Entscheidungsstichwort (Thema)
Auswahlermessen bei Haftung
Leitsatz (NV)
Bei der Inanspruchnahme eines (nominellen) GmbH-Geschäftsführers als Haftungsschuldner muß das FA bei der Ausübung des Auswahlermessens auch die Möglichkeit einer Inanspruchnahme eines faktischen Geschäftsführers und des Nachfolgegeschäftsführers in seine Erwägungen einbeziehen. Die Ermessensausübung ist im Haftungsbescheid, spätestens in der Einspruchsentscheidung zu begründen.
Normenkette
AO 1977 §§ 34-35, 69, 191
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war Geschäftsführer einer GmbH. Aufgrund eines Treuhandvertrages hielt er die Geschäftsanteile an dieser Gesellschaft zugunsten der Treugeber A und B, deren Weisungen er unterlag. Durch Gesellschafterbeschluß wurde der Kläger mit Wirkung vom . . . als Geschäftsführer der GmbH abberufen und A zum neuen Geschäftsführer bestellt. Mit Beschluß des zuständigen Amtsgerichts wurde die Gesellschaft aufgelöst, nachdem die Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgelehnt worden war.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger wegen nicht abgeführter Lohnsteuer, Lohnkirchensteuer und Umsatzsteuer der GmbH nebst Verspätungszuschlägen und Säumniszuschlägen gemäß § 69 i.V.m. § 34 der Abgabenordnung (AO 1977) als Haftungsschuldner in Anspruch. Die Einsprüche und die Klage gegen die Haftungsbescheide blieben im wesentlichen erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) führte aus, der Kläger habe den Haftungstatbestand (§§ 34, 69, AO 1977) erfüllt, weil er die angemeldeten Steuern nicht an das FA abgeführt habe. Der Treuhandvertrag schließe die Pflichtverletzung gegenüber dem FA nicht aus, da er nur das Innenverhältnis zwischen dem Kläger und den Treugebern betreffe. Der Kläger habe über das Geschäftskonto der GmbH verfügen können. Bei nicht ausreichenden Geldmitteln hätte er - zur anteiligen Befriedigung des FA - die in voller Höhe ausgezahlten Löhne nur gekürzt auszahlen dürfen. Der Haftungszeitraum erstrecke sich bis zu dem Zeitpunkt der Abberufung des Klägers als Geschäftsführer. Das Schreiben des Klägers an die Treugeber könne - entgegen dessen Auffassung - weder als Kündigung noch als wirksame Niederlegung der Geschäftsführertätigkeit angesehen werden; denn der Kläger sei auch später noch für die GmbH tätig geworden. Dem stehe nicht entgegen, daß nach den Feststellungen im Strafurteil des Amtsgerichts gegen den Treugeber A dieser ab . . . als faktischer Geschäftsführer aufgetreten sei. Selbst wenn A als derjenige anzusehen sei, der die Geschäfte der GmbH im streitbefangenen Zeitraum geführt habe, während der Kläger nur nominell zur Geschäftsführung bestellt gewesen sei, könne dies die Haftung des Klägers nicht ausschließen.
Die Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner beruhe auch auf einer fehlerfreien Ermessensausübung. Soweit das FA in den angefochtenen Verwaltungsakten keine Ausführung dazu gemacht habe, daß neben dem Kläger nicht auch eine Haftung des A in Betracht komme, sei das nicht zu beanstanden. Denn selbst wenn A für die GmbH in Erscheinung getreten sei, müßte der Kläger aus den dargelegten Gründen als Geschäftsführer angesehen werden, was eine Haftung des A ausschließe. Ausführungen zum Auswahlermessen seien daher entbehrlich gewesen.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Er vertritt die Auffassung, die Haftungsbescheide in Gestalt der Einspruchsentscheidung seien aufzuheben, weil die angefochtenen Verwaltungsakte die Erwägungen des FA zum Auswahlermessen nicht erkennen ließen und somit davon auszugehen sei, daß insoweit überhaupt keine Ermessenserwägungen angestellt worden seien. Im Streitfall komme neben der Haftung des nominellen Geschäftsführers der GmbH auch die Haftung des Treugebers A sowohl als faktischer Geschäftsführer als auch als Nachfolgegeschäftsführer in Betracht. Das FA habe aber nicht begründet, warum es nur ihn, nicht aber auch den A als Haftungsschuldner in Anspruch genommen habe. Insoweit beruft sich der Kläger auf die Ausführungen des Senats in seinem Beschluß, mit dem die Vollziehung der Haftungsbescheide bis zur Entscheidung über die Revision ausgesetzt worden ist.
