Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit eines Ablehnungsgesuchs - Begründung der Besorgnis der Befangenheit durch Äußerungen bei der Urteilsverkündung
Leitsatz (NV)
Nach Beendigung der Instanz kann ein Beteiligter einen Richter noch ablehnen, falls noch über besondere Anträge zu entscheiden ist.
Die an den Kläger bei der Urteilsverkündung gerichtete Äußerung ,Sie mögen beantragen, was Sie wollen ist dazu angetan, Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Vorsitzenden aufkommen zu lassen.
Normenkette
FGO § 51 Abs. 1; ZPO § 42 Abs. 2
Tatbestand
Aufgrund der Feststellungen einer Steuerfahndungsprüfung erließ der Beklagte (das Finanzamt - FA -) gegen die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) zahlreiche Bescheide. Hiergegen haben die Kläger jeweils Anfechtungsklage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Außerdem haben die Kläger zahlreiche Verpflichtungsklagen erhoben, mit denen sie die Aussetzung der Vollziehung der meisten der angefochtenen Bescheide geltend machen. Während der Anhängigkeit dieser Klageverfahren setzte das FA die Vollziehung aller angefochtenen Steuer- und Haftungsbescheide - zum Teil gegen Sicherheitsleistung - unter Widerrufsvorbehalt aus und erklärte die Rechtsstreite in der Hauptsache für erledigt. Die Kläger schlossen sich den Erledigungserklärungen des FA nicht an, sondern hielten ihre Verpflichtungsklagen wegen Aussetzung der Vollziehung in allen Fällen mit dem Ziel aufrecht, die Vollziehung vorbehaltlos auszusetzen.
Der Senat verband einige Verfahren unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Finanzgericht (FG) A und der Richter am FG B und C durch Beschluß vom 13. Juli 1992 zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung (neues Az.:... E, G, U). Zugleich bestimmte der Vorsitzende für dieses verbundene Verfahren Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 30. Juli 1992 (Verfügung vom 13. Juli 1992). Den Antrag der Kläger auf Aussetzung der Verfahren lehnte der ... Senat in derselben Besetzung ab (Beschluß vom 14. Juli 1992).
Der Senatsvorsitzende A teilte den Klägern mit Schreiben vom 17. Juli 1992 u.a. mit, daß der Senat über die Frage, ob die Richter B und C von der Mitwirkung im vorliegenden Verfahren ausgeschlossen seien, gesondert entscheiden werde, daß der Antrag auf Aussetzung der Verfahren bereits durch Beschluß vom 14. Juli 1992 abgelehnt worden sei, daß der Antrag auf Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung abgelehnt werde und daß über Anträge auf Fertigung von Kopien die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle entscheide. Daraufhin lehnten die Kläger alle drei Berufsrichter des Senats in dem Verfahren ... E, G, U wegen Besorgnis der Befangenheit ab (Schriftsatz - Telefax - vom 21. Juli 1992). Dieses Ablehnungsgesuch wies der Senat unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters A und der Richter am FG B und C zurück.
Den nochmaligen Antrag der Kläger, den Termin zur mündlichen Verhandlung aufzuheben (Schriftsatz - Telefax - vom 28. Juli 1992), wies A wiederum zurück (Verfügung vom 28. Juli 1992). Daraufhin lehnten die Kläger diesen in dem Verfahren ...E, G, U nochmals wegen Besorgnis der Befangenheit ab (Schriftsatz - Telefax - vom 29. Juli 1992). Zur Begründung machten sie u.a. geltend, der abgelehnte Richter habe sich erneut über geltendes Prozeßrecht hinweggesetzt, indem er den Antrag auf Aufhebung des Termins bereits zu einem Zeitpunkt abgelehnt habe, zu dem über das ihn selbst betreffende Ablehnungsgesuch vom 21. Juli 1992 noch gar nicht entschieden gewesen sei. Der Senat traf zu dem Ablehnungsgesuch vom 29. Juli 1992 keine gesonderte Entscheidung, sondern behandelte es als rechtsmißbräuchlich (vgl. Urteil vom 30. Juli 1992 ... E, G, U).
