Entscheidungsstichwort (Thema)
Sonstiges Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die oberste Finanzbehörde eines Landes ist auch dann berechtigt, den Beitritt zu einem Rechtsbeschwerdeverfahren zu erklären, wenn sich das Rechtsmittel auf einen Verwaltungsakt bezieht, der nicht von einer ihr unterstellten Finanzbehörde erlassen wurde.
Die Landesfinanzbehörden sind hinsichtlich der Gewerbesteuer zu Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 2, zweite Alternative, AO nicht befugt, wenn die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer durch Landesrecht den Gemeinden übertragen ist. Diese Grundsätze sind auch auf die Verwaltungsanordnung der Bundesregierung betreffend Teilerlaß der Gewerbesteuer bei Betrieben von Vertriebenen, Flüchtlingen und Verfolgten sowie von Kriegssachgeschädigten und Evakuierten vom 21. Januar 1958 (Bundesanzeiger 1958 Nr. 17, BStBl 1958 I S. 24) anzuwenden.
Gegen die Versagung von Billigkeitsmaßnahmen der Gemeinden auf dem Gebiet der Gewerbesteuer ist der Verwaltungsrechtsweg, nicht der Finanzrechtsweg gegeben.
Normenkette
GG Art. 108 Abs. 3; BFHG §§ 1, 6 Abs. 3; AO § 131 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, 5, §§ 228, 287 Nr. 2; FGO § 122; VwGO § 40 Abs. 1
Tatbestand
Das Unternehmen der Steuerpflichtigen (Stpfl.) - einer OHG - wurde während des Krieges von einem der heutigen Mitunternehmer als Alleinunternehmer betrieben. Die Stpfl. beantragte unter Hinweis auf die Verwaltungsanordnung der Bundesregierung betreffend Teilerlaß der Gewerbesteuer bei Betrieben von Vertriebenen, Flüchtlingen und Verfolgten sowie von Kriegssachgeschädigten und Evakuierten vom 21. Januar 1958 (Bundesanzeiger 1958 Nr. 17, BStBl 1958 I S. 24) - VAO -, bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrages wegen der Kriegssachschäden im Einzelunternehmen Dauerschuldzinsen und Dauerschulden (§§ 8 Ziff. 1 und 12 Abs. 2 Ziff. 1 GewStG) aus den in der VAO genannten Gründen nur zum Teil wieder hinzuzurechnen. Das Finanzamt setzte den Gewerbesteuermeßbetrag ohne Rücksicht auf den Antrag fest und nahm zu ihm nicht Stellung. Mit dem gegen den Gewerbesteuermeßbescheid eingelegten Einspruch wiederholte die Stpfl. ihren Antrag. Die Gemeinde, um deren Stellungnahme das Finanzamt entsprechend Ziff. 2 Abs. 2 VAO gebeten hatte, verweigerte die Zustimmung zu den beantragten Billigkeitsmaßnahmen im Hinblick auf die gute Ertragslage des Unternehmens.
Das Finanzamt lehnte es hierauf unter Hinweis auf die äußerung der Gemeinde ab, die Dauerschuldzinsen und Dauerschulden bei der Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages nur zum Teil wieder hinzuzurechnen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies die Oberfinanzdirektion zurück. Die Gemeinde hatte im Beschwerdeverfahren erklärt, sie habe selbst erhebliche Kriegsschäden erlitten; um fühlbare Ausfälle im Gemeindehaushalt zu vermeiden, könne sie die Zustimmung nur in besonderen Ausnahmefällen erteilen.
Auf die Berufung hob das Finanzgericht die Beschwerdeentscheidung auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an die Oberfinanzdirektion zurück. Die Zustimmung der Gemeinde zu der begehrten Billigkeitsmaßnahme sei nicht erforderlich gewesen. Die Gewerbesteuer werde gemäß Art. 108 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) von Landesfinanzbehörden verwaltet. Da den Gemeinden nur die Erhebung der Gewerbesteuer obliege, sei es ausschließlich Sache der Finanzbehörden, im Verfahren über die Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 2 AO anzuordnen. Die in der VAO der Bundesregierung vorgesehene Zustimmung der Gemeinde sei in dem Sinne zu verstehen, daß das Finanzamt verpflichtet sei, vor Gewährung der dort vorgesehenen Billigkeitsmaßnahmen die Gemeinde entsprechend §§ 36 Abs. 2, 100 Abs. 3 AO zu hören.
