Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs nach § 104 SGB
Leitsatz (NV)
1. Ein Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 3 EStG (nunmehr: § 74 Abs. 2 EStG) i.V. mit § 104 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB X erfordert eine Gleichartigkeit der Leistungen der beiden Leistungsträger.
2. Eine Gleichartigkeit liegt nicht vor bei Sachleistungen im Rahmen einer Heimerziehung einerseits und Geldleistungen wie dem Kindergeld andererseits.
3. Ein Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X setzt voraus, dass gegenüber dem Kindergeldberechtigten ein anfechtbarer Kostenbeitragsbescheid ergangen ist.
Normenkette
EStG 2000 § 74 Abs. 3; SGB X § 104 Abs. 1-2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine Stadt. Sie kommt für die Kosten der vollstationären Unterbringung des 1971 geborenen Y (im Folgenden auch: Kind) in einer Behinderteneinrichtung auf.
Die Eltern kümmern sich um ihr Kind, indem es etwa drei Wochenenden im Monat, Feiertage und Ferien bei ihnen verbringt und sie die wesentlichen Aufwendungen für das Kind in dieser Zeit tragen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Beklagter) hat zugunsten der Mutter (im Folgenden: die Beigeladene) Kindergeld für Y festgesetzt.
Die Klägerin stellte am 13. Januar 2000 beim Beklagten unter Hinweis auf § 90 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) einen als "Überleitungsanzeige" bezeichneten Antrag auf Auszahlung des Kindergeldes an sie. Der Beklagte lehnte den Antrag ab.
Die Klägerin stützte ihr Klagebegehren, das Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2000 bis zum Dezember 2001 an sie auszuzahlen, auf § 90 BSHG und auf § 74 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) a.F. (nunmehr: § 74 Abs. 2 EStG) i.V.m. § 104 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X).
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Der Leitsatz zu dem Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 1637 abgedruckt.
Die Klägerin rügt mit ihrer Revision eine Verletzung des § 74 Abs. 2 EStG n.F. i.V.m. § 104 Abs. 1 SGB X.
Sie beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, das Kindergeld für das Kind Y für den Zeitraum vom 1. Januar 2000 bis zum 31. Dezember 2001 an sie auszuzahlen.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass das Kindergeld nicht an die Klägerin auszuzahlen ist.
1. Die Klägerin hat ihre Auffassung, der Beklagte sei gemäß § 90 BSHG zur Auszahlung des Kindergeldes an sie verpflichtet, zu Recht im Revisionsverfahren nicht mehr aufrechterhalten. § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG setzt einen Anspruch des Hilfeempfängers oder seiner Eltern gegen einen anderen voraus, der kein Leistungsträger i.S. von § 12 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) ist. § 12 SGB I verweist auf die §§ 18 bis 29 SGB I. In § 25 Abs. 3 SGB I sind die Familienkassen als Leistungsträger genannt.
Darüber hinaus entspricht es allgemeiner Meinung, dass § 90 BSHG den Übergang von Ansprüchen nur in den Fällen regelt, in denen hierfür nicht ausdrückliche, vorrangige, sondergesetzliche Vorschriften bestehen (vgl. z.B. Schellhorn/Jirasek/Seipp, Das Bundesozialhilfegesetz, 15. Aufl., 1997, § 90 Rn. 5). Die in § 74 EStG getroffenen Regelungen sind jedoch solche Sonderregelungen. Das bedeutet, dass nach der Neuregelung des Kindergelds durch das Jahressteuergesetz (JStG) 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) für die Auszahlung des Kindergelds nach den §§ 62 ff. EStG direkt an den Sozialleistungsträger außer einer Abtretung nach § 46 der Abgabenordnung (AO 1977) nur die Möglichkeit der Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG oder der Erstattung nach § 74 Abs. 2 EStG (früher: § 74 Abs. 3 EStG) i.V.m. §§ 102 ff. SGB X besteht (vgl. Schaefer/Wolf in Fichtner --Hrsg.--, Bundessozialhilfegesetz, 2. Aufl., § 90 Rn. 19 b).
Im Streitfall ist keine Abtretung erfolgt. Die Klägerin hat ihr Auszahlungsbegehren im Klageverfahren auch nicht mehr auf § 74 Abs. 1 EStG gestützt.
2. Entgegen der Auffassung der Klägerin liegen auch die Voraussetzungen für eine Auszahlung des Kindergelds ab Januar 2000 bis Dezember 2001 an sie gemäß § 74 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I 1999, 2552, BStBl I 2000, 4, 9, nunmehr: § 74 Abs. 2 EStG 2004) i.V.m. § 104 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB X nicht vor.
a) Nach § 74 Abs. 3 EStG 2000 gelten für Erstattungsansprüche des Trägers von Sozialleistungen gegen die Familienkasse die §§ 102 bis 109 und 111 bis 113 SGB X entsprechend.
