Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerliche Betriebsprüfung Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Das Finanzamt ist nicht gehindert, eine zunächst auf Grund von § 94 AO erfolgte änderung des Steuerbescheides im Verlaufe des Rechtsmittelverfahrens auf § 222 AO zu stützen; die Berichtigungsnormen der §§ 94 und 222 AO sind selbständig nebeneinander anwendbar.
Normenkette
AO §§ 93-94, 222 Abs. 1 Nr. 1, § 223
Tatbestand
Streitig ist, ob der Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) seine die Einkommensteuer 1960 betreffende Verfügung vom 5. März 1962 zum Nachteil des Steuerpflichtigen (Stpfl.) ändern durfte.
Der Revisionskläger (Stpfl.), der den Textilwareneinzelhandel betreibt, hatte zunächst keine Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 1960 abgegeben.
Nachdem die allgemeine öffentliche Aufforderung sowie ein besonderes Einzelersuchen zur Abgabe der Einkommensteuererklärung fruchtlos geblieben waren, schätzte das FA den Gewinn aus Gewerbebetrieb. Wegen Geringfügigkeit des zu versteuernden Einkommensbetrags verfügte es am 5. März 1962 ausdrücklich "N. V." (nicht veranlagt) und gab dem Stpfl. diese Verfügung bekannt.
Am 18. Juni 1962 reichte der Stpfl. zusammen mit der Einkommensteuererklärung 1961 die erfolglos angemahnte Einkommensteuererklärung 1960 ein, die Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 8.485 DM auswies.
Mit Rücksicht auf die erklärten Einkünfte setzte das FA im Bescheid vom 4. Juli 1962 die Einkommensteuer 1960 nunmehr auf 1.134 DM fest. Dieser Bescheid trug die Aufschrift "Berichtigung gemäß § 94 AO".
Einspruch und Berufung hiergegen blieben ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) erblickte ohne nähere Begründung in der Verfügung vom 5. März 1962 einen Steuerbescheid. Es führte aus, das FA habe diesen bereits unanfechtbar gewordenen Bescheid zum Nachteil des Stpfl. gemäß § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO ändern dürfen, da der Stpfl. zugestimmt habe. Seine Zustimmung sei in der Einreichung der Steuererklärung 1960 zu erblicken.
Abgesehen davon sei die Berichtigung des Bescheids auch aus § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO begründet, weil durch die Einreichung der Steuererklärung 1960 neue Tatsachen bekanntgeworden seien, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen. Dabei sei unerheblich, daß das FA seinen Berichtigungsbescheid ursprünglich nicht auf § 222 AO gestützt habe.
Hiergegen wendet sich der Stpfl. mit der Rechtsbeschwerde (Revision), zu deren Begründung er ausführt, die auf § 94 AO gestützte Berichtigung sei unzulässig gewesen, weil die Verfahrensvoraussetzung der ausdrücklichen Zustimmung des Betroffenen nicht vorgelegen habe. Entgegen der Auffassung des FG gehe es grundsätzlich nicht an, eine Zustimmung aus schlüssigem Handeln zu folgern. Selbst wenn jedoch eine solche Zustimmung rechtlich möglich wäre, könne sie im vorliegenden Fall nicht einfach in der Einreichung der Einkommensteuererklärung 1960 erblickt werden. Eine solche Deutung der Einreichung komme allenfalls in Betracht, wenn er die Erklärung "zur weiteren Veranlassung" vorgelegt hätte.
Die hiernach unzulässige Berichtigung sei auch nicht etwa aus § 222 AO begründet. Es sei nämlich unstatthaft, eine zunächst auf § 94 AO gestützte Berichtigung nachträglich auf § 222 AO zu stützen. Das FA bleibe daran gebunden, daß es die Berichtigung ursprünglich nicht ausdrücklich auf § 222 AO gestützt habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet, da die angefochtene Steuerfestsetzung rechtlich nicht zu beanstanden ist.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Verfügung vom 5. März 1962 entgegen ihrer äußeren Form entsprechend der Annahme des FG ein den Vertrauensschutz des Stpfl. begründender, auf 0 DM lautender Steuerbescheid (Freistellungsbescheid) oder lediglich eine schlichte NV-Verfügung war. Denn in beiden Fällen ist das Urteil des FG im Ergebnis richtig.
