Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückforderung vorausfinanzierter Ausfuhrerstattungen bei Ausfuhr einer anderen Ware
Leitsatz (amtlich)
Die Zurücknahme der Revision nach Ergehen eines Vorbescheids bedarf auch dann der Einwilligung des Revisionsbeklagten, wenn der Vorbescheid nach Antrag auf mündliche Verhandlung als nicht ergangen gilt (Änderung der Rechtsprechung).
Orientierungssatz
Besteht Streit darüber, ob der Revisionskläger die Revision wirksam zurückgenommen hat, ist das Verfahren zunächst wegen dieser Frage fortzusetzen. Der Senat hält es für zweckmäßig, darüber durch Zwischenurteil zu entscheiden (vgl. BFH-Rechtsprechung; Literatur).
Normenkette
FGO § 125 Abs. 1, § 97
Tatbestand
Die Klägerinnen, Revisionsklägerinnen und Revisionsbeklagten (Klägerinnen) hatten mit ihrer Klage vor dem Finanzgericht (FG) teilweisen Erfolg. Beide Beteiligten legten jeweils selbständige Revision ein, der Beklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt --HZA--) aber verspätet. Im Vorbescheid vom 7.März 1989 VII R 116-117/87 ging der Senat davon aus, daß die verspätet eingelegte Revision des HZA in eine unselbständige Anschlußrevision umzudeuten sei; er hielt die Revision des HZA für begründet, jene der Klägerinnen für unbegründet. Die Klägerinnen beantragten mit Schreiben vom 9. und 10.Mai 1989 rechtzeitig mündliche Verhandlung (§ 90 Abs.3 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Nachdem der Vorsitzende des Senats mündliche Verhandlung anberaumt hatte, nahmen die Klägerinnen mit Schreiben vom 21.Juni 1989 die Revision zurück. Das HZA stimmte der Rücknahme nicht zu.
Zwischen den Beteiligten besteht Streit über die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme. Das HZA ist der Auffassung, die Rücknahme bedürfe seiner Zustimmung, da ein Vorbescheid ergangen sei (§ 125Abs.1 Satz 2 FGO). Die Klägerinnen berufen sich dagegen auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 3.Februar 1971 I R 51/66 (BFHE 101, 501, BStBl II 1971, 408). Sie meinen, der Wortlaut des § 125 Abs.1 Satz 2 FGO beziehe sich nur auf einen bestehenden Vorbescheid; werde mündliche Verhandlung beantragt, so gelte aber der Vorbescheid als nicht ergangen (§ 121, § 90 Abs.3 Satz 3 FGO).
Entscheidungsgründe
Da Streit darüber besteht, ob die Klägerinnen die Revision wirksam zurückgenommen haben, ist das Verfahren zunächst wegen dieser Frage fortzusetzen. Der Senat hält es für zweckmäßig, darüber durch Zwischenurteil zu entscheiden (vgl. BFH-Urteile vom 30.November 1967 V K 1/67, BFHE 90, 339, BStBl II 1968, 96, und vom 16.Dezember 1971 I R 212/71, BFHE 104, 493, BStBl II 1972, 425; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., § 125 Anm.6). Die Klägerinnen haben die Revision nicht wirksam zurückgenommen, da das HZA die dafür erforderliche Einwilligung versagt hat.
Die Revision kann "nach Ergehen eines Vorbescheids" nur mit Einwilligung des Revisionsbeklagten zurückgenommen werden (§ 125 Abs.1 Satz 2 FGO). Dieser Wortlaut spricht eher für die Auffassung, daß das Einwilligungserfordernis von der Tatsache des Ergehens eines Vorbescheids abhängig gemacht wird, nicht auch davon, daß der Vorbescheid auf Dauer Bestand hatte. Danach bleibt die Fiktion des Nichtergehens nach Antrag auf mündliche Verhandlung (§ 90 Abs.3 Satz 3 FGO) ohne Auswirkung auf das Einwilligungserfordernis. Der Wortlaut schließt allerdings auch die Auslegung nicht aus, daß § 125 Abs.1 Satz 2 FGO das Ergehen eines wirksam gebliebenen, d.h. nicht nach § 90 Abs.3 Satz 3 FGO weggefallenen Vorbescheids voraussetze. Dieser Auslegung steht aber Sinn und Zweck der Vorschrift entgegen.
