Entscheidungsstichwort (Thema)
Verzicht auf mündliche Verhandlung vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter - Auslegung einer Erklärung über den Verzicht auf mündliche Verhandlung - kein Widerruf des Verzichts auf mündliche Verhandlung - Entscheidung im schriftlichen Verfahren trotz fehlenden Verzichts auf mündliche Verhandlung
Leitsatz (amtlich)
Hat ein Beteiligter im finanzgerichtlichen Verfahren vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt, so bezieht sich das Einverständnis nur auf die Entscheidung durch den Senat, es sei denn, es ist ausdrücklich auch für den Fall einer Entscheidung durch den Einzelrichter erklärt worden.
Orientierungssatz
1. Die Erklärung eines Prozeßbeteiligten, er sei mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden, ist eine Prozeßhandlung, zu deren Auslegung das Revisionsgericht selbst befugt ist. Für die Auslegung von Prozeßhandlungen gilt der Grundsatz, daß im Zweifel gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht.
2. Der Verzicht auf mündliche Verhandlung ist als Prozeßhandlung nicht wegen Irrtums anfechtbar und auch nicht frei widerrufbar.
3. Entscheidet das FG im schriftlichen Verfahren, obwohl auf mündliche Verhandlung nicht wirksam verzichtet war, so führt dies zu einem Mangel der Vertretung i.S. des § 116 Abs.1 Nr.3, § 119 Nr.4 FGO.
Normenkette
FGO § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4, §§ 6, 90 Abs. 2
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (Entscheidung vom 12.09.1995; Aktenzeichen 8 K 7005/94 E) |
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war im ersten Teil des Streitjahres 1991 als Verwaltungsangestellter bei einer Behörde beschäftigt, bevor er bei einem privaten Unternehmen als Werkspilot tätig wurde. Er besaß bei Aufnahme seiner Tätigkeit für das Privatunternehmen nur einen Privatpilotenschein. Er machte seine Aufwendungen für den Erwerb weiterer Fluglizenzen im Jahre 1991 als Werbungskosten geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte statt dessen Sonderausgaben gemäß § 10 Abs.1 Nr.7 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit dem Höchstbetrag von 900 DM.
Während des nach erfolglosem Einspruch anhängig gemachten Klageverfahrens teilten die Kläger auf Anfrage der Berichterstatterin des Finanzgerichts (FG) im April 1995 mit, daß auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde. Mit Beschluß vom 3. August 1995 wurde das Verfahren der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
Mit Schreiben der Geschäftsstelle vom 17. August 1995 wurde dem Bevollmächtigen der Kläger auf richterliche Anordnung mitgeteilt, das Gericht gehe davon aus, daß die Beteiligten auch nach Übertragung des Rechtsstreits auf die Einzelrichterin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien, falls nicht innerhalb von zwei Wochen ein Widerruf erfolge.
Mit Urteil vom 12. September 1995 wies die Einzelrichterin die Klage ohne mündliche Verhandlung als unbegründet ab. Sie entschied, es handele sich bei den geltend gemachten Aufwendungen um Berufsausbildungskosten, weil der zu Beginn der Ausbildung ausgeübte Beruf des Verwaltungsangestellten ein anderer Beruf sei als der des Berufspiloten.
Die Kläger rügen mit ihrer Revision, das Urteil verletze ihren Anspruch auf rechtliches Gehör, weil eine Einverständniserklärung nach § 90 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für die Entscheidung durch die Einzelrichterin nicht vorgelegen habe. Ihr Verzicht habe nicht im Falle der Übertragung des Rechtsstreits auf einen Einzelrichter gelten sollen. Eine Entscheidung durch einen Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung komme für den Prozeßbevollmächtigten wegen der Schwierigkeit des Steuerrechts grundsätzlich nicht in Frage. Außerdem rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 9 Abs.1 EStG).
Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und der Klage stattzugeben.
Das FA beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO). Das FG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil die Kläger nicht ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch die Einzelrichterin erklärt hatten (§ 90 Abs.2 FGO).
