Entscheidungsstichwort (Thema)
Unentgeltliche Beförderung der Arbeitnehmer zur Arbeitsstätte durch den Arbeitgeber
Leitsatz (NV)
1. Eine Sachzuwendung des Unternehmers an seine Arbeitnehmer kann nicht als "Leistung gegen Entgelt" besteuert werden, wenn sie nicht auf eine konkretisierbare Gegenleistung des jeweiligen Arbeitnehmers abzielt (BFHE 178, 241; EuGH, Urteil vom 16. Oktober 1997 Rs. C-258/95).
2. Die Regelung der Steuerbarkeit unentgeltlicher Leistungen des Unternehmers (Arbeitgebers) an seine Arbeitnehmer in §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b UStG 1980 ist anhand der Grundsätze des EuGH-Urteils vom 16. Oktober 1997 richtlinienkonform auszulegen. Danach entfällt die Steuerbarkeit unentgeltlicher Beförderungsleistungen des Arbeitgebers, wenn besondere Umstände ausnahmsweise die Sicherstellung und Organisation der Beförderung der Arbeitnehmer von der Wohnung zur Arbeitsstätte nicht als unternehmensfremden Zwecken, sondern (vorrangig) den Zwecken des Unternehmens dienend qualifizieren. Dies kann nach den jeweiligen Besonderheiten bei Beförderung zu wechselnden Arbeitsstätten und über weite Entfernungen der Fall sein.
Normenkette
UStG 1980 § 1 Abs. 1 Nr. 1 Sätze 1, 2 Buchst. b, Nr. 2 S. 2 Buchst. b; EWGRL 388/77 Art. 6 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) -- eine GmbH -- betrieb bis zu ihrer Liquidation zum 31. Dezember 1984 eine Steinsetzerei (u. a. Fassadenverkleidungen). Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) behandelte in den Umsatzsteuerbescheiden für 1980, 1982 bis 1984 sog. unentgeltliche Sammelbeförderungen von Arbeitnehmern von deren Wohnungen zu Baustellen in betriebseigenen PKW als steuerpflichtige Sachzuwendungen der Klägerin. Das FA stützte die Besteuerung auf §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1980) und die dazu ergangenen Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11. März 1988 V R 30/84 (BFHE 153, 155, BStBl II 1988, 643) und V R 114/83 (BFHE 153, 162, BStBl II 1988, 651).
Nach erfolglosem Einspruch gab das Finanzgericht (FG) der Klage insoweit statt, "als der Beklagte die über 50 km hinausgehenden Beförderungsleistungen (1980 12 000 km, 1982--1984 je 42 500 km) berücksichtigt hat". Im übrigen wurde die Klage abgewiesen.
Den Entscheidungsgründen des Urteils läßt sich entnehmen, daß das Einsatzgebiet der Klägerin seit 1980 entfernungsmäßig ständig ausgedehnt worden war und daß seit 1982 Baustellen im Umkreis von weniger als 50 km vom Sitz der Klägerin nicht mehr ersichtlich waren. Lt. Einspruchsentscheidung fuhren die Kolonnen wegen der größeren Entfernung in der Regel montags zur Baustelle und erst freitags wieder nach Hause.
Das FG ging davon aus, daß zwar Fahrten zur Arbeitsstätte (Einsatzstelle) grundsätzlich auch dann Sache der Arbeitnehmer seien, wenn sie durch zeitliche und räumliche Gründe erschwert würden (BFH, Urteil vom 30. Juni 1988 V R 39/87, BFH/NV 1989, 267). Indes sei vorliegend das betriebliche Interesse der Klägerin an den Beförderungen so gewichtig und als so hoch zu veranschlagen, daß gemessen daran das private Interesse der Arbeitnehmer, an ihre Einsatzstelle zu gelangen, nur noch als geringfügig einzustufen sei.
Das FA rügt mit der Revision Verletzung von §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b UStG 1980. Es macht geltend, das FG stelle ausschließlich auf die Entfernung zwischen den wechselnden Einsatzstellen ab und sehe bei einer Entfernung von mehr als 50 km das betriebliche Interesse des Arbeitgebers als so gewichtig an, daß das private Interesse des Arbeitnehmers überlagert werde. Das FG verkenne dabei, daß der Grundsatz, es sei Sache des Arbeitnehmers, zur Arbeitsstelle zu gelangen, nach der bisherigen BFH- Rechtsprechung unabhängig von der Entfernung und von der Erreichbarkeit der Arbeitsstelle eingreife.