Vor Eintritt in die mündliche Verhandlung vom 30. Juli 1992 wiederholten die Kläger sämtliche bisher vorgetragenen Verfahrensrügen einschließlich des Ablehnungsgesuchs vom 29. Juli 1992 (vgl. den in der mündlichen Verhandlung überreichten, nicht datierten Schriftsatz). In der mündlichen Verhandlung teilte B im Rahmen seines Aktenvortrags mit, daß die Kläger im vorliegenden Verfahren zwar bestimmte Verfahrensrügen erhoben, jedoch - soweit ersichtlich - zur Sache, d.h. zur Frage des Widerrufsvorbehalts der Aussetzung der Vollziehung, bisher noch nichts vorgetragen hätten. Im Rahmen der anschließenden Erörterung der Streitsache wies der Vorsitzende A den Prozeßbevollmächtigten der Kläger nochmals darauf hin, daß die Kläger im vorliegenden Verfahren zum Widerrufsvorbehalt noch nichts vorgetragen hätten, und gab ihm Gelegenheit, die Klageanträge zu begründen. Nachdem der Prozeßbevollmächtigte einen weiteren Sachvortrag abgelehnt und auf seinen gesamten bisherigen schriftsätzlichen Vortrag Bezug genommen hatte, erörterte der Vorsitzende mit der Vertreterin des FA den Zweck und die Rechtsgrundlage des Widerrufsvorbehalts. Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger hielt die Ausführungen der Vertreterin des FA für verspätet und beantragte Vertagung des Termins. Anschließend schloß der Vorsitzende die mündliche Verhandlung; der Senat zog sich zur Beratung zurück.
Während der Beratung ließ der Prozeßbevollmächtigte der Kläger durch die Protokollführerin dem Vorsitzenden ein Schriftstück mit dem Antrag vorlegen, dieses noch zu Protokoll zu nehmen. Der Vorsitzende ließ das Schriftstück ungelesen mit dem Hinweis zurückgeben, daß die mündliche Verhandlung geschlossen sei. Nach Abschluß der Beratung betrat der Senat wieder den Sitzungssaal und wartete stehend ab, bis die Protokollführerin die Vertreterin des FA, die sich außerhalb des Sitzungssaales aufhielt, hereingerufen und die Tür geschlossen hatte. Als alle Beteiligten ihre Plätze eingenommen hatten, begann der Vorsitzende mit der Verkündung des Urteils. Nachdem er den ersten Satz des Urteilstenors (Die Klage wird abgewiesen) verlesen hatte, liefen der Prozeßbevollmächtigte und seine Gehilfin auf den Richtertisch zu und fielen dem Vorsitzenden mehrfach mit den Rufen ins Wort: Halt! Halt! So geht das nicht! Es sollen noch Anträge gestellt werden! Der Vorsitzende wies darauf hin, daß die Verhandlungsleitung bei ihm liege, und schloß die Verkündung des Urteils mit den Worten ab: Die Kosten des Verfahrens werden den Klägern auferlegt. Wegen der Entscheidungsgründe nahm der Vorsitzende auf die noch zuzustellende schriftliche Urteilsausfertigung Bezug und schloß die Sitzung.