Mit der Rb. macht die Oberfinanzdirektion geltend, das Finanzamt habe die nach der VAO möglichen Billigkeitsmaßnahmen ohne die Zustimmung der Gemeinde nicht bewilligen dürfen. Das Bayerische Staatsministerium der Finanzen und der Bundesminister der Finanzen sind dem Rechtsbeschwerdeverfahren gemäß § 6 Abs. 3 des Gesetzes über den Bundesfinanzhof (BFHG), § 287 Ziff. 2 AO beigetreten.
Entscheidungsgründe
Die Rb. führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung; die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion und der ablehnende Bescheid des Finanzamts vom 28. Januar 1959 werden ersatzlos aufgehoben.
I. Beitrittsrecht des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen
Dem Bundesminister der Finanzen ist darin zuzustimmen, daß § 6 Abs. 3 BFHG den Beitritt der obersten Finanzbehörde eines Landes zum Rechtsbeschwerdeverfahren auch dann zuläßt, wenn der vom Bundesfinanzhof nachzuprüfende Verwaltungsakt von der Behörde eines anderen Landes erlassen wurde. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des Gesetzes. Danach können die obersten Finanzbehörden der Länder ihren Beitritt zu jedem Rechtsbeschwerdeverfahren erklären; sie werden dadurch Beteiligte im Sinne des § 287 AO. Die Wortfassung führt zu einem sinnvollen Ergebnis. Sie steht auch im Einklang mit den in der amtlichen Begründung zum Ausdruck gekommenen Absichten (Bundestagsdrucksache Nr. 630, 1. Wahlperiode, 1949, vom 27. Februar 1950, S. 9). Das Bayerische Staatsministerium der Finanzen hat als oberste Landesbehörde, der die oberste Leitung der Landesfinanzbehörden zukommt, ein berechtigtes Interesse an der Entscheidung der vorliegenden Rechtsfrage; die Rechtsfrage ist auch für die Praxis der bayerischen Finanzbehörden von Bedeutung. Der Beitritt ermöglicht es dem Finanzministerium, für die Entscheidung der Rb. erhebliche rechtliche Gesichtspunkte geltend zu machen.
II. Befugnis der Finanzämter zu Billigkeitsmaßnahmen bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrages
Zuständigkeit der Finanzämter zu Maßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 2 AO.
Stellungnahme des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen.
Das Ministerium ist der Ansicht, daß die Finanzämter auf Grund des § 131 Abs. 1 Satz 2 AO nicht berechtigt seien, Billigkeitsmaßnahmen bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrages zu gewähren. Nach der Rechtslage vor Erlaß der Verordnung über die Erhebung der Gewerbesteuer in vereinfachter Form vom 31. März 1943 (RGBl I S. 237, RStBl S. 329), durch die die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer auf die Finanzämter übertragen worden sei, sei es nicht zweifelhaft gewesen, daß die Befugnis zu Billigkeitsmaßnahmen allein bei den Gemeinden gelegen habe, obwohl auch nach der damals geltenden Fassung des § 131 AO die rechtliche Möglichkeit bestanden habe, einzelne, die Steuer erhöhende Besteuerungsgrundlagen bei der Festsetzung der Steuer nicht zu berücksichtigen. Zweifel hätten sich auch nicht ergeben, als die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer nach dem Kriege durch Landesrecht wieder auf die Gemeinde zurückübertragen worden sei. An dieser Rechtslage habe sich - wie die Entstehungsgeschichte zeige - durch die änderung des § 131 AO auf Grund des Gesetzes zur änderung von einzelnen Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 11. Juli 1953 (BGBl I S. 511, BStBl I S. 262) nichts