Ferner rügt der Kläger mangelnde Sachaufklärung zu den folgenden Punkten:
Das FG habe die Umstände, die mit der Niederlegung seines Amtes als Geschäftsführer mit Schreiben . . . an die Treugeber verbunden gewesen seien, nicht ausreichend aufgeklärt und deshalb das Kündigungsschreiben fehlerhaft gewürdigt. Soweit er nach dem . . . noch für die GmbH tätig geworden sei, habe er nicht mehr in seiner Organstellung als Geschäftsführer gehandelt. Er habe somit nicht - wie das FG meine - die Niederlegung seines Amtes stillschweigend rückgängig gemacht. Die GmbH habe nach Ausschöpfung der ihr eingeräumten Kreditlinie nicht mehr über eigene Mittel verfügt. Vielmehr habe der Treugeber und faktische Geschäftsführer A die Außenstände selbst eingezogen und daraus die Löhne und Gehälter bezahlt, ohne daß das Geschäftskonto berührt worden sei. A habe auch unmittelbar die Lieferanten bezahlt. Hierfür habe er Beweise angetreten, denen das FG nicht nachgegangen sei.
Das FG habe auch die Pflichtverletzung und sein Verschulden zu Unrecht bejaht, weil es keine Feststellungen dazu getroffen habe, welche Mittel ihm zur Bezahlung der Schulden der GmbH zur Verfügung gestanden hätten. Ferner sei es seinen Beweisanträgen hinsichtlich des mitwirkenden Verschuldens des FA - Freigabe einer gepfändeten Maschine der GmbH an den Treugeber B - nicht nachgegangen.
Das FA macht geltend, Ausführungen zum Auswahlermessen seien im Streitfall entbehrlich gewesen, weil eine Haftung des Treugebers A neben dem Kläger nicht in Betracht gekommen sei. A sei nicht Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO 1977 gewesen. Selbst wenn er als solcher aufgetreten sei, hafte er nicht, weil er die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters rechtlich und tatsächlich nicht habe erfüllen können. Als Nachfolgegeschäftsführer könne A deshalb nicht in Anspruch genommen werden, weil ihm nach Übernahme der Geschäftsführung keinerlei Mittel zur Verfügung gestanden hätten, um die vorliegenden Steuerrückstände zu begleichen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, weil das FG die Anforderungen an die Begründung der Ermessensentscheidung bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners verkannt hat. Die Sache ist spruchreif (§ 126 Abs. 3 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Aus den Ausführungen im FG-Urteil und in der angefochtenen Einspruchsentscheidung ergibt sich, daß neben dem Kläger als Geschäftsführer auch eine Haftung des Treugebers A für die vorliegenden Steuerrückstände in Betracht kommt. Da aber die angefochtenen Haftungsbescheide und die Einspruchsentscheidung - wie das FG zutreffend festgestellt hat - keine Erwägungen zum Auswahlermessen im Hinblick auf eine mögliche Inanspruchnahme des A enthalten, sind die Verwaltungsakte des FA bereits wegen dieses Begründungsmangels formell fehlerhaft und folglich aufzuheben (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
1. a) Bei der Inanspruchnahme eines nach den §§ 34, 69 AO 1977 Haftenden handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (§ 191 Abs. 1 AO 1977), die nach § 102 FGO darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen von einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr.2 und Abs. 2 AO 1977), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen - die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners - aus der Entscheidung erkennbar sein (BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493 und Senatsurteil vom 30. April 1987 VII R 48/84, BFHE 149, 511, BStBl II 1988, 170).
Die Behörde muß insbesondere zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt. Nach der Rechtsprechung des BFH kommt auch ein faktischer Geschäftsführer einer GmbH, wenn er mit dem entsprechenden Anschein einer Berechtigung tatsächlich nach außen hin auftritt, obwohl er formell nicht zum Geschäftsführer bestellt worden ist, gemäß § 69 i.V.m. § 35 AO 1977 für die Haftung in Betracht (Urteil vom 10. Mai 1989 I R 121/85, BFH/NV 1990, 7). Ferner kann ein Nachfolgegeschäftsführer auch für die von seinem Vorgänger nicht an das FA abgeführten Steuern nach §§ 69, 34 Abs. 1 AO 1977 haften (Urteil des Senats vom 17. Januar 1989 VII R 88/86, BFH/NV 1990, 71). Diese potentiellen Haftungsschuldner sind deshalb ebenfalls in die Ermessenserwägungen einzubeziehen, die bei der Inanspruchnahme des formell bestellten Geschäftsführers, der später von seinem Amt entbunden worden ist, anzustellen sind (vgl. BFH/NV 1990, 71).