Es entspricht der Dispositionsmaxime, daß der Revisionskläger seine Revision grundsätzlich auch zurücknehmen darf. Gleichzeitig entspricht es der Prozeßökonomie, die Möglichkeit zu einer solchen Rücknahme zu geben. Davon macht aber die Regelung des § 125 Abs.1 Satz 2 FGO eine Ausnahme. Dem Revisionskläger ist danach in bestimmten Fällen die Revisionsrücknahme ohne Einwilligung des Revisionsbeklagten untersagt. Diese Einschränkung des Verfügungsgrundsatzes entgegen dem Gebot der Prozeßökonomie kann nur die Wahrung der Interessen des Revisionsbeklagten zum Ziel haben.
Die Entstehungsgeschichte des § 125 FGO bestätigt diese Auffassung. Die Regelung ist auf Vorschlag des Bundesrates in die FGO eingefügt worden (vgl. zu BTDrucks IV/3523, S.12, zu § 115a des Entwurfs). Sie stimmte und stimmt wörtlich überein mit der Regelung der Klagerücknahme (vgl. § 72 Abs.1 Satz 2 FGO, der dem § 70 des Entwurfs der FGO entspricht, BTDrucks IV/1446). Diese Vorschrift geht u.a. auf § 92 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zurück (vgl. BTDrucks IV/1446, S.52), der für das Verwaltungsgerichtsverfahren ebenfalls die Möglichkeit zur Klagerücknahme in bestimmter Weise einschränkt. § 92 VwGO entspricht § 93 der Regierungsvorlage einer VwGO (BTDrucks 55 vom 5.Dezember 1957); nach deren Begründung (vgl. S.41 der zitierten Drucksache) soll diese Regelung sicherstellen, daß sich der Kläger "wenn der Verlauf der Verhandlung seine Unterlegenheit bereits deutlich erkennen läßt, nicht mehr ohne Einwilligung des Beklagten dem abweisenden Urteil entziehen" kann (vgl. auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 6.Februar 1967 VI C 8.67/VI C 13.67, BVerwGE 26, 143, 144, in dem das BVerwG in einem --freilich nicht voll vergleichbaren-- Fall auf diese Gesetzesmaterialien ebenfalls verwiesen hat).
Nur eine Auslegung des § 125 Abs.1 Satz 2 FGO, die diesen Gedanken Rechnung trägt, entspricht dem Sinn und Zweck der Regelung. Durch das in dieser Vorschrift geregelte grundsätzliche Rücknahmeverbot soll verhindert werden, daß der Revisionskläger sich in einem bereits fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens gegen den Willen des Revisionsbeklagten einer Entscheidung durch Urteil entzieht (vgl. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 8.Aufl., § 92 Anm.12). Nach der Regelung des § 125 Abs.1 Satz 2 FGO ist ein solches Stadium nach dem Ergehen eines Vorbescheids erreicht. Denn aus einem Vorbescheid ergibt sich die (vorläufige) Rechtsauffassung des Gerichts und damit ein Anhaltspunkt für die Erfolgsaussichten der Beteiligten.