geändert. Die verschiedenen Formen der Auftragsverwaltung für Steuern (Art. 108 GG) hätten Anlaß gegeben, die Befugnis zu Billigkeitsmaßnahmen für diese Fälle besonders zu regeln. Nachdem im Entwurf der Bundesregierung zunächst vorgesehen gewesen sei, hinsichtlich der Befugnis zu Billigkeitsmaßnahmen auf die Ertragshoheit abzustellen, habe sich der Gesetzgeber schließlich für die Verwaltungshoheit entschieden. Bei den damaligen Beratungen hätten auch die Realsteuern eine Rolle gespielt. Der Bundesrat habe es zunächst nicht für tragbar gehalten, daß die Gemeinden diese Steuern abweichend von den Meßbescheiden sollten niedriger festsetzen können (Bundestagsdrucksache Nr. 334/52, Beschluß vom 12. September 1952, Ziff. 3 Art. I Ziff. 4). An die Möglichkeit, daß die Finanzämter die Befugnis haben könnten, die Meßbeträge niedriger festzusetzen, habe man damals offenbar nicht gedacht. Unter anderem wegen der in dem neuen Entwurf der Bundesregierung enthaltenen Sätze
"Bei Steuern, die von Bundes- oder von Landesbehörden ganz oder zum Teil verwaltet werden, jedoch weder dem Bund noch den Ländern zufließen, stehen die Befugnisse nach Abs. 1 den öffentlich- rechtlichen Körperschaften zu, für deren Rechnung die Steuern erhoben werden. Die Befugnisse der Gemeinden erstrecken sich bei den Realsteuern nur auf Maßnahmen nach Absatz 1 Satz 1." (Vgl. Anlage 3 zur Bundestagsdrucksache Nr. 3926, 1. Wahlperiode, 1949, vom 3. Dezember 1952, S. 12.) habe der Bundesrat, nachdem diese Fassung vom Bundestag beschlossen worden sei, den Vermittlungsausschuß angerufen. Er habe sich auf Art. 108 Abs. 3 GG gestützt, wonach die Gewerbesteuer von den Ländern verwaltet werde und die Verwaltung nur von diesen auf die Gemeinden übertragen werden könne; durch Bundesgesetz könne die Erlaßbefugnis nicht auf die Gemeinden übertragen werden (Bundesratsdrucksache Nr. 145/53 vom 25. April 1953). Angesichts der jetzigen Fassung des § 131 AO könne aus der Entstehungsgeschichte festgestellt werden, daß der Gesetzgeber an die niedrigere Festsetzung der Gewerbesteuermeßbeträge aus Billigkeitsgründen nicht gedacht und diese Möglichkeit auch nicht gewollt habe, wenn er auch eine entsprechende Bestimmung aus anderen Gründen gestrichen habe. Die Auffassung, daß die Finanzämter die Gewerbesteuermeßbeträge aus Billigkeitsgründen niedriger festsetzen könnten, widerspreche der bisher herrschenden Auffassung vom Wesen der Gewerbesteuer als einer reinen Gemeindesteuer. Sie hätte auch eine änderung des § 212 a Abs. 2 AO erfordert, denn § 131 AO gehöre nicht zu den Vorschriften über die Festsetzung von Steuern. Schließlich sei § 131 Abs. 4 AO vom Standpunkt dieser Meinung aus überflüssig.
Stellungnahme des Bundesministers der Finanzen. Der Bundesminister der Finanzen tritt der angefochtenen Entscheidung darin bei, daß die Finanzämter auf Grund des § 131 Abs. 3 AO befugt seien, im Rahmen der Festsetzung der Gewerbesteuermeßbeträge Billigkeitsmaßnahmen zu gewähren. Durch die Streichung der oben unter a) erwähnten beiden Sätze sei auch für die Gewerbesteuer die allgemeine Regelung maßgebend geworden, nach der sich die Kompetenz zu Billigkeitsmaßnahmen nach der Verwaltungshoheit richte. Diese liege bis zur Festsetzung der Gewerbesteuermeßbeträge bei den Landesfinanzbehörden. Es komme angesichts des Wortlauts des § 131 Abs. 3 AO nicht darauf an, ob sich die an der Gesetzgebung beteiligten Organe dieser Auswirkung bewußt gewesen seien.