§ 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X bestimmt, dass dann, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, derjenige Leistungsträger erstattungspflichtig ist, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) setzt diese Vorschrift eine Gleichartigkeit der Leistungen der beiden Leistungsträger voraus, weil nach dem gesetzlichen Tatbestand ein Erstattungsanspruch nur ausgelöst werden kann, wenn der erstleistende Träger eine Verpflichtung des in Anspruch genommenen zweiten Trägers erfüllt hat (vgl. BSG-Urteile vom 14. November 1984 1/4 RJ 57/84, BSGE 57, 218, 219; vom 22. September 1988 2 RU 9/88, BSGE 64, 96; vom 25. April 1990 5 RJ 12/89, BSGE 67, 6, 8; vom 8. April 1992 10 RKg 31/90, Zentralblatt für Jugendrecht --ZfJ-- 1993, 555). Das kann entgegen der Auffassung der Klägerin aber nur der Fall sein, wenn beide Leistungen in der Weise gleichartig sind, dass sie demselben Zweck dienen.
Der erkennende Senat hat sich der Rechtsauffassung des BSG durch Urteil vom 25. Mai 2004 VIII R 21/03 (BFH Report 2004, 1212, juris) angeschlossen. Er hält an ihr fest. Die Revision hat keine Gesichtspunkte aufgezeigt, die sie als fehlerhaft erscheinen lassen könnte. Zu Unrecht vertritt die Klägerin die Ansicht, das Kindergeld sei nicht zweckbestimmt. Die Zweckbestimmung des Kindergeldes ergibt sich aus § 31 Sätze 1 und 2 EStG in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung. Danach dient das Kindergeld der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums eines Kindes, ab dem Jahr 2000 einschließlich des Betreuungsbedarfs; soweit das Kindergeld dafür nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie.
b) Entgegen der Auffassung der Klägerin handelt es sich bei der im Streitfall dem Kind gewährten Hilfe in besonderen Lebenslagen (§ 27 Abs. 1 Nr. 3 BSHG) in Form der Eingliederungshilfe für Behinderte (§ 43 BSHG) nicht um eine Leistung der gleichen Art wie das Kindergeld.
Eine Gleichartigkeit wird von der Rechtsprechung bei dem in einer Einrichtung gewährten Lebensunterhalt oder bei Sachleistungen im Rahmen einer Heimerziehung oder betreuten Wohnform einerseits und Geldleistungen andererseits verneint (vgl. BSG-Urteile in ZfJ 1993, 555; in BSGE 64, 96; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 22. Dezember 1998 5 C 25/97, BVerwGE 108, 222; vom 29. September 1994 5 C 56/92, BVerwGE 96, 379; vgl. auch Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Fach A, I. Kommentierung, § 74 EStG Rn. 48). Das BVerwG hat dazu ausgeführt, dass das Kindergeld einem anderen Zweck diene als die Eingliederungshilfe nach § 43 BSHG. Mit dem allgemeinen Zweck des Familienlastenausgleichs werde für das Kindergeld ein weiter Verwendungsrahmen gezogen, der von den Kindergeldberechtigten auf sehr unterschiedliche und vielfältige Weise ausgefüllt werden könne, während die Eingliederungshilfe nach Art, Umfang und Dauer maßgeblich durch den jeweiligen Eingliederungsbedarf geprägt werde (BVerwG-Urteile in BVerwGE 108, 222; 96, 379). Den Einwand, dass bei dieser Betrachtung eine doppelte Unterstützung bei demselben Zuwendungszweck vorliege, hat das BVerwG nicht für begründet erachtet. Denn im Rahmen der fortbestehenden Eltern-Kind-Kontakte lasse auch eine Heimunterbringung Raum für die besondere Zweckbestimmung des Kindergeldes, zur wirtschaftlichen Entlastung der Eltern von kindbedingten Mehrkosten der allgemeinen Lebensführung beizutragen (BVerwG-Urteil in BVerwGE 108, 222, unter 2. der Gründe).
An der Richtigkeit dieser Beurteilung des BVerwG hat sich durch die Ausgestaltung des Kindergelds als Steuervergütungsanspruch (§ 31 Satz 3 EStG) durch das JStG 1996 nichts geändert. Denn das Kindergeld dient auch weiterhin dazu, Eltern wegen kindbedingter Mehrkosten der allgemeinen Lebensführung zu entlasten, sei es durch eine Steuerersparnis, sei es aufgrund einer Sozialleistung.
Der Senat braucht deshalb nicht mehr darauf einzugehen, ob der Tatbestand des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X auch deshalb nicht erfüllt ist, weil aufgrund der fehlenden Gleichartigkeit der Leistungen das Kindergeld gegenüber der Eingliederungshilfe auch keine vorrangige Leistung ist (vgl. dazu BSG-Urteil in BSGE 57, 218).
