Leitsatz (amtlich)
Wird eine nach § 115 Abs. 1 FGO statthafte Revision allein auf Verfahrensmängel gestützt, ist nur über die zulässigerweise geltend gemachten Verfahrensmängel zu entscheiden, wenn nicht zugleich die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 FGO erfüllt sind.
Normenkette
FGO §§ 115, 118 Abs. 3 S. 1; VwGO § 137 Abs. 3 S. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) hatte im September 1963 zusammen mit ihrem Ehemann eine Gaststätte mit Fremdenpension in B erworben, die sie mit schriftlichem Vertrag vom 12. Oktober 1963 an ihren Vater, den Rentner S, auf unbestimmte Zeit verpachtete. Als monatlicher Pachtzins wurden 30 v. H. des steuerpflichtigen Umsatzes vereinbart. Der Ehemann der Klägerin war zu damaliger Zeit noch Inhaber einer gepachteten Gaststätte in D.
Die verpachtete Gaststätte in B war zunächst für einige Monate auf den Namen des Ehemannes der Klägerin vorläufig konzessioniert. Mitte Januar 1964 wurde die Konzession dem S erteilt. In der Gastwirtschaft in B waren die Klägerin und ab Januar 1964 auch S tätig. Zwischen S und der Klägerin wurde ein Anstellungsvertrag geschlossen. Aufgrund einer Betriebsprüfung gelangte der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) zu der Auffassung, daß der zwischen der Klägerin und S geschlossene Pachtvertrag nicht durchgeführt worden sei, und rechnete die gewerblichen Einkünfte aus der Gastwirtschaft in B der Klägerin zu. Der Einspruch gegen die Gewerbesteuermeßbescheide 1963 bis 1965 wurde zurückgewiesen. Die Klage, mit der beantragt worden war, die angefochtenen Bescheide ersatzlos aufzuheben, hatte keinen Erfolg.
In ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 76 FGO). Sie führt aus, das FG stütze sich darauf, daß S mit seinen Pachtzahlungen in Rückstand geraten sei und in 1964 die Löhne an sie, die Klägerin, nur unregelmäßig ausgezahlt habe. Zu diesen Feststellungen wäre das FG nicht gelangt, wenn es seiner Ermittlungspflicht nachgekommen wäre.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision kann keinen Erfolg haben.
Die Rüge, das FG habe seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts verletzt, ist nicht begründet....
Die vorliegende Revision ist allein auf einen Mangel des finanzgerichtlichen Verfahrens - Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 76 FGO) - gestützt. Für diesen Fall bestimmt § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO, daß nur über den geltend gemachten Verfahrensmangel zu entscheiden ist, sofern nicht zugleich eine der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) und Nr. 2 dieser Vorschrift (Abweichung von einer Entscheidung des BFH) vorliegt. Bei Auslegung der nicht eindeutigen Vorschrift des § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO könnte zweifelhaft sein, inwieweit außer den genannten Fällen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO das Revisionsgericht neben den geltend gemachten Verfahrensmängeln auch sachliches Recht nachzuprüfen hat. Außer Betracht können hier die Fälle bleiben, in denen es im Rahmen der verfahrensrechtlichen Prüfung davon abhängt, ob es bei Anwendung des richtigen sachlichen Rechts auf den geltend gemachten Verfahrensmangel überhaupt ankommt (Urteil des BVerwG vom 10. Oktober 1963 II C 166/60, BVerwGE 17, 16). Wird neben Verfahrensmängeln außerdem in zulässiger Weise die Verletzung materiellen Rechts gerügt, ist es gesicherte Meinung, daß die Vorentscheidung insgesamt in sachlich-rechtlicher Hinsicht zu überprüfen ist. Werden hingegen nur Verfahrensmängel gerügt, ist es nach Einführung der VwGO - vgl. § 137 Abs. 3 VwGO, dem § 118 Abs. 3 FGO wörtlich entspricht - herrschende Meinung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur (vgl. Entscheidungen des BVerwG vom 11. Dezember 1963 V C 65/62, BVerwGE 17, 253; vom 18. Februar 1964 II C 7/61, BVerwGE 18, 64; vom 23. Juli 1964 VIII C 32/64, BVerwGE 19, 157; vom 31. August 1964 VIII C 350/63, BVerwGE 19, 231; Bettermann, NJW 1956, 1388 und 1957, 479; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl., § 137 Anm. 16; Klinger, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl., § 137 Anm. C Buchst. c; Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl., § 137 Anm. 15; Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, § 137 VwGO, Anm. III 2; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, § 137 Anm. 7; anderer Ansicht Schunck-De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 2. Aufl., § 137 Anm. 3 b und d; Koehler, Verwaltungsgerichtsordnung, § 137 Anm. VIII 6; Gräber, DStR 1968, 238), daß dem Revisionsgericht eine sachliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils verwehrt ist. Für das finanzgerichtliche Verfahren haben sich dieser Ansicht angeschlossen Tipke-Kruse (Kommentar zur AO/FGO, 7. Aufl., § 118 FGO Rdnr. 8) und Ziemer-Birkholz (Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 118 Rdnr. 30). Demgegenüber wurde im Zivilprozeßrecht bei der Auslegung des § 559 ZPO (in der vor dem Änderungsgesetz vom 8. Juli 1975 - BGBl I, 1863 - geltenden Fassung), der allerdings in seinem Wortlaut anders gefaßt war als § 137 Abs. 3 VwGO und § 118 Abs. 3 FGO, allgemein die Ansicht vertreten, daß auch bei ausschließlich erhobenen Verfahrensrügen sachliches Recht immer geprüft werden kann (RG in ständiger Rechtsprechung, vgl. z. B. Urteil vom 28. November 1929 IV 255/29, RGZ 126, 261 [264]; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 34. Aufl., § 559 Anm. 3; Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., § 559 Anm. V). Für das Gebiet der Sozialgerichtsbarkeit hat sich das Bundessozialgericht der Auffassung des RG angeschlossen (vgl. Urteil vom 26. Juli 1956 2 RU 35/55, NJW 1957, 238).