Würde die Entfernungsgrenze von 50 km für die Anwendbarkeit des §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b UStG 1980 gelten, hätte der BFH in den Urteilen in BFHE 153, 155 und 162, BStBl II 1988, 643 und 651 nicht auf die mögliche Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nach §12 Abs. 2 Nr. 10 Buchst. b UStG 1980 bei sog. "genehmigungsfreiem Linienverkehr" im Falle einer Beförderungsstrecke von nicht mehr als 50 km hinweisen müssen.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin tritt der Revision entgegen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des FA ist unbegründet.
Das angefochtene Urteil ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Die Sammelbeförderungsleistungen der Klägerin sind weder als "Leistungen gegen Entgelt" nach §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG 1980 noch als Leistungen i. S. von §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b UStG 1980 steuerbar. Nach letztgenannter Vorschrift entfällt die Steuerbarkeit nicht, wenn ein Unternehmer sonstige Leistungen an seine Arbeitnehmer aufgrund des Dienstverhältnisses ausführt, für die die Leistungsempfänger kein besonders berechnetes Entgelt aufwenden.
a) Der erkennende Senat legte dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in einem anderen Verfahren zu Sammelbeförderungsleistungen mit Beschluß vom 11. Mai 1995 V R 105/92 (BFHE 178, 241) neben einer Frage zur Bestimmung des Begriffs der Dienstleistung gegen Entgelt folgende Frage im Hinblick auf die Vereinbarkeit von §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b UStG 1980 mit der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) zur Vorabentscheidung vor:
"Erfaßt Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands bzw. eine unentgeltliche Dienstleistung auch dann, wenn sie -- wie bei unentgeltlicher Beförderung von Arbeitnehmern von der Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück mit einem betrieblichen Kfz -- beim Arbeitgeber keinen unternehmensfremden Zwecken, beim Arbeitnehmer aber dessen privaten Zwecken dient, ohne daß der Arbeitnehmer (wegen unentgeltlicher Inanspruchnahme der Beförderungsleistung) insoweit mit Umsatzsteuer belastet wird?"
b) Der EuGH beantwortete die Fragen mit Urteil vom 16. Oktober 1997 Rs. C-258/95 (Julius Fillibeck Söhne GmbH & Co. KG, Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht -- UVR -- 1997, 430, Umsatzsteuer-Rundschau -- UR -- 1998, 61).
Zum einen führte er aus, daß nach Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG ein Arbeitgeber, der Arbeitnehmer unentgeltlich ohne konkrete Verknüpfung mit der Arbeitsleistung oder dem Lohn von der Wohnung zur Arbeitsstätte ab einer bestimmten Entfernung befördert, keine Dienstleistung gegen Entgelt im Sinne dieser Bestimmung erbringt.
Zum anderen ist nach dem Urteil Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen, daß die unentgeltliche Beförderung von Arbeitnehmern von der Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück mit einem betrieblichen Kfz durch den Arbeitgeber grundsätzlich dem privaten Bedarf der Arbeitnehmer und damit unternehmensfremden Zwecken dient. Diese Bestimmung findet jedoch keine Anwendung, wenn die Erfordernisse des Unternehmens im Hinblick auf besondere Umstände, wie die Schwierigkeit, andere geeignete Verkehrsmittel zu benutzen, und wechselnde Arbeitsstätten, es gebieten, daß die Beförderung der Arbeitnehmer übernommen wird, da dann diese Leistung nicht zu unternehmensfremden Zwecken erbracht wird.
2. Das Urteil des EuGH bestätigt die Senatsrechtsprechung zu §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG 1980, daß eine Sachzuwendung des Unternehmers an seine Arbeitnehmer nicht als "Leistung gegen Entgelt" besteuert werden kann, wenn sie nicht auf eine konkretisierbare Gegenleistung des jeweiligen Arbeitnehmers abzielt (vgl. BFHE 178, 241). Nach dem festgestellten Sachverhalt waren die Beförderungsleistungen zu den Arbeitsstätten "unentgeltlich". Es gibt auch keinen Anhalt dafür, daß die jeweilige Arbeitsleistung auch für diese Beförderungsleistung (als Sachlohn neben dem Barlohn) geschuldet wurde.
3. Aus der Entscheidung des EuGH folgt weiter, daß die Beförderung zur Arbeitsstätte grundsätzlich privaten Zwecken der Arbeitnehmer dient und damit als unentgeltliche Leistung des Unternehmers "für unternehmensfremde Zwecke" steuerbar ist.
a) Der insoweit einschlägige Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG erfaßt Gegenstandsverwendung und unentgeltliche Dienstleistungen des Unternehmers sowohl "für seinen privaten Bedarf als auch für den Bedarf des Personals".