Mit Schriftsatz - Telefax - vom 30. Juli 1992 lehnten die Kläger den Vorsitzenden Richter am FG A in allen vorgenannten Verfahren wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Sie begründen ihr Ablehnungsgesuch im wesentlichen wie folgt:
Die Besorgnis der Befangenheit ergebe sich aus der Vorgehensweise und den Äußerungen des abgelehnten Richters anläßlich des Verhandlungstermins bzw. im Unkreis dieses Termins vom 30. Juli 1992 im Verfahren ... E, G, U. Der Richter habe zu ihrem - der Kläger - Nachteil bedenkenlos Anträge und Vorbringen mißachtet, sich über prozessuales Recht hinweggesetzt, die ehrenamtlichen Richter falsch informiert, ihren - der Kläger - Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, ihren Vortrag unzutreffend wiedergegeben, ihnen die Beschwerdemöglichkeiten genommen und ihrem Prozeßbevollmächtigten gegenüber Animosität und Geringschätzung zum Ausdruck gebracht.
Der Vorsitzende und die Protokollführerin haben sich zu dem Ablehnungsgesuch dienstlich geäußert (schriftliche Äußerungen vom 5. bzw. 7. Augsut 1992). Vorsitzender Richter am FG A hat erklärt, daß er sich nicht für befangen halte.
Das FG wies die Anträge zurück.
Mit der Beschwerde tragen die Kläger u.a. vor:
Vorsitzender Richter am FG A habe unstreitig bei Verkündung des Urteils geäußert: Sie mögen beantragen, was Sie wollen. Diese Äußerung, die in dem angefochtenen Beschluß nicht einmal erwähnt werde, sei unsachlich und zeige, daß die Kläger nicht mehr mit Offenheit, Sorgfalt und Objektivität rechnen könnten. Die dienstliche Äußerung lasse jede Distanzierung vermissen. Die Weigerung, einen Beteiligten überhaupt anzuhören, stelle einen selbständigen Befangenheitsgrund dar. Keiner der anwesenden Berufsrichter sei dem entgegengetreten.
Vorsitzender Richter am FG A habe überdies gegenüber dem Prozeßbevollmächtigten bekundet: Sie haben hier gar nichts zu sagen, und Ich habe soeben ein Urteil verkündet, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Reicht Ihnen das immer noch nicht? Auch diese Äußerungen seien im Beschluß nicht aufgeführt. Die Begleiterin des Prozeßbevollmächtigten habe diese Äußerungen unmittelbar an Ort und Stelle protokolliert.
Zudem hätte Vorsitzender Richter am FG A erkennen können, daß es sich bei dem durch die Protokollführerin vorgelegten Schriftstück um einen Ablehnungsantrag gehandelt habe. Auch wenn er das Schriftstück ungelesen zurückgegeben haben wolle, so habe er doch erkannt, daß es sich um ein handschriftlich verfaßtes Stück gehandelt habe. Dann hätte er aber auch die in schwarzer Maschinenschrift hervorgehobene Überschrift Ablehnungsantrag erkennen müssen. Dem Prozeßbevollmächtigten die Schuld für die Nicht-Entgegennahme durch unterlassene Aufklärung der Protokollführerin zu geben, sei abwegig.
Das FA hält den angefochtenen Beschluß für zutreffend.
Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Mit Schriftsatz vom 30. August 1993 haben die Kläger ihren auf Ablehnung des C gerichteten Antrag zurückgenommen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet.
1. Die Ablehnungsgesuche waren nicht wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Mit dem Richterablehnungsverfahren wird das Ziel verfolgt, einen abgelehnten Richter an weiterer Tätigkeit in dem betreffenden Verfahren zu hindern (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. März 1980 I B 23/80, BFHE 130, 20, BStBl II 1980, 335). Nach Beendigung der Instanz kann ein Beteiligter einen Richter auch dann noch ablehnen, wenn noch nachträglich über besondere Anträge, z.B. auf Berichtigung des Tatbestandes, zu entscheiden ist (BFH-Beschluß vom 15. April 1985 VIII S 19/81, BFH/NV 1986, 342). Im Streitfall waren nach der Urteilsverkündung jedenfalls noch das Sitzungsprotokoll zu fertigen und das Urteil zu begründen. Zudem folgten noch weitere Verfahren, insbesondere die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision vom 12. Oktober 1992, über deren Abhilfe die abgelehnten Richter zu entscheiden hatten. Im Unterschied dazu betrafen die Beschlüsse vom 8. Mai 1992 III B 163/92 (BFHE 167, 299, BStBl II 1992, 675), und vom 16. Juli 1992 I B 29/92 (BFH/NV 1993, 252) Fälle, in denen das Ablehnungsgesuch nach dem Nichtabhilfebeschluß gestellt worden war.
