Leitsatz (amtlich)
Unlautere Mittel im Sinn von § 96 Abs. 2 AO, die das FA zum Widerruf eines gemäß § 131 AO ausgesprochenen Steuererlasses berechtigen, wendet ein Steuerpflichtiger dann an, wenn er im Zusammenhang mit dem Erlaßantrag Angaben macht, deren Unrichtigkeit ihm bekannt ist. Dem Steuerpflichtigen braucht nicht bewußt zu sein, daß das FA gerade diesen Angaben besondere Bedeutung für den Steuererlaß beimessen würde.
Normenkette
AO § 96 Abs. 2
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beklagte und Revisionskläger (FA) eine Erlaßverfügung zu Recht widerrufen hat (§ 96 Abs. 2 AO).
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist seit 1966 als Wirtschaftsberater tätig. In den Jahren bis 1965 war er Gesellschafter einer KG, deren Betrieb eingestellt wurde. Für die Jahre von 1961 bis 1965 beliefen sich seine Steuerschulden auf rd. 7 200 DM. Nachdem mehrere Pfändungsversuche des FA erfolglos geblieben waren, erschien der Kläger am 7. Februar 1969 beim FA, um über seine Rückstände zu verhandeln. Es kam zu einer Vereinbarung, in welcher sich das FA bereit erklärte, dem Kläger einen Betrag von 2 209,90 DM an Einkommensteuer und Kirchensteuer für 1961 und 1962 zu erlassen, nachdem der Kläger dargetan hatte, daß ihm andere Gläubiger 50 v. H. ihrer Forderungen erlassen hätten. In dem vom FA hierüber aufgenommenen Vermerk heißt es:
"Nach Angaben des Herrn R. hat er seinen Betrieb aufgegeben und ist z. Zt. Arbeitnehmer bei der Firma P. in E." Gemeint war damit die Aufgabe seiner selbständigen Tätigkeit als Wirtschaftsberater. Die daraufhin ergangene Erlaßverfügung des FA datiert vom 3. März 1969.
Mit Bescheid vom 23. September 1970 widerrief das FA die Erlaßverfügung vom 3. März 1969, weil wie inzwischen bei einer Betriebsprüfung festgestellt worden sei, der Kläger zu Unrecht erklärt habe, daß er seine selbständige Tätigkeit aufgegeben habe und sich in einem Arbeitsverhältnis befinde. Tatsächlich habe der Kläger seine freiberufliche Tätigkeit fortgesetzt.
Die Beschwerde des Klägers an die OFD blieb ohne Erfolg.
Das FG gab der Klage statt. Es hob die Beschwerdeentscheidung der OFD und die Widerrufsverfügung vom 23. September 1970 auf. Das FG führte aus, es sei nicht erwiesen, daß die Erklärung des Klägers eine bewußte Irreführung des FA bezweckt habe und daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Erklärung und der Gewährung des Erlasses bestanden habe oder daß ein solcher Zusammenhang dem Kläger bewußt geworden sei. Nach dem Vermerk sei alleiniger Erlaßgrund gewesen, daß sich das FA wie die anderen Gläubiger des Klägers habe verhalten wollen und das fruchtlose Pfändungen vorausgegangen seien. Es könne nicht angenommen werden, daß der Berufswechsel als Erlaßgrund hinreichend in das Bewußtsein des Klägers gedrungen sei. Der Umstand, daß der Kläger wenige Tage nach dem Erlaßausspruch - nach Bekundung des Zeugen W. - dem FA fernmündlich davon Mitteilung gemacht habe, daß sich seine Anstellung als Angestellter zerschlagen habe und er wieder freiberuflich tätig sein werde, spreche eher gegen als für die Annahme, daß dem Kläger die Ursächlichkeit des Berufswechsels für den Erlaßausspruch bei der Verhandlung mit dem FA bewußt gewesen sei. Denn sonst hätte er damit rechnen müssen, daß aufgrund dieser Mitteilung der Erlaß widerrufen würde. Eine vorsätzliche Irreführung des FA sei nach alledem nicht erwiesen. Unter diesen Umständen komme es nicht mehr darauf an, ob der Kläger, wie er behaupte, nach einem Telefongespräch mit dem FA vom 10. Februar 1969 in einem persönlich beim FA abgegebenen Schreiben vom 12. Februar 1969 das FA davon unterrichtet habe, daß er weiterhin selbständig tätig sei. Ferner sei für die Entscheidung unerheblich, ob das FA im Zeitpunkt des Widerrufs der Verfügung vom 3. März 1969 (23. September 1970) diese von ihm in Anspruch genommene Befugnis bereits verwirkt hatte, nachdem es bereits im Frühjahr 1969 von der Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit des Klägers Kenntnis erlangt und die bei der Verhandlung vom 7. Februar 1969 vereinbarten monatlichen Ratenzahlungen von 250 DM weiterhin entgegengenommen habe.
Das FA beantragt in seiner Revision die Aufhebung der Vorentscheidung und die Abweisung der Klage, hilfsweise die Zurückverweisung der Sache an das FG. Es rügt mangelnde Sachaufklärung und unrichtige Anwendung des § 96 Abs. 2 AO.
Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung.
1. Ein Steuererlaß, der bereits ausgesprochen ist und demgemäß zum Erlöschen der Steueransprüche geführt hat, kann nur unter den Voraussetzungen des § 96 Abs. 2 AO - mit rückwirkender Kraft - widerrufen werden (vgl. Urteil des BFH vom 7. März 1967 VII 63/63, BFHE 88, 313, BStBl III 1967, 381). Der Widerruf ist nur zulässig, wenn die Erlaßverfügung durch "unlautere Mittel" veranlaßt worden war.
a) Das Gesetz führt u. a. Täuschungshandlungen an. Darüber hinaus kommt jedes andere vorsätzliche Mittel in Betracht, das die Willensbildung der Behörde beeinflußt hat (so zutreffend Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Anm. 14 zu § 96 AO). Zwischen der Anwendung des unlauteren Mittels und der Gewährung der Begünstigung muß ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Dabei ist nicht erforderlich, daß sich die unlauteren Mittel auf Tatsachen oder Umstände beziehen, die eine rechtliche Voraussetzung für die Verfügung sind. Ohne Bedeutung ist, ob die Verfügung u. U. auch ohne Anwendung des unlauteren Mittels hätte erwirkt werden können (vgl. BFH-Urteil vom 10. August 1961 IV 320/59 U, BFHE 73, 611, BStBl III 1961, 488).
Unlautere Mittel wendet ein Steuerpflichtiger schon dann an, wenn er im Zusammenhang mit dem Erlaßgesuch objektiv unrichtige Angaben macht und ihm die Unrichtigkeit bewußt ist. Dagegen braucht sich sein Vorsatz nicht auf den Kausalzusammenhang zwischen diesen Angaben und der Willensbildung der Steuerbehörde zu beziehen. Die Unlauterkeit besteht bereits in den bewußt wahrheitswidrigen Angaben. Die Vorschrift des § 96 Abs. 2 AO verlangt lediglich, daß durch ein solches Mittel die Verfügung der Steuerbehörde (objektiv) "veranlaßt" wurde.
b) Im Streitfall ist das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Es sah als entscheidend an, ob dem Kläger - was es verneinte - bewußt gewesen sei, daß er durch seine Angaben die Beamten des FA "irregeführt" habe. Damit hat die Vorinstanz darauf abgestellt, ob dem Kläger bewußt war, daß vor allem diejenigen seiner Angaben, die objektiv unrichtig waren, das FA zu der begünstigenden Verfügung veranlaßt hatten. Hierauf kommt es indes, wie bemerkt, nicht an. Es genügte, daß die Angaben des Klägers über eine bereits eingetretene grundsätzliche Änderung seiner beruflichen Verhältnisse nicht zutrafen, daß der Kläger die Unrichtigkeit kannte und daß das FA diesen Angaben erhebliche Bedeutung für seine Entscheidung beimaß.
Die Vorentscheidung muß deshalb aufgehoben werden.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Für die Entscheidung kommt es darauf an, ob dem FA im Zeitpunkt des Erlasses seiner begünstigenden Verfügung (3. März 1969) der richtige Sachverhalt bekannt war. Es ist deshalb entscheidend, ob der Kläger seine bei der Verhandlung vom 7. Februar 1969 gemachten unrichtigen Angaben bis zum Erlaß der Verfügung richtiggestellt hat. Die Sache geht deshalb an das FG zurück, welches nunmehr zu prüfen haben wird, ob die Behauptung des Klägers zutrifft, er habe am 10. Februar 1969 das FA fernmündlich und unter dem 12. Februar 1969 schriftlich davon unterrichtet, daß er das Arbeitsverhältnis nicht angetreten und er seine bisherige selbständige Tätigkeit fortgesetzt habe.
3. Sollte das FG bei der erneuten Prüfung der Sache zu dem Ergebnis kommen, daß der Kläger das FA erst nach der Bekanntgabe der Erlaßverfügung unterrichtet hat, so könnte nicht mehr davon ausgegangen werden, daß die Mitteilung des Klägers im Zusammenhang mit dem Erlaßverfahren gestanden habe. In diesem Falle wäre die Erlaßverfügung durch ein unlauteres Mittel erwirkt worden. Indes wird das FG dann weiter zu prüfen haben, ob das FA nicht das Recht zum Widerruf der Erlaßverfügung (§ 96 Abs. 2 AO) dadurch verwirkt hat, daß es die Widerrufsverfügung erst rd. eineinhalb Jahre nach dem Zeitpunkt erlassen hat, zu dem es spätestens die Kenntnis vom Nichtvorliegen solcher Umstände erlangt hatte, die nach seiner Auffassung für die Gewährung des Steuererlasses entscheidend waren. Der Senat kann zu dieser Frage nicht näher Stellung nehmen, da die Gründe für die Verzögerung des Widerrufs nicht festgestellt sind.
Fundstellen
BStBl II 1975, 677 |
BFHE 1975, 173 |