b) Nach den Ausführungen der Vorentscheidung hat das Amtsgericht in seinem Strafurteil festgestellt, daß der Treugeber A, für den der Kläger treuhänderisch GmbH-Anteile hielt, bereits ab . . . als faktischer Geschäftsführer der GmbH aufgetreten ist. Das FG hat es nicht als ausgeschlossen angesehen, daß A die Geschäfte der GmbH im streitbefangenen Zeitraum geführt hat, während der Kläger nur nominell zum Geschäftsführer bestellt war. Auch nach der Einspruchsentscheidung des FA erfolgte - wie der Treugeber in seiner Stellungnahme gegenüber dem FA selbst erklärt hatte - die Leitung der GmbH tatsächlich durch A. Dieser besorgte danach u.a. die Arbeitseinteilung, die Anmeldungen gegenüber der Krankenkasse und dem FA sowie die Befriedigung der Lieferanten und des FA durch Weitergabe von Schecks, die von ihm selbst eingezogen worden waren. Mit Wirkung zum . . . ist dann der Kläger als Geschäftsführer abberufen und A auch formell zum Geschäftsführer bestellt worden. Es kommt somit neben der Haftung des Klägers nach der vorstehend angeführten Rechtsprechung des BFH auch eine Haftung des A sowohl als faktischer Geschäftsführer der GmbH als auch als Nachfolgegeschäftsführer nach Abberufung des Klägers in Betracht. Die Verwaltungsentscheidungen des FA (Haftungsbescheide und Einspruchsentscheidung) enthalten aber - wie das FG zutreffend festgestellt hat - keine Ausführungen zum Auswahlermessen des FA hinsichtlich der auch denkbaren Haftungsinanspruchnahme des A. Auf die Darlegung dieser Ermessenserwägungen konnte nicht - wie das FG meint - deshalb verzichtet werden, weil der Kläger nominell der Geschäftsführer der GmbH war. Denn das schließt eine Mithaftung des A als faktischer Geschäftsführer oder zumindest als auch formell bestellter Nachfolgegeschäftsführer nicht aus.
Da in den Verwaltungsentscheidungen jegliche Ausführungen zum Auswahlermessen fehlen, kann nicht ausgeschlossen werden, daß das FA überhaupt keine Erwägungen zur Frage der Inanspruchnahme des A angestellt und damit für die Ermessensentscheidung wesentliche Umstände außer acht gelassen hat (Fall der Ermessensunterschreitung, vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 102 Anm.2, 6). Der Senat braucht nicht zu prüfen, ob und in welchem Umfang A als faktischer Geschäftsführer oder als Nachfolgegeschäftsführer nach den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der GmbH die streitbefangenen Steuerrückstände hätte entrichten können und ob er somit tatsächlich den Haftungstatbestand erfüllt hat. Denn jedenfalls ist die Ermessensentscheidung deshalb fehlerhaft, weil das FA in der Einspruchsentscheidung auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme des A nicht eingegangen ist (vgl. BFH/NV 1990, 71, 72).
c) Hierzu bestand - entgegen der Revisionserwiderung des FA - Anlaß, weil eine Haftung des A als Verfügungsberechtigter (§§ 35, 69 AO 1977) oder auch - wenigstens wegen eines Teilbetrags - als Nachfolgegeschäftsführer (§§ 34, 69 AO 1977) nicht ausgeschlossen werden kann. Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO 1977 ist jeder, der wirtschaftlich über Mittel, die einem anderen gehören, verfügen kann und als Verfügungsberechtigter auftritt. Es reicht aus, daß er jedenfalls mittelbar rechtlich und tatsächlich in der Lage ist, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters im Hinblick auf die Begleichung der Steuerschulden zu erfüllen (Urteil des Senats vom 27. November 1990 VII R 20/89, BFHE 163, 106, BStBl II 1991, 284). Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen spricht, daß A - gemäß den Ausführungen in der Einspruchsentscheidung - nach seinem eigenen Bekunden den Betrieb der GmbH tatsächlich geleitet und dabei selbst die Anmeldungen an das FA vorgenommen, eingehende Schecks an sich genommen und damit die Lieferanten und das FA befriedigt hat. Auch die Löhne und Gehälter soll A nach dem unter Beweis gestellten Vorbringen des Klägers aus den von ihm eingezogenen Außenständen bezahlt haben. A war aufgrund des Treuhandvertrages auch rechtlich in der Lage, dem Kläger als dem nominellen Geschäftsführer Anweisungen zu erteilen. Schließlich kann auch seine Haftung als Nachfolgegeschäftsführer für die am . . . von ihm vorgefundenen Steuerrückstände nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Das FA und das FG haben keine Feststellungen zu den zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Zahlungsmitteln der GmbH getroffen. Der Konkursantrag ist erst nach Ablauf eines weiteren Monats gestellt worden.
2. Da der Hauptantrag der Revision Erfolg hat und die angefochtenen Haftungsbescheide in Gestalt der Einspruchsentscheidung bereits wegen fehlender Ausübung des Auswahlermessens aufzuheben sind, braucht der Senat auf die vom Kläger gerügte mangelnde Sachaufklärung durch das FG (§ 76 FGO) hinsichtlich der Niederlegung seines Geschäftsführeramtes durch Schreiben vom . . ., der Ursächlichkeit der Pflichtverletzung und des Verschuldens im Hinblick auf die ihm zur Verfügung stehenden Geldmittel der GmbH und des mitwirkenden Verschuldens des FA am Verlust einer aufgezeigten Vollstreckungsmöglichkeit nicht einzugehen. Denn die Verfahrensrügen könnten, wenn sie zulässig und begründet wären, nur - dem Hilfsantrag der Revision entsprechend - zu einer Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führen.
Fundstellen
Haufe-Index 418393 |
BFH/NV 1993, 213 |