1. Der X.Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat im Urteil vom 5. Juli 1995 X R 39/93 (BFHE 178, 301, BStBl II 1995, 842) die im Streitfall entscheidungserhebliche Frage offengelassen, ob ein Verzicht auf mündliche Verhandlung, den der Beteiligte vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter erklärt, sich nur auf die Entscheidung durch den nach Maßgabe der allgemeinen Regelung des § 5 Abs.3 FGO zuständigen Spruchkörper, den Senat, bezieht. Er hat entschieden, daß der Verzicht auf mündliche Verhandlung mit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter jedenfalls dann unwirksam wird, wenn er zu einem Zeitpunkt erklärt worden ist, in dem die durch das Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 1992, 2109, BStBl I 1993, 90) mit Wirkung ab dem 1. Januar 1993 eingeführte Möglichkeit einer Entscheidung durch den Einzelrichter (§ 6 FGO) noch nicht gegeben war. Nach Auffassung des erkennenden Senats bezieht sich auch ein seit dem 1. Januar 1993 vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter erklärtes Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nur auf die Entscheidung des Senats, es sei denn, das Einverständnis ist ausdrücklich auch auf die Entscheidung durch den Einzelrichter erstreckt worden.
2. Die Erklärung eines Prozeßbeteiligten, er sei mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs.2 FGO) oder verzichte auf eine mündliche Verhandlung, ist eine Prozeßhandlung, zu deren Auslegung das Revisionsgericht selbst befugt ist (BFH-Urteil vom 8. Januar 1991 VII R 61/88, BFH/NV 1991, 795; Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 26. Juni 1991 VIII ZR 231/90, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1991, 2630, 2631).
Eine vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter erfolgte Mitteilung eines Beteiligten, er sei mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden oder verzichte auf eine mündliche Verhandlung, ist auslegungsbedürftig. Denn seit dem 1. Januar 1993 besteht die Möglichkeit, daß der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen und durch diesen entschieden wird (§ 6 FGO). Vor diesem rechtlichen Hintergrund kann die Einverständnis- oder Verzichtserklärung dahin verstanden werden, daß sie sich nur auf die Entscheidung durch den Senat (§ 5 Abs.3, 1.Halbsatz FGO) erstreckt. Sie läßt aber auch die Deutung zu, daß damit allgemein für die nächste Sachentscheidung durch den gesetzlichen Richter und damit auch durch den Einzelrichter auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden soll.
Geht man davon aus, daß ein Beteiligter vernünftigerweise nur dann auf mündliche Verhandlung verzichtet, wenn er meint, alles Erforderliche schriftlich vorgetragen zu haben, dann erscheint die letztgenannte weite Auslegungsmöglichkeit durchaus erwägenswert. Gleichwohl ist anzunehmen, daß die Einverständnis- oder Verzichtserklärung sich nur auf die Entscheidung des Senats bezieht und mit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter gegenstandslos wird.
Es ist fraglich, ob ein Beteiligter, der seinen Verzicht auf mündliche Verhandlung allgemein und ohne weitere Konkretisierung vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter erklärt, sich überhaupt über die Möglichkeit einer späteren Entscheidung durch den Einzelrichter Gedanken gemacht hat. Es ist durchaus vorstellbar, daß er tatsächlich nur im Vertrauen auf eine eingehende Erörterung im Senat seine Einverständnis- oder Verzichtserklärung abgegeben hat (vgl. Woerner in Betriebs-Berater --BB-- 1996, 39). Für die Auslegung von Prozeßhandlungen gilt der Grundsatz, daß im Zweifel gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (BGH-Urteil vom 10. März 1994 IX ZR 152/93, NJW 1993, 1537, 1538, m.w.N.). Der Interessenlage der Beteiligten entspricht eher eine restriktive Auslegung der Einverständnis- oder Verzichtserklärung. Denn der Verzicht hat für die Beteiligten weitreichende Folgen. Er ist nämlich als Prozeßhandlung nach der Rechtsprechung des BFH nicht wegen Irrtums anfechtbar und auch nicht frei widerrufbar (vgl. Urteile vom 20. Juni 1967 II 73/63, BFHE 90, 82, BStBl III 1967, 794; vom 26. November 1970 IV R 131/69, BFHE 101, 61, BStBl II 1971, 241; vom 4. April 1974 V R 161/72, BFHE 112, 316, BStBl II 1974, 532; Beschluß vom 7. Februar 1990 III R 101/87, BFH/NV 1991, 402; für eine Zulässigkeit des Widerrufs bei wesentlicher Änderung der Prozeßlage: BFH-Urteil vom 6. April 1990 III R 62/89, BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744). Dies legt es nahe, die vor der Übertragung auf den Einzelrichter abgegebene Einverständnis- oder Verzichtserklärung nur auf die nächste Sachentscheidung durch den Spruchkörper, einen Senat (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 16. Januar 1996 III R 120/93, BFH/NV 1996, 614), zu beziehen (vgl. auch Stein/Jonas/Leipold, Zivilprozeßordnung, 21.Aufl., § 128 Rdnr.69; Stelkens in Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, § 6 Rdnr.10; Rößler, Deutsche Steuer-Zeitung --DStZ-- 1996, 191).
Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn sich die Einverständnis- oder Verzichtserklärung ausdrücklich auch auf eine Entscheidung durch den Einzelrichter erstreckt hat. Da in diesem Fall der Wille des Beteiligten eindeutig ist, sind keine stichhaltigen Gründe dagegen ersichtlich, dem Einverständnis oder Verzicht eine erweiterte Wirkung zuzugestehen (vgl. Stein/Jonas/Leipold, a.a.O., § 128 Rdnr.68 f.).
3. Im Streitfall haben die Kläger den Verzicht auf mündliche Verhandlung vor der Übertragung des Rechtsstreits auf die Einzelrichterin erklärt. Die Erklärung hat sich nicht ausdrücklich auf eine eventuelle Entscheidung durch den Einzelrichter erstreckt. Die Kläger haben nach der Übertragung des Rechtsstreits auf die Einzelrichterin nicht erneut auf mündliche Verhandlung verzichtet. Zwar hat das FG im Schreiben vom 17. August 1995 mitgeteilt, es gehe davon aus, daß die Beteiligten auch nach der Übertragung auf die Einzelrichterin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien, falls nicht innerhalb von 2 Wochen ein Widerruf erfolge. Ob das Schweigen eines Beteiligten auf eine derartige Äußerung des Gerichts überhaupt als wirksame Einverständnis- oder Verzichtserklärung gewertet werden kann, braucht nicht entschieden zu werden. Denn das Schweigen kann im Streitfall schon deshalb nicht als Verzichtserklärung verstanden werden, weil die Kläger bestreiten, daß dieses --ausweislich der finanzgerichtlichen Akten mit einfacher Post versandte-- Schreiben ihrem Prozeßbevollmächtigten zugegangen ist.
Das FG (die Einzelrichterin) durfte somit nicht nach § 90 Abs.2 FGO im schriftlichen Verfahren entscheiden. Entscheidet das FG im schriftlichen Verfahren, obwohl auf mündliche Verhandlung nicht wirksam verzichtet war, so führt dies nach der Rechtsprechung des BFH zu einem Mangel der Vertretung i.S. des § 116 Abs.1 Nr.3, § 119 Nr.4 FGO (vgl. Urteile in BFHE 178, 301, BStBl II 1995, 842; vom 2. Dezember 1992 II R 112/91, BFHE 169, 311, BStBl II 1993, 194; vom 4. November 1992 X R 7/92, BFH/NV 1993, 372; in BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744; vom 11. August 1987 IX R 135/83, BFHE 151, 297, BStBl II 1988, 141). Das angefochtene Urteil war wegen dieses Verfahrensmangels aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 65878 |
BFH/NV 1997, 55 |
BStBl II 1997, 77 |
BFHE 181, 115 |
BFHE 1997, 115 |
BB 1997, 459-460 (LT) |
DB 1996, 2528 (L) |
DStR 1996, 1972-1973 (KT) |
DStRE 1997, 87-88 (LT) |
DStZ 1997, 420 (L) |
HFR 1997, 94-95 (L) |
StE 1996, 783 (K) |