Die Bestimmung erfaßt aber ausnahmsweise solche unentgeltlichen Beförderungsleistungen des Unternehmers (Arbeitgebers) an seine Arbeitnehmer nicht, die durch die Erfordernisse des Unternehmens geboten sind. Der Unternehmer leistet jedenfalls dann "nicht zu unternehmensfremden Zwecken", wenn der persönliche Vorteil, den der Arbeitnehmer dadurch hat, gegenüber dem Bedarf des Unternehmers nur als nebensächlich erscheint (Rdnr. 30 des Urteils).
b) Diese Abgrenzung nichtsteuerbarer unentgeltlicher Leistungen des Unternehmers für Zwecke des Unternehmens von steuerbaren unentgeltlichen Leistungen für unternehmensfremde Zwecke ist nach deutschem Umsatzsteuergesetz grundsätzlich anhand der Voraussetzungen des Eigenverbrauchs (hier: §1 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. b UStG 1980) vorzunehmen. Im Streitfall braucht der Senat aber auf diese allgemeine Regelung nicht einzugehen.
c) Da das Umsatzsteuergesetz die Steuerbarkeit unentgeltlicher Leistungen des Unternehmers (Arbeitgebers) an seine Arbeitnehmer in der lex specialis des §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b UStG 1980 regelt (zur Entstehungsgeschichte vgl. BFHE 178, 241, unter III. 3.), hat der Senat den Streitfall anhand deren Voraussetzungen -- unter richtlinienkonformer Auslegung nach den wiedergegebenen Grundsätzen des EuGH -- zu entscheiden.
Nach der bisherigen Auslegung von §1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b UStG 1980 durch den Senat sind unentgeltliche (Sach-) Leistungen des Arbeitgebers nicht nach der bezeichneten Vorschrift zu besteuern, wenn sie zwar auch einen privaten Bedarf des Arbeitnehmers befriedigen, aber der mit der Zuwendung verfolgte betriebliche Zweck den privaten Bedarf des Arbeitnehmers überlagert (BFHE 153, 155, BStBl II 1988, 643, und Urteil vom 21. Juli 1994 V R 21/92, BFHE 175, 169, BStBl II 1994, 881).
Für den Bereich der unentgeltlichen Arbeitnehmerbeförderung gilt nach der Vorabentscheidung folgendes:
Als besondere Umstände, die ausnahmsweise die Sicherstellung und Organisation der Beförderung der Arbeitnehmer von der Wohnung zur Arbeitsstätte nicht als unternehmensfremden Zwecken, sondern (vorrangig) den Zwecken des Unternehmens dienend qualifizieren können, sieht der EuGH z. B. "die Tatsache, daß nur der Arbeitgeber ein geeignetes Verkehrsmittel bieten kann oder daß es sich nicht um eine feste, sondern um eine wechselnde Arbeitsstätte handelt" (Rdnr. 29 des Urteils); bei Bauunternehmen deuten die Besonderheiten auf eine solche Beurteilung hin. Nach Rdnr. 33 des Urteils hat das nationale Gericht "im Lichte der Auslegungshinweise des Gerichtshofes festzustellen, ob die Besonderheiten des vorliegenden Falles es wegen der Erfordernisse des Unternehmens gebieten, daß der Arbeitgeber die Beförderung der Arbeitnehmer von ihrer Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück sicherstellt".
4. Das FG traf seine Entscheidung anhand von Kriterien, die -- hinsichtlich der Besonderheiten des Streitfalls -- mit den wiedergegebenen Kriterien des EuGH übereinstimmen. Es berücksichtigte, daß die Beförderungen zu wechselnden Arbeitsstätten und über weite Entfernungen stattfanden. Dabei kam das FG zu dem Ergebnis, das betriebliche Interesse der Klägerin an der Beförderung sei als so gewichtig zu veranschlagen, daß das private Interesse der Arbeitnehmer, an ihre Einsatzstellen zu gelangen, nur noch als ganz geringfügig einzustufen sei. Die Klägerin weise zu Recht darauf hin, daß es ohne die Beförderungsleistungen nicht möglich gewesen wäre, ihre Tätigkeit auszuüben, weil sie dann keine Arbeitnehmer bekommen hätte. Diese Betrachtung sei nachvollziehbar; denn es leuchte ein, daß sich ein Arbeitnehmer schwerlich darauf eingelassen hätte, eine Arbeit aufzunehmen, die an weit entfernten wechselnden Orten -- oftmals in Großstädten bzw. Ballungsräumen -- zu erbringen sei, und die erforderliche Anfahrt selbst mittels eigenen Kfz oder mittels öffentlicher Verkehrsmittel zu bewerkstelligen.
Fundstellen
BFH/NV 1998, 1131 |
HFR 1998, 840 |