Der vorliegende Fall zeigt deutlich die möglichen Interessengegensätze zwischen den Beteiligten auf. Aufgrund des Vorbescheids zeichnete sich für das HZA eine Chance ab, in vollem Umfang zu obsiegen. Für die Klägerinnen war dagegen die Gefahr, zu unterliegen, deutlich geworden. Sie konnten nur darauf hoffen, in der von ihnen zu beantragenden mündlichen Verhandlung den Senat von der Unrichtigkeit seiner im Vorbescheid geäußerten Rechtsauffassung zu überzeugen, falls sie nicht --in dem Bestreben, sich wenigstens den Erfolg in der Vorinstanz zu sichern-- sich der unselbständigen Anschlußrevision des HZA dadurch entzogen, daß sie die Revision zurücknahmen und zuvor --um das Zustimmungserfordernis zu beseitigen-- mündliche Verhandlung beantragten. Die Klägerinnen entschieden sich für das letztgenannte Vorgehen. Das Interesse des HZA daran, daß sich die Klägerinnen der Entscheidung durch den BFH nicht ohne seine Zustimmung entziehen, ist also offensichtlich.
An der Tatsache, daß die Beteiligten aus einem Vorbescheid ihre Chancen und Risiken im weiteren Verfahren ersehen können, ändert der Wegfall des Vorbescheids nach Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs.3 Satz 3 FGO nichts. Diese Regelung ist zwar notwendig, um den Weg freizumachen für eine erneute Befassung des Gerichts mit der Sache in mündlicher Verhandlung und für eine neuerliche Entscheidung. Der --durch § 90 Abs.3 Satz 3 FGO nur fingierte-- Wegfall des Vorbescheids ändert aber nichts daran, daß sich die Lage des Revisionsbeklagten, der nach dem Vorbescheid Erfolg haben sollte, besser als zuvor darstellt. Denn der Antrag auf mündliche Verhandlung allein spricht noch nicht gegen die Richtigkeit der vom Gericht im Vorbescheid geäußerten (vorläufigen) Rechtsauffassung, sondern zunächst nur dafür, daß der Antragsteller die Auffassung des Gerichts nicht teilt. Auch nach dem Antrag auf mündliche Verhandlung bleibt der Revisionsbeklagte also in einer für ihn günstiger erscheinenden Situation, die nach Sinn und Zweck des § 125 Abs.1 Satz 2 FGO schützenswert ist und die der Revisionskläger ohne Einwilligung nicht durch Revisionsrücknahme zunichte machen darf. Es gibt keinen einleuchtenden Grund, die Tatsache des Antrags auf mündliche Verhandlung zum Anlaß zu nehmen, dem Revisionskläger im Gegensatz zur Lage zuvor zu erlauben, sich ohne weiteres der endgültigen Klärung des Streitfalles zu entziehen.
Für diese Auffassung spricht schließlich auch, daß andernfalls die Schutzvorschrift des § 125 Abs.1 Satz 2 FGO im Falle des Ergehens eines Vorbescheids praktisch leerliefe. Sie würde --wie auch aus den Gründen des Urteils in BFHE 101, 501, BStBl II 1971, 408 zu entnehmen ist-- nur in Fällen praktisch werden, in denen der Revisionsbeklagte einzuwilligen bereit und also nicht schutzbedürftig ist. In allen anderen Fällen aber entfiele praktisch der Schutz des Revisionsbeklagten; denn der Revisionskläger könnte das Einwilligungserfordernis ohne weiteres durch Vorschalten des Antrags auf mündliche Verhandlung vermeiden (vgl. auch Urteile des FG Baden-Württemberg vom 28.September 1981 XI 89/80, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1982, 315, und vom 2.März 1989 II K 415/86, EFG 1989, 419).
Der I. und der VI.Senat des BFH haben der Abweichung vom Urteil in BFHE 101, 501, BStBl II 1971, 408 bzw. von den nicht veröffentlichten Beschlüssen vom 11.Oktober 1974 VI R 41/74, und vom 23.Januar 1981 VI R 62/77 zugestimmt.
Fundstellen
Haufe-Index 63385 |
BFH/NV 1990, 59 |
BStBl II 1990, 695 |
BFHE 160, 304 |
BB 1990, 1617 |
BB 1990, 1617-1618 (LT) |
DStR 1990, 482 (KT) |
HFR 1990, 559 (LT) |
StE 1990, 272 (K) |