3. Die Vorinstanz hat auch rechtsfehlerfrei entschieden, dass die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 2 SGB X für eine Auszahlung des Kindergeldes an die Klägerin nicht vorliegen.
a) Nach § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X gilt § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X entsprechend, wenn von den Trägern der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe Aufwendungsersatz geltend gemacht oder ein Kostenbeitrag erhoben werden kann. Diese Regelung gestattet es den genannten Leistungsträgern, wegen eines Kostenbeitrags auf den Kindergeldanspruch des Unterhaltspflichtigen zuzugreifen und von der Kindergeldbehörde die direkte Auszahlung an sich zu verlangen. Dafür reicht es entgegen der Auffassung der Klägerin aber nicht aus, dass dieser Kostenbeitragsanspruch nur nach dem Gesetz besteht. Vielmehr muss dieser Anspruch nach der Rechtsprechung des BSG trotz des insoweit undeutlichen Gesetzestexts ("… ein Kostenbeitrag erhoben werden kann") durch einen entsprechenden Bescheid gegenüber dem Beitragspflichtigen konkretisiert und betragsmäßig festgesetzt worden sein. Dies gebiete die Rechtssicherheit, die eine Umsetzung des Gesetzes verlange, sowie der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG). Der betroffene Unterhaltspflichtige müsse in einem förmlichen Verfahren Gelegenheit haben, sich gegen seine Heranziehung zu dem Kostenbeitrag wehren zu können. Eine schlichte Anhörung durch den Sozialleistungsträger im Rahmen eines vom Träger der Jugendhilfe geltend gemachten Erstattungsantrages nach § 104 Abs. 1 Sätze 1 und 4 SGB wäre insoweit nicht ausreichend. Außerdem wäre ein Sozialleistungsträger wie z.B. die Kindergeldbehörde in der Regel überfordert, in jedem Einzelfall die Berechtigung zur Heranziehung eines Unterhaltspflichtigen zu einem Kostenbeitrag dem Grunde und der Höhe nach selbst zu prüfen und dafür alle erforderlichen Ermittlungen anzustellen. Deshalb sei der Erlass eines Heranziehungsbescheides oder Kostenfestsetzungsbescheides durch den Sozialleistungsträger erforderlich (BSG-Urteile vom 22. Januar 1998 B 14/10 KG 24/96 R, SozR 3-1300 § 104 SGB X Nr. 13; vom 10. Dezember 2002 B 9 VG 6/01 R, SGb 2003, 157, juris; vgl. auch bereits BSG-Urteile in BSGE 64, 96; in ZfJ 1993, 555).
Da § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X nicht selbst die Anspruchsgrundlage für die Erhebung eines Kostenbeitrags ist, sondern einen derartigen Anspruch voraussetzt, entspricht die Rechtsposition des Trägers der Sozial- oder Jugendhilfe im Rahmen von § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X derjenigen eines Pfändungsgläubigers. Dabei ersetzt der den Kostenbeitrag festsetzende Verwaltungsakt den für die Pfändung erforderlichen Titel. Funktional handelt es sich bei der Vorschrift um eine Pfändung einer Sozialleistung, so dass eine verkürzte Form der Zwangsvollstreckung vorliegt (vgl. BSG-Urteile vom 26. September 1991 4/1 RA 33/90, SozR 3-1200 § 52 SGB I Nr. 2; in SozR 3-1300 § 104 SGB X Nr. 13; in SGb 2003, 157, juris; vgl. auch Grüner/Dalichau, Sozialgesetzbuch, Kommentar und Rechtssammlung, Stand: 1. Mai 2004, Bd. V, X/3 SGB, § 104 Rn. 72).
Der erkennende Senat hat sich in seinem Urteil in BFH Report 2004, 1212, juris der Rechtsprechung des BSG angeschlossen, dass eine Auszahlung des Kindergeldes an den Träger der Sozial- oder Jugendhilfe gemäß § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X einen anfechtbaren Kostenbeitrags- oder Leistungsbescheid gegenüber dem Kindergeldberechtigten voraussetzt. Er hält daran auch nach erneuter Prüfung im Interesse der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes fest. Der Einwand der Klägerin, das Erfordernis eines Kostenbeitrags- oder Leistungsbescheids gegenüber dem Kindergeldberechtigten sei eine bloße Förmelei, ist nicht berechtigt. Es ist keine Förmelei, sondern bewirkt für den Kindergeldberechtigten die rechtsstaatlich gebotene Rechtssicherheit (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG), wenn er einen anfechtbaren Leistungsbescheid darüber erhält, aufgrund welcher Tatsachen und welcher Anspruchsgrundlage er in welcher Höhe zu einer Zahlung herangezogen wird. Dies hat auch keine unverhältnismäßige, sondern insgesamt nur eine geringe Erhöhung des Verwaltungsaufwands zur Folge. Da der Leistungsbescheid mit Eintritt seiner Bestandskraft auch für die Kindergeldbehörde verbindlich ist, ist diese von weiteren Prüfungen rechtlicher oder Ermittlungen tatsächlicher Art, für die sie gar nicht ausgestattet ist, entbunden.
b) Da im Streitfall unstreitig ein Leistungsbescheid gegenüber der Beigeladenen nicht ergangen ist, hat das FG zu Recht entschieden, dass das Kindergeld nicht gemäß § 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X an die Klägerin auszuzahlen ist.
Fundstellen
Haufe-Index 1332212 |
BFH/NV 2005, 864 |