2. Gemäß § 51 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 42 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Es müssen objektive Gründe vorliegen, die vom Standpunkt des Ablehnenden aus bei ruhiger und vernünftiger Betrachtung befürchten lassen, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber (BFH-Beschlüsse vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555; vom 24. Juli 1992 VI B 109/91, BFH/NV 1993, 41, und vom 27. Juli 1992 VIII B 59/91, BFH/NV 1993, 112). Hierher gehören Verstöße des Richters gegen die gebotene Objektivität und Neutralität und die Fälle unsachlichen und auf Voreingenommenheit hindeutenden Verhaltens im laufenden Verfahren, z.B. wenn die Verfahrensweise des Richters jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt oder wenn sie den Anschein der Willkür erweckt. Auch unsachliche Äußerungen, die Weigerung, einen schriftsätzlich angekündigten Antrag einer Partei anzunehmen und ihn im Protokoll festzuhalten (Beschluß des Oberlandesgerichts - OLG - Köln vom 16. Oktober 1970 3 W 46/70, OLGZ 1971, 376) sowie eine unzulängliche Stellungnahme des Richters zu den zum Ablehnungsantrag führenden Vorgängen in der dienstlichen Äußerung können Zweifel an der Unparteilichkeit wecken.
Dagegen sind Verfahrensverstöße oder fehlerhafte Entscheidungen grundsätzlich kein Ablehnungsgrund (BFH-Beschlüsse vom 8. Mai 1992 III B 110/92, BFH/NV 1993, 174, und in BFH/NV 1993, 112). Etwas anderes gilt nur dann, wenn Gründe dargetan werden, die darauf hindeuten, daß die Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters oder auf Willkür beruht (BFH-Beschluß vom 16. Februar 1989 X B 99/88, BFH/NV 1989, 708).
Ebenso kann das eigene Verhalten der ablehnenden Partei als solches keinen Ablehnungsgrund herbeiführen. Durch Angriffe auf den Richter (wie Dienstaufsichtsbeschwerden, Anträge auf Einleitung von Disziplinarmaßnahmen, wiederholte Ablehnungsgesuche in früheren Prozessen) kann ein Beteiligter einen ihm unbequemen Richter nicht ausschalten (Beschluß des OLG München vom 27. Oktober 1970 I U 1212/70, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1971, 384). Dies gilt auch dann, wenn sich der Richter gegen das Verhalten des Beteiligten, z.B. durch eine Strafanzeige, zur Wehr setzt.
Im Streitfall liegen indes darüber hinausgehende Umstände vor, die geeignet sind, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Vorsitzenden Richters A zu begründen.
Die Äußerungen, die A bei Verkündung des Urteils machte, sind geeignet, aus der Sicht der Kläger Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit aufkommen zu lassen. Äußerungen wie Sie mögen beantragen, was Sie wollen sind jedenfalls dazu angetan, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu begründen. Das gilt auch dann, wenn die Verhandlung in angespannter Atmosphäre abgelaufen und eine gewisse Erregung und Nervosität entstanden ist. Vor allem kommt der Umstand hinzu, daß A sich geweigert hat, den von dem Prozeßbevollmächtigten handschriftlich verfaßten Antrag entgegenzunehmen. Dieses Verhalten ist prozessual nicht korrekt und läßt aus der Sicht der Kläger Zweifel an der gebotenen Sachlichkeit aufkommen.
Fundstellen
Haufe-Index 419558 |
BFH/NV 1994, 565 |