Entscheidung des Senats. Die VAO der Bundesregierung vom 21. Januar 1958, die davon ausgeht, daß die Finanzämter auch dann berechtigt sind, bei der Festsetzung der Gewerbesteuermeßbeträge die steuererhöhenden Besteuerungsgrundlagen nicht zu berücksichtigen, wenn die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer kraft Landesrechts (Art. 108 Abs. 3 Satz 4 GG) übertragen wurde, ist mit dem Gesetz nicht vereinbar. Dem Bayerischen Staatsministerium der Finanzen ist im Ergebnis darin beizutreten, daß die Finanzämter - wenn ihnen die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer nicht obliegt - nicht befugt sind, bei der Festsetzung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrages Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 2, zweite Alternative, AO zu gewähren. Entgegen der insoweit mit der Auffassung der Vorinstanz übereinstimmenden Ansicht des Bundesministers der Finanzen ergibt sich eine solche Befugnis der Finanzämter nicht aus § 131 Abs. 3 AO. Aus dieser Vorschrift ergibt sich zwar, daß die Befugnisse nach Abs. 1 nur den Behörden zustehen, denen die Verwaltungshoheit für die betreffende Steuer übertragen ist. Daraus folgt jedoch noch nicht die Berechtigung der Landesfinanzbehörden, denen die Verwaltung der Gewerbesteuer bis zur Festsetzung der einheitlichen Gewerbesteuermeßbeträge obliegt, auf Grund des § 131 Abs. 1 Satz 2, zweite Alternative, AO einzelne Besteuerungsgrundlagen nicht zu berücksichtigen. Dies zeigt der Wortlaut der Sätze 1 und 2 des § 131 Abs. 1 AO. Das Recht nach Satz 2 setzt das Bestehen der Befugnis nach Satz 1 voraus; nach Satz 2 umfaßt die Befugnis zum Erlaß der Steuer auch das Recht, zuzulassen, daß einzelne Besteuerungsgrundlagen bei der Festsetzung der Steuer nicht berücksichtigt werden. Die Befugnis zum Erlaß der Steuer steht nach § 131 Abs. 3 AO der Gemeinde zu, wenn ihr die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer übertragen ist. Dies ist im Streitfall durch § 4 der Landesverordnung zur überleitung der Gewerbesteuer und der Grundsteuer vom 30. Dezember 1948 (GVBl für Rheinland-Pfalz 1948 I S. 459) mit Wirkung ab 1. Januar 1949 geschehen. Da das Finanzamt, weil ihm die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer nicht obliegt, nicht befugt ist, festgesetzte Gewerbesteuer zu erfassen und diese Befugnis nach dem Gesetzeswortlaut die Voraussetzung für die Rechte nach § 131 Abs. 1 Satz 2 AO ist, steht dem Finanzamt auch nicht das Recht zu, einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuer erhöhen, bei der Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages nicht zu berücksichtigen.
Dieses Ergebnis folgt auch aus einer anderen Erwägung. Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 2 AO gehören der Sache nach zum Verfahren über die Festsetzung der Steuer (vgl. auch Niedersächsisches Finanzgericht, Entscheidungen der Finanzgerichte, 1961 S. 403, 408 rechte Spalte oben). Dies ist für die erste Alternative des Satzes 2 zweifelsfrei. Hinsichtlich der zweiten Alternative ergibt sich das aus der Formulierung "bei der Festsetzung der Steuer". Die Verwaltungshoheit des Finanzamts als Landesfinanzbehörde (Art. 108 Abs. 3 Satz 1 GG) erstreckt sich nicht auf die Festsetzung der Gewerbesteuer; ihm obliegt es, die Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln und auf dieser Grundlage den einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag festzusetzen. Die Zuständigkeit zur Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer wurde durch die bereits erwähnte Verordnung vom 30. Dezember 1948 auf die Gemeinden übertragen (vgl. für den heutigen Rechtszustand Art. 108 Abs. 3 Satz 4 GG). Da dem Finanzamt die Befugnis zur Festsetzung der Gewerbesteuer fehlt, kann es auch nicht befugt sein, "bei der Festsetzung der Steuer" einzelne, die Steuer erhöhende Besteuerungsgrundlagen nicht zu berücksichtigen. Die Befugnisse des Finanzamts als Landesfinanzbehörde können nach § 131 Abs. 3 AO nur soweit reichen, als es die Steuer verwaltet.