War die Verfügung vom 5. März 1962 nur eine schlichte NV- Verfügung, so ist die angefochtene änderung aus §§ 93, 223 AO Rechtens, ohne daß es auf die besonderen Berichtigungsvoraussetzungen der §§ 94, 222 AO ankäme. Denn die NV-Verfügung enthält keine bestandskraftfähige Sachentscheidung über den Steueranspruch. Ob im Einzelfall NV-Verfügung oder Freistellung vorliegt, ist nach dem Gesamtbild aller Umstände zu entscheiden. Im vorliegenden Fall mag die Frage indessen auf sich beruhen.
War die geänderte Verfügung ein Freistellungsbescheid, so ist die angefochtene Berichtigung mindestens aus § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO begründet. Ob sie auch aus § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO gerechtfertigt war, ist entgegen der Ansicht des FG im Hinblick auf das besondere Berichtigungserfordernis der Zustimmung des Betroffenen nicht zweifelsfrei. Die Frage bedarf jedoch im Streitfall keiner Entscheidung.
Der durch die nachträglich eingereichte Steuererklärung dem FA bekanntgewordene gewerbliche Gewinn 1960 war eine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO, die eine höhere Veranlagung rechtfertigt. Die tatbestandsmäßige Neuheit der Tatsache kann im Streitfall nicht aus dem Gesichtspunkt angezweifelt werden, das FA müsse wegen Verletzung seiner gesetzlichen Ermittlungspflicht den richtigen Jahresgewinn 1960 als bekannt gegen sich gelten lassen. Eine solche Pflichtverletzung käme nur in Betracht, wenn das FA in Fällen der vorliegenden Art gehalten wäre, vor Durchführung einer auf Schätzung beruhenden Veranlagung es nicht lediglich bei der Anmahnung der Erklärung bewenden zu lassen, sondern darüber hinaus ein Erzwingungsgeld anzudrohen und gegebenenfalls festzusetzen. Die Forderung eines so gestalteten Verfahrens des FA, die Tipke- Kruse (Reichsabgabenordnung, 2. Auflage, § 222 Anm. 16) erheben, ist nicht begründet. Denn es ist dem FA nicht zuzumuten, über die schriftliche Anmahnung der Steuererklärung hinaus die Erzwingung der gewünschten Angaben mit den Mitteln des § 202 AO zu versuchen (so auch Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - IV 203/57 U vom 23. Oktober 1958, BStBl 1959 III S. 10, Slg. Bd. 68 S. 25). Aber selbst wenn das FA im Streitfall seine Ermittlungspflicht durch vorzeitige Schätzung verletzt haben sollte, könnte sich der Stpfl. ausnahmsweise nicht darauf berufen. Denn nach dem auch den Stpfl. bindenden Grundsatz von Treu und Glauben braucht das FA eine ihm unbekannte Tatsache dann nicht als bekannt gegen sich gelten zu lassen, wenn der Stpfl. in demselben Sachpunkt seiner Mitwirkungspflicht in Gestalt seiner Steuererklärungspflicht nicht nachgekommen ist (vgl. Woerner, Zurücknahme, änderung und Ersetzung von Steuerverwaltungsverfügungen, S. 35). Eine andere Entscheidung würde dem das Festsetzungsverfahren beherrschenden Deklarationsprinzip und der vom Gesetz betonten Bedeutung der Steuererklärung als Veranlagungsgrundlage nicht gerecht (vgl. BFH- Entscheidung IV 342/61 U vom 9. Juli 1964, BStBl 1964 III S. 492, Slg. Bd. 80 S. 52).
Die nach allem zulässige Berichtigung ist entgegen der Ansicht des Stpfl. auch nicht etwa deshalb unmöglich, weil das FA die zunächst nach § 94 AO erfolgte änderung erst im Verlauf des Rechtsmittelverfahrens auf § 222 AO stützte. Denn die Berichtigungsnormen der §§ 94 und 222 AO sind selbständig nebeneinander anwendbar und der Hinweis der Berichtigungsbehörde auf die Berichtigungsgrundlage hat keine rechtliche Bedeutung. Entscheidend ist allein, daß der Berichtigungsbescheid im maßgebenden Zeitpunkt durch einen Berichtigungstatbestand materiell gedeckt war. Wie oben dargelegt, ist diese Voraussetzung im Streitfall erfüllt.
Fundstellen
Haufe-Index 411929 |
BStBl III 1966, 230 |
BFHE 1966, 51 |
BFHE 85, 51 |