Vorsitzende drei Spruchkörper mit je verschiedenen Beisitzern bilden kann.
8. Aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG läßt sich kein Gebot des Inhalts herleiten, der Vorsitzende eines überbesetzten Spruchkörpers habe vor Beginn des Geschäftsjahres zu bestimmen, welche Mitglieder seines Kollegiums bei den einzelnen richterlichen Geschäften mitwirken.
Normenkette
FGO § 134; BFHEntlG Art. 1 Nr. 6; ZPO §§ 578, 579 Abs. 1 Nr. 1, §§ 586, 580, 589, 588; GVG § 21g Abs. 2; FGO § 10 Abs. 3; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; RsprEinhG § 2 Abs. 1
Gründe
Parallelentscheidung (im Volltext): BFH, Beschluss v. 29.01.1992 - VIII K 4/91 (V)
Fundstellen