Die Auffassung des Bundesministers der Finanzen, der dem Finanzgericht insoweit beigetreten ist, das Finanzamt sei auf Grund § 131 Abs. 3 AO zu Billigkeitsmaßnahmen nach Abs. 1 Satz 2, zweite Alternative, AO befugt, weil ihm die Verwaltung der Gewerbesteuer bis zur Festsetzung der Gewerbesteuermeßbeträge obliege, läßt den Gesetzeswortlaut außer Betracht, nach dem die Nichtberücksichtigung einzelner Besteuerungsgrundlagen bei der Festsetzung der Steuer vorgesehen ist. Die genaue Beachtung des Gesetzeswortlauts ist erforderlich, weil hiervon die Entscheidung der Frage abhängt, ob das Finanzamt oder die Gemeinde zu den streitigen Billigkeitsmaßnahmen befugt ist. Das unter Beachtung des Gesetzeswortlauts gewonnene Ergebnis ist auch nicht sinnwidrig. § 131 Abs. 3 AO weist die Befugnisse nach Abs. 1 Satz 2 nur solchen Körperschaften zu, deren Behörden die in dieser Vorschrift vorausgesetzte Verwaltungstätigkeit (Festsetzung der Steuer) ausüben. Diese Voraussetzung wird im Streitfall von den Landesfinanzbehörden nicht erfüllt.
Sinn und Zweck des Gesetzes gebieten es also, die Erlaßbefugnis der Gemeinden zu bejahen, denen die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer übertragen ist und denen die Gewerbesteuer zur Befriedigung ihrer finanzwirtschaftlichen Bedürfnisse zufließt. Die Gemeinde als die Gewerbesteuer festsetzende Behörde hat für Billigkeitsmaßnahmen auf Grund des gemäß § 3 Abs. 3 Ziff. 2 AO sinngemäß anwendbaren § 131 AO die Möglichkeit, bereits festgesetzte Steuer zu erlassen; ferner kann sie die Steuer auf Grund Abs. 1 Satz 2, erste Alternative, niedriger festsetzen. Es ist letztlich nur eine Frage der Berechnung, ob die sich auf Grund der ermittelten Besteuerungsgrundlagen ergebende Gewerbesteuer nach Abs. 1 Satz 2, erste Alternative, ermäßigt wird, oder ob die Steuerermäßigung in der Weise herbeigeführt wird, daß die steuererhöhenden Besteuerungsgrundlagen bei (vor) der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben.
Zustimmung der Gemeinden.
Stellungnahme des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen.
Das Ministerium weist zur Bedeutung des in der VAO vorgeschriebenen Einvernehmens zunächst darauf hin, daß die Rechtsprechung der bayerischen Verwaltungsgerichte in dieser Frage nicht einheitlich sei. Das Verwaltungsgericht München habe in zwei Entscheidungen den Verwaltungsrechtsweg gegen die Versagung der Zustimmung für unzulässig erklärt, weil die Stellungnahme der Gemeinde ein innerdienstlicher Vorgang gegenüber der Finanzverwaltung und kein Verwaltungsakt gegenüber dem Stpfl. sei. Hingegen habe das Verwaltungsgericht Regensburg den Gewerbesteuerbescheid für anfechtbar gehalten. Das Ministerium vertritt schließlich - ausgehend von der Unterstellung, daß die Finanzämter berechtigt seien, Gewerbesteuermeßbeträge aus Billigkeitsgründen niedriger festzusetzen und daß die VAO im übrigen rechtlich einwandfrei sei - die Ansicht, das in der VAO vorgeschriebene Einvernehmen könne nur den Sinn haben, daß die Finanzämter bei Versagung der Zustimmung den Antrag ablehnen und es dem Stpfl. überlassen müßten, die Zustimmung der Gemeinde herbeizuführen.