Der BFH hat sich ebenfalls mit der Auslegung des § 118 Abs. 3 FGO befaßt. In dem Urteil vom 6. Mai 1969 VIR 110/68 BFHE 96, 269, BStBl II 1969, 621) ist ausgesprochen, daß der BFH bei einer Verfahrensrevision nicht gehindert ist, das angefochtene Urteil auch materiell-rechtlich zu prüfen, wenn die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 FGO vorliegen. Gleiches gilt nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 22. April 1971 I R 149/70 (BFHE 102, 353, BStBl II 1971, 631) für den Fall, daß über eine nach § 116 Abs. 1 FGO zulassungsfreie Revision zu befinden ist. In diesen Entscheidungen ist der BFH der Rechtsprechung des BVerwG gefolgt.
Nach Auffassung des erkennenden Senats gilt § 118 Abs. 3 FGO nicht nur für die Fälle der nach § 115 Abs. 2 FGO zugelassenen oder der nach § 116 Abs. 1 FGO zulassungsfreien Revision, sondern auch für die Streitwertrevision nach § 115 Abs. 1 FGO. Der erkennende Senat verkennt nicht, daß in bezug auf die Streitwertrevision die Finanzgerichtsordnung eine Besonderheit aufweist, die dem Revisionsverfahren nach der Verwaltungsgerichtsordnung fremd ist; letztere kennt nur die ausdrücklich zugelassene oder die wegen wesentlicher Verfahrensmängel zulassungsfreie Revision, nicht dagegen die Streitwertrevision (vgl. § 132 Abs. 1, § 133 VwGO). Der Gesetzgeber der Finanzgerichtsordnung, der sich bei Schaffung einer besonderen Verfahrensordnung für das Verfahren vor den Finanzgerichten vor der Ausgestaltung des prozessualen Rechtsverhältnisses und den Verfahrensvorschriften eng an die schon vorhandene Verwaltungsgerichtsordnung angelehnt hat, glaubte wegen der Besonderheiten des Steuerprozesses auf eine Streitwertrevision nicht verzichten zu können. Gleichwohl hat der Gesetzgeber in § 118 Abs. 3 FGO die Regelung des § 137 Abs. 3 VwGO wörtlich übernommen, daß bei einer lediglich auf Verfahrensmängel gestützten Revision nur über die geltend gemachten Mängel - von den dort ausdrücklich angeordneten Ausnahmen abgesehen - zu entscheiden ist. Er hat damit zum Ausdruck gebracht, daß die genannte Regelung auch für die Streitwertrevision Geltung besitzen soll, sofern nicht neben den geltend gemachten Verfahrensmängeln in zulässiger Weise auch die Verletzung materiellen Rechts gerügt worden ist. § 118 Abs. 3 Satz 1 FGO ist daher für eine als Streitwertrevision statthafte Verfahrensrevision in dem Sinn zu verstehen, daß das Revisionsgericht nur über die in zulässiger Weise geltend gemachten Verfahrensmängel zu entscheiden hat, wenn nicht zugleich die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 FGO erfüllt sind.
Die Voraussetzungen der zuletzt bezeichneten Vorschriften sind nicht erfüllt. Das FG ist bei der rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts von den in ständiger Rechtsprechung des BFH entwickelten Grundsätzen ausgegangen, daß zur Vermeidung von Mißbräuchen rechtsgeschäftliche Beziehungen zwischen nahen Angehörigen - hier zwischen der Klägerin und ihrem Vater S - steuerlich nur anerkannt werden können, wenn klare und ernsthafte Vereinbarungen bestehen und diese tatsächlich vollzogen worden sind. Maßstab für die Ernsthaftigkeit der Vereinbarungen ist, ob Verträge solchen Inhalts auch zwischen Fremden geschlossen werden. Die vorliegende Rechtssache berührt das Intersse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts nicht. Daher ist dieser Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung beizumessen. Eine Abweichung von einer Entscheidung des BFH ist ebenfalls nicht festzustellen.
Fundstellen
Haufe-Index 71880 |
BStBl II 1976, 498 |
BFHE 1976, 530 |