Stellungnahme des Bundesministers der Finanzen. Der Bundesminister der Finanzen ist, von der in der VAO zum Ausdruck kommenden Rechtsauffassung ausgehend, der Meinung, das Finanzamt dürfe die genannten Billigkeitsmaßnahmen nur aussprechen, wenn die hebeberechtigte Gemeinde vorher ihre Zustimmung erteilt habe. Die Gemeinden, die an die VAO nicht gebunden seien, hätten die Möglichkeit, die Zustimmung zu versagen, wenn es eindeutig an einer Unbilligkeit im Einzelfall fehle. Nach der VAO seien weder das Finanzamt noch die Oberfinanzdirektion als Beschwerdeinstanz befugt, die begehrte Billigkeitsmaßnahme zu gewähren, wenn es die Gemeinde abgelehnt habe, die Zustimmung zu erteilen; die fehlende Zustimmung der Gemeinde könne nur durch eine gerichtliche Entscheidung ersetzt werden. Da die Entscheidung der Gemeinde kein Verwaltungsakt, sondern ein Verwaltungsinternum sei, könne nur der ablehnende Bescheid des Finanzamts angefochten werden; im Verfahren über diesen Bescheid müsse auch die Entscheidung der Gemeinde überprüft werden. Gründe der Prozeßökonomie sprächen dagegen, dem Stpfl. zuzumuten, in zwei Verfahren sein Recht zu suchen. Dem Stpfl. gegenüber trete nur das Finanzamt auf. Da die Gemeinde, deren Entscheidung dem Stpfl. durch das Finanzamt bekanntgegeben werde, nur verwaltungsintern tätig werde, sei es sachdienlich, nur die Entscheidung des Finanzamts anzufechten. Die Gemeinde müsse im finanzgerichtlichen Verfahren zugezogen werden, da in diesem Verfahren auch die Entscheidung der Gemeindebehörde zu überprüfen sei. Die bisherige Auslegung des § 241 Abs. 2 AO, nach der die Zuziehung unzulässig sei, wenn die Belange des Dritten denen des Stpfl. entgegengesetzt seien (Urteil des Reichsfinanzhofs VI 385/40 vom 30. Oktober 1940, RStBl 1940 S. 962), stehe der Zuziehung der Gemeinde nicht entgegen. Die bisher entschiedenen Fälle seien anders gelagert gewesen.
Stellungnahme des Senats. Da die Landesfinanzbehörden nicht befugt sind, bei der Festsetzung der Gewerbesteuermeßbeträge Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 2, zweite Alternative, AO zu gewähren, ist es nicht erforderlich, zu den äußerungen des Landesfinanzministeriums und des Bundesministers der Finanzen Stellung zu nehmen. Der Senat weist jedoch darauf hin, daß er verfahrensrechtlich keine Bedenken hat, wenn ein Finanzamt den Gewerbesteuermeßbetrag niedriger festsetzt, nachdem die zur Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer befugte Gemeinde einen Billigkeitserlaß der Gewerbesteuer in der Weise gewährte, daß sie sich mit einer durch Nichtberücksichtigung einzelner Besteuerungsgrundlagen bewirkten niedrigeren Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages durch das Finanzamt einverstanden erklärte. Es braucht hier nicht erörtert zu werden, ob die Gemeinde diese Verfügung über den Billigkeitserlaß dem Stpfl. selbst bekanntgeben muß oder ob sie sich zur Bekanntgabe des Finanzamts als Erklärungsboten bedienen kann. In beiden Fällen handelt es sich um eine Maßnahme der Gemeinde, gegen die nicht die Finanzgerichte (vgl. § 1 Satz 2 BFHG und neuerdings § 228 AO in der Fassung des Art. 17 Nr. 7 des Steueränderungsgesetzes 1961 vom 13. Juli 1961, BGBl I S. 981, BStBl I S. 444, § 3 Abs. 3 AO), sondern nur die Verwaltungsgerichte angerufen werden können (§ 40 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Rechtsstreitigkeiten über die Gewerbesteuer betreffende Maßnahmen von Gemeindebehörden sind nicht ausdrücklich durch Gesetz den Finanzgerichten zugewiesen.
Auf Grund einer solchen Verfügung der Gemeinde kann der Gewerbesteuermeßbetrag niedriger festgesetzt werden, solange über den Gewerbesteuermeßbescheid noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Ist der Meßbescheid unabänderbar geworden, so ist im Ergebnis das Ziel des Stpfl. im Verwaltungsstreitverfahren der Erlaß eines bestimmten Steuerbetrages. Soweit es prozessual angezeigt erscheint, wäre er nach § 86 Abs. 3 VwGO aufzufordern, den bisherigen Antrag entsprechend zu modifizieren.
III. Vereinbarkeit der VAO mit § 131 Abs. 1 und 5 AO.
Stellungnahme des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen.
Das Ministerium hat auch Bedenken sachlich-rechtlicher Art gegen die VAO. Aus deren Entstehungsgeschichte ergebe sich, daß sie im Grunde genommen nicht zu Billigkeitsmaßnahmen ermächtigen, sondern das Gesetz für die in ihr genannten Personenkreise (Vertriebene, Flüchtlinge und Verfolgte sowie Kriegssachgeschädigte und Evakuierte) teilweise außer Kraft setzen solle. Von der nach Sachlage gebotenen gesetzlichen Regelung, zu der bereits ein Initiativantrag vorgelegen habe (Bundestagsdrucksache Nr. 3007, 2. Wahlperiode, 1953, vom 12. Dezember 1956), habe man wegen der bei der parlamentarischen Behandlung zu erwartenden Schwierigkeiten bewußt abgesehen. Wenn man die hohe Fremdfinanzierung als solche - unabhängig von dem Umständen des Einzelfalles - für einen Billigkeitsgrund halte, müßten alle Betriebe mit entsprechender Verschuldung gleichbehandelt werden. Der Kreis der durch die VAO angesprochenen Betriebe sei so umfangreich, daß nicht mehr von einer bestimmten Gruppe gleichgelagerter Fälle (§ 131 Abs. 5 AO) gesprochen werden könne. Die Umstände des Einzelfalles seien, auch wenn das Fremdkapital ein gewisses Verhältnis zum Eigenkapital überschreite, durchaus nicht immer gleich. § 131 Abs. 5 AO gewähre der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates nur das Recht, die Finanzbehörden zu Billigkeitsmaßnahmen zu ermächtigen, nicht aber, sie anzuweisen, solche zu gewähren. überdies dürfe sich eine solche Ermächtigung nur darauf beziehen, Billigkeitsmaßnahmen zu gewähren, wenn im Einzelfall die Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt seien.
Stellungnahme des Bundesministers der Finanzen. Der Bundesminister der Finanzen ist im Gegensatz zum Bayerischen Staatsministerium der Finanzen der Ansicht, daß sich die VAO in den durch das Gesetz gezogenen Grenzen halte. Jede Maßnahme nach § 131 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 2, zweite Alternative, AO führe praktisch zu einer gewissen Außerkraftsetzung des Gesetzes. Es dürfe aber nicht übersehen werden, daß die durch Kriegsereignisse und Verfolgungsmaßnahmen eingetretenen großen Verluste an Eigenkapital für den Gesetzgeber des GewStG nicht vorhersehbar gewesen seien. Die durch den Gesetzgeber nach dem Kriege zum Ausgleich dieser Verluste eingeleiteten Maßnahmen könnten nur langsam wirksam werden. Die durch den unverhältnismäßig starken Einsatz langfristigen Fremdmittel ausgelöste Gewerbesteuer treffe den in der VAO genannten Personenkreis besonders hart. Dieser Kreis sei letztlich durch vom früheren Regime verursachte Ereignisse in eine mißliche Lage gekommen und deshalb der Hilfe besonders bedürftig.
Der Zweck des § 131 Abs. 5 AO, eine bundeseinheitliche Ermessensausübung für bestimmte Gruppen gleichgelagerter Fälle herzustellen, könne nur durch eine Ermessensbindung der Verwaltung auf Grund einer in § 131 AO vorgesehenen VAO erreicht werden. Billigkeitsrichtlinien könnten nur dann sinnvoll sein, wenn sie bei Bejahung der Gruppenunbilligkeit die überprüfung der Verhältnisse des Einzelfalles weitgehend vermieden. Die Voraussetzung der Gruppenunbilligkeit sei in Fällen der vorliegenden Art erfüllt. Es könne dahingestellt bleiben, ob das Finanzamt nachprüfen dürfe, ob im Einzelfalle eine Unbilligkeit vorliege, wenn eine auf § 131 Abs. 5 AO gestützte Verwaltungsanordnung bestehe. Wenn die Gemeinde, weil im Einzelfall eine Unbilligkeit nicht vorliege, ihre Zustimmung versage, dürfe das Finanzamt nach der VAO die Billigkeitsmaßnahme nicht gewähren.
Stellungnahme des Senats. Da Landesfinanzbehörden, denen die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuer nicht übertragen ist, nach den Ausführungen unter II 1 c) nicht befugt sind, bei der Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages Billigkeitsmaßnahmen nach § 131 Abs. 1 Satz 2, zweite Alternative, AO zu gewähren, hat der Senat keinen Anlaß, abschließend dazu Stellung zu nehmen, ob die VAO den Rahmen der Abs. 1 und 5 des § 131 AO überschreitet. Er neigt jedoch mehr der Ansicht des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen zu und hat auch Bedenken, ob hier die Grenzen des § 131 AO noch eingehalten worden sind.
Fundstellen
Haufe-Index 410342 |
BStBl III 1962, 238 |
BFHE 1962, 641 |
BFHE 74, 641 |